Gerold Foidl (links) mit Erich Fried beim Ersten Österreichischen Schriftstellerkongress 1981 in Wien. Foto: Heide Heide

Gerold Foidl (links) mit Erich Fried beim Ersten Österreichischen Schriftstellerkongress 1981 in Wien. Foto: Heide Heide

Sein Leben
war Schreiben
Sein Leben war Schreiben
Das literarische Vermächtnis eines großen Osttiroler Schriftstellers.

September 2017. Salzburg. Ein grauer Nieselregen lässt die Stadt verschlafen aussehen. Die Vorhängeschlösser auf dem Makartsteg glänzen und sprechen von vermeintlich ewiger Liebe. Gleich dahinter liegt das Café Bazar. Es gilt als ein Ort der Geschichte und Geschichten. Das Kaffeehaus der Künstler, Dichter und Denker in der Festspielstadt. Seine Sonnenterrasse ist an diesem Samstagvormittag leer und nass. Der Wintergarten dampft. Nasse Regenschirme, Zigarettenrauch, lautes Lachen. Im Café duftet es nach Strudeln und Kaffee. Fast alle Tische sind besetzt. Eine Kultur des genießenden Gespräches und bedächtigen Zeitunglesens liegt im Raum. Die gepflegte Dame Mitte siebzig, mit der ich mich hier verabredet habe, kennt das Café gut.

Es ist Dorothea Macheiner, eine Schriftstellerin, die durch ihre schon in den siebziger und achtziger Jahren im In- und Ausland gesendeten Hörspiele bekannt wurde. Seither veröffentlichte sie kontinuierlich Romane, Gedichte, Prosatexte und Essays sowie Beiträge in Anthologien und Literaturzeitschriften. Sie ist eine Denkerin, die mit Sprache arbeitet. Über ihre Sprachwerkstatt schreibt sie Folgendes: „Dieser geheimnisvolle Moment, in dem sich Gedanken, Vorstellungen in Worte kleiden wie ein Gewand, das gerade bereit liegt. (…) Meine Hand überlässt sich den Schriftzeichen, die ich mir vor langer Zeit angeeignet habe. Sie sind mir in Fleisch und Blut übergegangen und nun erst, wenn sich die Wörter unter meiner Hand zu Sätzen formen, bieten sie einen sichtbaren Anhaltspunkt, mit dem ich den Kampf aufnehmen kann.“

Hört und liest man das, wird sofort klar, wieso Dorothea Macheiner eine der engsten Vertrauten des Osttiroler Schriftstellers Gerold Foidl war und seit seinem Tod die Nachlassverwalterin seines literarischen Erbes und die Herausgeberin seiner Werke ist. Welch unglaublich große Aufgabe und Arbeit das war, weiß nur Dorothea Macheiner selbst. Die Ablehnung der Verlage, das ständige Bemühen um seine Anerkennung, die Überarbeitung dieser schweren, unvollständigen Texte. „Mit einem Würgen in der Kehle und tränenblind tippte ich diese letzte Botschaft in die Schreibmaschine“, beschreibt sie zum Beispiel die Arbeit an „Scheinbare Nähe“ in ihrem Vorwort dazu.

Als ihren größten Beweggrund für diese Arbeit sieht sie eigentlich nur ihre Freundschaft zu Gerold Foidl und zur Literatur im Allgemeinen. Dorothea Macheiner lebt Literatur. Und Gerold Foidl tat das auch. Sein Leben war das Schreiben und sein Leben war auch der Inhalt seines Schreibens. „Es gab Zeiten, wo ich überzeugt war, dass ich nur schreibend existieren könne. Es hatte Vorrang vor allem, was sonst in mein Leben eindringen hätte können. Sollte ich einmal nicht mehr schreiben können, würde es für mich bedeuten, dass ich tot bin.“

Im April 2018 wäre Gerold Foidl achtzig Jahre alt geworden. Vor 35 Jahren starb er. Die letzten beiden Jahre, in denen er bereits von seinem Lungenkrebs wusste, traf er sich oder telefonierte täglich mit Dorothea Macheiner. Das Café, in dem sie am öftesten waren, war das Café Nummer 3 in der Steingasse, ein Musikcafé. Und ab und zu eben auch das Café Bazar, jenes Café, in dem sich damals fast ausschließlich die Society von Salzburg traf. Die Leute mit Geld, die Damen im Pelzmantel. „Und Gerold liebte es, die Schickeria Salzburgs hier in diesem eleganten Café zu provozieren. Er war unüberhörbar. Seine Stimme war tief und er sprach langsam und bedacht“, erzählt Dorothea Macheiner.

Es gab Zeiten, wo ich überzeugt war, dass ich nur schreibend existieren könne. Es hatte Vorrang vor allem, was sonst in mein Leben eindringen hätte können.
Gerold Foidl

Zu diesem Zeitpunkt war er kein Unbekannter mehr in Salzburg. 1978 war ihm mit seinem ersten und einzig vollständigen Buch „Der Richtsaal“ die Anerkennung als Schriftsteller gelungen. Er war damals vierzig Jahre alt. Zwei Jahre später wurde er Mitbegründer der Salzburger Autorengruppe und deren erster Obmann. 1981 nahm er am Ersten Österreichischen Schriftstellerkongress in Wien teil. Eines der wenigen Fotos, die es von ihm gibt, zeigt ihn zusammen mit Erich Fried auf diesem Kongress. Ein Jahr später nahm er an den 6. Innsbrucker Wochenendgesprächen teil, die dem Thema Kindheitserinnerungen und Kinderwelt gewidmet waren. Zu dem Zeitpunkt wusste er allerdings schon, dass er aufgrund seiner Krankheit nicht mehr lange leben würde. Gerold Foidl starb mit 44 Jahren an Lungenkrebs.

„Die Krankheit und der nahe Tod machten ihn wütend“, erzählt Dorothea Macheiner. „Mit der Veröffentlichung von ‚Der Richtsaal‘ befreite sich Gerold Foidl 1978 – bereits vierzigjährig – aus dem stummen Dunkel eines von der Gesellschaft gering geschätzten Menschen. Der inzwischen beruflich immer wieder Gescheiterte und mit fünfunddreißig Jahren aus Krankheitsgründen Frühpensionierte hatte endlich die für ihn einzig gültige Identität gefunden. Er war – allen väterlichen Warnungen zum Trotz – doch noch ein Schriftsteller geworden. Nun wollte er noch einmal neu anfangen – leben lernen, wie er sich ausdrückte, in einem Land, das er bisher nur aus der Literatur kannte: in Mexiko“, schrieb sie in ihrem Vorwort zu „Scheinbare Nähe“.

Für Dorothea Macheiner liegt die größte Tragik des frühen Todes von Gerold Foidl in der Tatsache, dass er erst kurz vor seinem Tod einen Weg zum Leben gefunden hatte. In ihrem Text „Das letzte Bild“ betont sie deshalb, dass Gerold Foidl „bis zuletzt hoffte, den Krebs zu besiegen. Er wusste auch, dass seine Krankheit psychosomatisch bedingt war. Es war das von Kind an abgeschnürte ‚freie Atmen‘, das ihn zuerst zum Stotterer, dann zum Epileptiker, zum Kettenraucher und schließlich zum Lungenkrebs-Kranken werden ließ. Dazwischen wie ein roter Faden das Schreiben – der sublimierte Schrei.“

Und es ist dieser inhärente Schrei, der Foidls Schreiben so authentisch, so intensiv, so schwer macht. Foidls Literatur ist weder eine leichte Kost noch leicht zuordenbar. „Allen Rezensionen gemeinsam ist die Betroffenheit über diesen Text und alle beschäftigt die Frage, ob es sich hier um ein Dokument oder einen fiktiven Text handelt“, schreibt zum Beispiel Dr. Anton Unterkircher von der Universität Innsbruck in einem noch unveröffentlichten Text über Gerold Foidl. Für ihn kommt dabei die „engagierteste Auseinandersetzung“ mit Foidl aus Osttirol selbst. Er zitiert Lois Außersteiner, der in den Osttiroler Heimatblättern 1999 geschrieben hat: „Uns Osttirolern wäre die Lektüre der Werke Foidls, eben weil sie unserem sorgsam gehegten Selbstbild dermaßen widersprechen, als geistige Fastenkur unbedingt anzuraten.“

Die Schriftstellerin Dorothea Macheiner bewahrt das literarische Erbe Gerold Foidls. Foto: Christine Mayer-Calvo

Foidls „Richtsaal“ liest sich allerdings nicht nur als eine ehrliche oder mäßigende Sichtweise zu Osttirol. Es ist vielmehr eine schonungslos harte Abrechnung mit Osttirol und einer Osttiroler Familie. Ob es sich hier tatsächlich um Foidls Familie oder die seines Ich-Erzählers Gid handelt, ist nicht wirklich von Bedeutung. Zutiefst betroffen macht sie auf jeden Fall. Sein Buch ist ein beeindruckendes Zeugnis seiner Ablehnung von und Abrechnung mit den Machtstrukturen und Scheinheiligkeiten der Provinz. Er will aufdecken und aufzeigen, was sonst tunlichst unter den Teppich gekehrt wird.

In seinem „Richtsaal“ beschreibt er die Kindheitstraumata seines Protagonisten Gid: das Kosakenmassaker und eine durch die Familie erzwungene und vom Onkel durchgeführte Abtreibung eines außerehelichen Kindes seiner Mutter, die Gid mitansehen musste, sein von der Großmutter in Auftrag gegebener Aufenthalt in der psychiatrischen Anstalt aufgrund von epileptischen Anfällen, die scheinheiligen Familientreffen.

„Großmutter, die Gütige. Die Uneigennützige. Die Aufopferungsvolle. Die Seele der Familie. Die Friedensstifterin. Die zu Unrecht Gekränkte. Die stets zum Verzeihen Bereite. Großmutter, die Vermittlerin, die Kupplerin, die Diktatorin, die Machthungrige, die Kirchensteuerhinterzieherin, die Gottesdienstbesucherin. Die Hüterin der Familienehre und des guten Rufs, selbst auf Kosten einer erzwungenen Abtreibung an ihrer Tochter. Die Initiatorin meiner Irrenhauseinlieferung. Das alles war Großmutter, das Familien-Chamäleon.“

Seine Verzweiflung darüber mündet in seinem Beschluss, sich umzubringen. Allerdings nicht ohne vorher seine Großeltern mit seinen Vorwürfen zu konfrontieren. Ihr Wohnzimmer wird zu seinem Richtsaal. Doch der Selbstmordversuch scheitert.

„Die wirkliche Auseinandersetzung mit den Folgen dieses Selbstmordversuches wartet noch auf mich. Hier machen sie mich einzig lebensfähig. Wieder einmal. Eines Tages werden sie mich abholen kommen. Nach drüben bringen. Dort drüben findet der Prozess statt. Fällt das Urteil. Wird die Vollstreckung ausgeführt. Dort drüben. Wohin jeder Blick aus dem Fenster zuerst fällt. Von hier sieht man direkt hinüber auf die Psychiatrie. Auf die Gehirnzerstörungsanstalt.“

Gerold Foidl wollte sich tatsächlich mit 24 Jahren das Leben nehmen. Der Versuch schlug allerdings auf tragische Weise fehl. Und es sind diese Parallelen zwischen seinem Leben und dem Inhalt seines Schreibens, die Unterkircher für alle notwendigen „Zutaten für eine Legendenbildung“ hält: „Mit vierzig das erste Buch, kurz davor nicht einmal in Insider-Kreisen bekannt, dann die kurze Lebensspanne als Schriftsteller, die ihm zwar eine bescheidene Anerkennung brachte, seine traurigen Lebensumstände aber nicht (mehr) ändern konnte.“

Das Café Bazar in Salzburg, Treffpunkt der Schickeria, aber auch der Künstler und Literaten. Foto: Café Bazar

Foidls „Scheinbare Nähe“ macht es laut Unterkircher dem Leser „noch wesentlich schwerer, zwischen dem Autor Foidl und seinem Ich-Erzähler zu unterscheiden.“ Für ihn ist ein Grund dafür die Bearbeitung von Handke, der den Text aus mehreren Entwürfen zusammengesetzt hat. Dorothea Macheiner erzählt in unserem Gespräch, wie es überhaupt dazu kam, dass Peter Handke einen unvollendeten Roman eines Osttiroler Schriftstellers, der nur ein Buch publiziert hatte, bearbeitet hat:

„Im Sommer 1982 spazierte ich mit einem Schriftstellerkollegen aus der damaligen DDR über den Mönchsberg. Beiläufig erwähnte ich, dass hier in der Nähe Peter Handke wohne. Keiner meiner Einwände konnte ihn davon abhalten, an der betreffenden Türglocke zu läuten. Und der sonst so unnahbare Handke hat uns tatsächlich die Tür geöffnet. Ich begann später in unserem Gespräch über Gerold zu sprechen und Handke erzählte, dass ihn Foidl öfters angerufen hätte. Ich erwähnte damals das Romanfragment und nach der Absage einiger Verlage entschloss sich Peter Handke einige Zeit später, den Text zu bearbeiten und ihn so, bereits redigiert, seinem Lektor im Suhrkamp Verlag vorzulegen.“

Das am Ende abgedruckte Skizzenbuch „Aufzeichnungen über die Restzeit“, die Foidl begonnen hat, als er vom Lungenkrebs erfuhr, lässt nicht mehr an Fiktion denken. Es sind die Zeilen, die ein dem Tode geweihter Mensch schreibt. Gerold Foidl schrieb über sich selbst: „Was gibt es über mich zu sagen? Meiner Ansicht nach wenig. Hier muss ich gleich beginnen, einem meiner Grundfehler abzuhelfen. Sobald ich rede, schlimmer noch beim Schreiben, dreht sich alles nur um mich. Da beleuchte ich mich von allen Seiten, stelle dabei aber nur Zustände dar und diese sehr einseitig.“

Er schreibt somit zwar immer über sich selbst, hat aber die Allgemeingültigkeit seiner Aussagen dabei ständig im Visier. „Entlarven, desillusionieren, sich den ‚biedermännischen Geheimbündlern‘ verweigern, war zeitlebens sein Anliegen“, schreibt dazu Dorothea Macheiner in ihrem Vorwort zu „Scheinbare Nähe“. „Wie hasste er dieses sich Ducken, das auf unterwürfige Dankbarkeit hinauslief, dass einem überhaupt erlaubt sei zu leben.“ In unserem Gespräch betont sie ebenfalls immer wieder, dass sie diese Diskussion um die Glaubwürdigkeit der von Foidl beschriebenen Erlebnisse und Ereignisse nicht nachvollziehen kann. „Wer Gerold Foidl kannte, weiß, dass er sich als Wahrheitsfanatiker sah. Als einer, der um jedes Wort gerungen hat. Wieso das, was er geschrieben hat, angezweifelt oder so akribisch auf den Wahrheitsgehalt in Bezug auf sein Leben untersucht wird, ist mir ein Rätsel.“ Ob Foidls Texte nun autobiografisch oder fiktiv sind, ändert auch nicht wirklich etwas an der Schwere und Tragik, die man bei ihrem Lesen spürt und selbst empfindet.

„Die Gesamtausgabe der Werke Gerold Foidls ist ein wichtiges Dokument für die Beschreibung einer Provinzkultur, wo der Sprung zwischen Eingottglaube und Einwegkonsum tödlich endet. (…) Selbst für Leser mit unausgeprägtem Schicksalsbegriff ist es erstaunlich, dass die drei wichtigsten Osttiroler Schriftsteller – Gerold Foidl, Johannes Trojer und Christoph Zanon – in ziemlich jungen Jahren an Krebs verstorben sind.

Ich beleuchte mich von allen Seiten, stelle dabei aber nur Zustände dar und diese sehr einseitig.
Gerold Foidl

Die Ritualisierung der Politik als gottgewollt, die Einkesselung Osttirols durch die eigenen Gedanken, der Ausweg aus dem Land nur über Korridore macht vielleicht das Schreiben für Osttiroler unerträglich oder todgefährlich“, schreibt dazu etwa Helmut Schönauer in einer Rezension über die Sammlung von Gerold Foidls Texten „Standhalten“. Ganz so dramatisch ist es hoffentlich nicht. Das Schreiben in Osttirol ist nicht generell unerträglich oder todgefährlich. Nur etwas vergessen und vernachlässigt. So wie Gerold Foidl es war. Bis jetzt.

Dorothea Macheiner und ich verlassen das Café Bazar, gehen ein paar hundert Meter nach links in die Steingasse. Da lag in den sechziger Jahren das berüchtigte Musikcafé Nummer 3. Ein dicker roter Vorhang verhängte den Eingang. In der Bar spielte man auch tagsüber in voller Lautstärke Jazz, Blues oder die letzten Hits. Es war so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Foidl beschreibt die Bar in „Scheinbare Nähe“: „Es ist ein angenehmes Gefühl, wenn ich abends das Studentenlokal betrete; dieses Café, das bei den anständigen Bürgern als Zentrum der Verworfenheit, Rauschgiftsucht, der kommunistischen und linksradikalen Agitation, als Heimat Gestrandeter, haltloser Elemente, und als verdächtige Spelunke gilt, die aus unerklärlichen Gründen von so vielen Jugendlichen besucht werde, dass man in die Jugend an sich kein Vertrauen haben könne.“

Es war die Bar, in der Dorothea Macheiner den jungen, noch unbekannten Schriftsteller Gerold Foidl kennenlernte. „Da saß er mit seinen Männern und rauchte und philosophierte. Er war ein Denker!“, sagt sie. Heute erinnert nur mehr ein alter Torbogen an diese Bar. So wie die Werke von Gerold Foidl, die im Frühjahr im Haymon Verlag als Gesamtwerk neu erscheinen werden, und die Erzählungen von Dorothea Macheiner an ihn und sein Denken erinnern.

Credits
  • Autorin: Silvia Ebner
  • Fotografie: Heide Heide (Coverfoto)

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