Anfang Oktober pilgerten rund 300 Bauern aus Bayern, Südtirol und Österreich nach München, ausgerüstet mit Schildern und Transparenten, auf denen blutrünstige Bestien die Zähne fletschen. Im Zug der Demonstranten marschierte auch der Osttiroler Landtagsabgeordnete und Bauernbündler Hermann Kuenz mit. Schulter an Schulter wurde gegen einen Einwanderer Stimmung gemacht: den Wolf. Seinen Schutzstatus wollen die Bauern lockern, um die Bestände notfalls mit der Flinte zu regulieren.
Die Wogen gehen schon länger hoch, deshalb lohnt ein Blick in die Geschichte: Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Wolf in Westeuropa ausgerottet. Der letzte Wolf Österreichs wurde 1882 im Wechselgebiet geschossen. Kleine Wolfspopulationen überlebten im Süden und Osten Europas, vermehrten sich unter strengem Schutz und genährt durch die starke Zunahme des Wildbestandes. Inzwischen gibt es EU-weit wieder an die 15.000 bis 20.000 Wölfe und nicht alle menschlichen Mitbewohner freuen sich darüber. Vor allem die Schafhalter fürchten um ihre Tiere. Zwar steht eigentlich Schalenwild ganz oben auf dem Speiseplan der Wölfe, aber immer wieder fallen auch Nutztiere ihren Beutezügen zum Opfer. Immer lauter werden die Proteste gegen die Rückkehr der Wölfe vor allem von Seiten der Landwirtschaft und deren politischen Vertretern und gerne wird vor der Gefahr des Wolfs auch für Menschen gewarnt. Ein gefundenes „Fressen“ für alle Medien scheint der mysteriöse Tod einer Wandererin in Griechenland zu sein, immerhin werden Wölfe dafür verantwortlich gemacht. Der Beweis durch die DNA-Analyse ist aber noch ausständig. Es könnten auch herrenlose Hunde gewesen sein, die im betreffenden Gebiet zahlreich umherstreunen.
Der Wolf polarisiert und emotionalisiert. Die Vorstellung, einem Wolf in freier Wildbahn zu begegnen, ist für die einen ein Schreckensszenario, für die anderen ein seltenes und beeindruckendes Naturerlebnis. Populistische Forderungen wie jene des Tiroler Bauernbundes und der Bauernvertreter Südtirols und Bayerns nach einer „wolfsfreien Zone“ in den drei Ländern decken sich vielleicht mit den Wünschen mancher Nutztierhalter und Touristiker, sind aber realitätsfremd und seien zudem „fachlicher Nonsens“, wie der WWF unterstreicht. Getötete Tiere würden die soziale Struktur in Wolfsrudeln durcheinander bringen, was folglich die Anzahl der Risse von Nutztieren erhöhe. Außerdem passe der Mensch nicht in das Beuteschema des Wolfs – das Tier sei sogar sehr bemüht, keinem Zweibeiner zu begegnen.
Ob man seine Rückkehr gutheißt oder nicht: Der Wolf ist im Anmarsch.
Der WWF warnt vor der Verteufelung des Wolfs und ruft zu einer sachlichen Debatte auf. Der Umweltverband fordert zur Vermeidung von Konflikten die Etablierung des Herdenschutzes und als zweiten wichtigen Baustein für ein professionelles Wolfsmanagement die lückenlose Beobachtung der Wölfe in Österreich. Erfahrungen aus anderen Ländern würden zeigen, so der WWF, dass durch ein gutes Management die Voraussetzungen für ein funktionierendes Zusammenleben zwischen Mensch und Wolf möglich sei.
Osttirol blieb bisher sowohl von Wolfsattacken als auch von hitzigen Diskussionen verschont. Das wird sich in absehbarer Zeit ändern, denn der Wolf wird auch dieses Gebiet für sich wiederentdecken. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das europaweit streng geschützte Tier aus den Nachbarländern einwandert. Im Trentino sollen sich 17 Wölfe aufhalten, in Bayern sollen zwei kleine Rudel leben, in ganz Deutschland etwa 70 Wolfsrudel, insgesamt circa 500 Tiere. In Österreich leben nur circa zehn Wölfe – das Wolfspaar in Allentsteig in Niederösterreich hat wieder Nachwuchs bekommen. In Süd- und Nordtirol wurden bisher lediglich vereinzelt Durchzügler nachgewiesen. Sie rissen Schafe im Stubaital und sorgten damit für großen Unmut in der Tiroler Bauernschaft.
Geht auch in Osttirol die Angst vorm bösen Wolf um? Wir haben Thomas Steiner aus Matrei gefragt. Er gehört zu den wenigen Menschen im Bezirk, die die Thematik rund um die Rückkehr der Wölfe von vielen Seiten beleuchten können. Thomas Steiner ist leidenschaftlicher Schafhalter und seit vielen Jahren Obmann des Osttiroler Schafzuchtverbandes, mit etwa 17.000 Tieren der schafreichste Verband in ganz Österreich. Steiner züchtet und hütet nicht nur Schafe. Ebenso konsequent geht er seiner Arbeit beim Nationalpark Hohe Tauern nach, als Gebietsbetreuer für die Förderung der Kulturlandschaft ist er auch für die Almen zuständig. Eine Doppelrolle, die den Landwirt und Naturschützer zu einer sehr pragmatischen Sicht der Dinge führt. Besonders in den letzten Jahrzehnten nahm die Anzahl der Schafhalter im Bezirk stark zu. Viele Landwirte stiegen von der arbeitsintensiveren Rinderzucht auf die Schafhaltung um. Für viele Nebenerwerbsbauern ist das Schaf die einzige Möglichkeit, Hofbewirtschaftung und Brotberuf unter einen Hut zu bringen.
Besonders die insgesamt circa 400 Schafhalter in Osttirol sind verunsichert. In den letzten Jahren sind nur vereinzelt Wölfe durch unseren Bezirk gezogen, 2015 wurde ein Wolf im Maurertal in Prägraten fotografisch dokumentiert. Nur dreißig Kilometer Luftlinie entfernt, in der Nähe von Kaprun, wurden letztes Jahr einige Lämmer und Kitze gerissen. Für einen Wolf sei das keine Entfernung, meint Steiner und lässt keinen Zweifel an seiner Einschätzung aufkommen: „Die Rückkehr der Wölfe macht nur Probleme und wenn wir nichts unternehmen, ist die logische Konsequenz das Ende der Alpung mit allen negativen Auswirkungen. Natürlich hat auch der Wolf seine Daseinsberechtigung, aber meine Sorge gilt in erster Linie den Nutztieren. Aber gleichgültig, ob man seine Rückkehr gutheißt oder nicht: Der Wolf ist im Anmarsch und an der strengen Unterschutzstellung wird sich nichts ändern.“
Der Wolf ist nämlich gleich durch mehrere völkerrechtliche Abkommen geschützt. Dazu zählen das Washingtoner Artenschutzabkommen, die Bonner und Berner Konventionen, die Biodiversitätskonvention und die Alpenkonvention. Für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gilt zudem die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie). Als mögliche Gründe für die Abweichung vom strengen Schutz kommen lediglich die Verhütung von Seuchen und die Abwehr von Gefahren durch Wölfe, die sich dem Menschen gegenüber aggressiv verhalten haben, in Frage. Deshalb sei es wichtig und höchste Zeit, sich jetzt auf den Wolf vorzubereiten, meint der Schafzüchter und Nationalpark-Betreuer, der sich durch seine beiden Tätigkeiten oft zwischen den Fronten wiederfindet. Schon vor Jahren erklärte der Nationalpark Hohe Tauern in einem Positionspapier, dass man keine Beutegreifer wie Bär, Wolf und Luchs aktiv auswildern werde – wie bei den Bartgeiern üblich – ursprünglich heimische Tierarten aber willkommen heiße, wenn sie einwandern.
Thomas Steiner beschäftigt sich vor diesem Hintergrund intensiv mit der Frage, wie Schafe vor Wolfsangriffen geschützt werden können. Einen Wolf zu schießen ist verboten und wird mit hohen Geldstrafen und Freiheitsentzug geahndet. Damit bleibt nur der Herdenschutz durch Hirten mit Hunden oder durch Einzäunung der Weiden – für Letzteres läuft gerade ein Pilotprojekt im Lungau. Thomas Steiner startete vor drei Jahren ein Herdenschutzpilotprojekt in Osttirol, das zuvor in Nordtirol aufgrund von Protesten der Bauern und Jäger gescheitert war. Ausgebildete Hirten und Herdenschutzhunde, aber auch eine gezielte Beweidung sollen dafür sorgen, dass die aufgetriebenen Schafe den Sommer gefahrlos auf der Alm verbringen können – auch wenn sich Wolf, Bär oder Luchs in der Nähe aufhalten sollten. „Wenn das irgendwo möglich ist, dann in Kals,“ erklärt Steiner, der vom Innovationswillen der Kalser überzeugt ist.
Viele seiner Schafzüchterkollegen hatten wenig bis gar kein Verständnis für sein Engagement. Steiner betont aber, wie wichtig es sei, Erkenntnisse über den Herdenschutz vor Ort zu gewinnen, um zu sehen „was geht und was nicht geht“ und sich nicht auf Erfahrungen von anderswo berufen zu müssen. „Dann haben wir etwas in der Hand und können mit glaubhaften Argumenten vor die Politik treten.“ Er wundert sich über die einseitige Haltung der Politik: „Das verstärkt nur Ängste und Ärger, nicht aber den Schutz der Nutztiere.“ Dass Herdenschutz nicht so einfach umzusetzen ist wie manche Naturschützer glauben, zeigt ein Projekt auf der Ochsenalm im Kalser Dorfertal, das 2017 abgeschlossen wurde.
Die Wolf-Debatte steht auch in Osttirol noch ganz am Anfang.
Die erste Herausforderung war die Größe der Herde. In der bei uns traditionellen Schafalpung verstreuen sich kleinere Herden selbstständig über ein großes Gebiet. Im Kalser Projekt wurden ursprünglich insgesamt 1.200 Schafe von verschiedenen Landwirten zu einer großen Herde zusammengelegt, die sich nur schwer zu einer homogenen Gruppe vereinen ließen. Aber nur große Herden rechtfertigen den finanziellen Aufwand zu ihrem Schutz. Professionelle Hirten waren im Einsatz, unterstützt durch vier Hunde der Rasse Pastore Maremmo Abruzzese, die ihre Arbeit sehr ernst nahmen. Hinweisschilder wurden aufgestellt und Informationsfolder aufgelegt, um hochalpine Passanten aufzuklären. Trotzdem reagierten Wanderer überrascht, als ihr Weg durch einen Herdenschutzhund versperrt wurde. Sie mussten umkehren. Eine Frau wurde vom Rüden Bruno in die Wade gebissen. Neben „gefährlichen Kühen“ gab es plötzlich neues Konfliktpotenzial. Und eine weitere Herausforderung wurde sichtbar: Es gibt nicht genügend professionelle Hirten. Der Endbericht über das Experiment in Kals befindet sich in Ausarbeitung – Dolomitenstadt wird online über das Ergebnis berichten.
Trotz einiger Rückschläge bleibt Thomas Steiner ein großer Verfechter des Projektes: „Nur so erlangen wir Erkenntnisse darüber, mit welchen Problemen wir es zu tun haben werden und worauf wir und der Tourismus uns in Zukunft einstellen müssen. Der Wolf mit seiner ganzen Problematik kommt, davon bin ich überzeugt.“ Gemeinsam mit Georg Höllbacher, Obmann des österreichischen Bundesverbandes für Schafe und Ziegen und Leiter des Kalser Herdenschutzpilotprojektes, fuhr er bereits nach Innsbruck, um bei der stellvertretenden Landeshauptfrau Ingrid Felipe für eine Fortsetzung der Herdenschutz-Initiative zu werben. Viele Grundbesitzer in Kals stünden dem Projekt nicht abgeneigt gegenüber, denn die Behirtung wirke sich sehr positiv auf die Almpflege aus.
Die Osttiroler Jägerschaft hat für die Rückkehr des Wolfs ein vorhersehbares Rezept parat: „Ohne eine gewisse Regulation wird es nicht gehen,“ erklärt Bezirksjägermeister Martin König und sieht allem voran die Landwirtschaft negativ betroffen. Unterstützen Wölfe denn nicht die Jäger dabei, den überhegten Wildbestand endlich in den Griff zu bekommen? Es sei genau umgekehrt, meint König. Das Wild reagiere auf den Wolf mit großer Vorsicht und werde noch scheuer. Die Abschusszahlen seien damit schwerer einzuhalten, die Jagd werde schwieriger und zeitaufwändiger.
Der WWF gab angesichts der zahlreichen negativen Wortmeldungen von Vertretern der Jagd und der Landwirtschaft eine Umfrage beim Linzer market Institut in Auftrag, mit dem Ergebnis, dass 74 Prozent der österreichischen Bevölkerung der Rückkehr des Wolfs positiv gegenüber stehen. „Die große Mehrheit der Österreicher will keine wolfsfreien Zonen und keine Abschüsse der streng geschützten Tiere, sondern erwartet von der Politik Maßnahmen für ein konfliktfreies Miteinander,“ erläutert WWF-Wolfsexperte Christian Pichler und fordert die Abhaltung eines „Wolf-Gipfels“ unter Einbeziehung aller relevanten Gruppen.
Eine Richtschnur gibt es bereits. 2012 kooperierten die Landesregierungen, der WWF, die Jägerschaft, Landwirtschaftkammern, Bundesforste, der Schafzuchtverband und die Universität für Bodenkultur bei der Verfassung eines Leitfadens mit dem Titel: „Wolfsmanagement Österreich – Grundlagen und Empfehlungen“. Es geht darin um Rahmenbedingungen für ein konfliktarmes Zusammenleben zwischen Mensch und Wolf.
Eines ist jedenfalls klar: Die hitzige Wolf-Debatte ist nicht am Ende, sondern steht – auch in Osttirol – noch ganz am Anfang.
Keine Postings
Sie müssen angemeldet sein, um ein Posting zu verfassen.
Anmelden oder Registrieren