Ein ungewöhnliches Begräbnis in der Gemeinde Abfaltersbach im September 2014. Wer war der Mann, der hier begraben wurde? Foto: Jesacher

Ein ungewöhnliches Begräbnis in der Gemeinde Abfaltersbach im September 2014. Wer war der Mann, der hier begraben wurde? Foto: Jesacher

Ruhe in Frieden, Francisco!
Ruhe in Frieden, Francisco!
Was uns der Tod eines Leiharbeiters in einem Osttiroler Bergdorf über Globalisierung, Gleichgültigkeit und Glauben erzählt.

Eine Reportage von Barbara Bachmann.

Und irgendwann wird unter lauter einheimischen Namen, derer am Schutzengelsonntag gedacht wird, in der Kirche Maria Heimsuchung in Abfaltersbach in Osttirol, irgendwann wird dort auch ein fremder Name fallen. Francisco Dafá.

Der Pfarrer begrüßt die Musikkapelle, er begrüßt den Chor, die Schützenkompanie, die Erstkommunikanten, die in weißen Kleidern vor dem Altar stehen. Er spricht das Glaubensbekenntnis, und die Festgemeinde, so wie die zehn Ministranten, sie sprechen ihm nach. Kirchenglocken läuten, 24 Kugeln schießen aus ebenso vielen Gewehren in die Luft. Ihr Rauch vermischt sich mit dem Nebel, der tief ins Tal hängt. Es ist der erste Sonntag im September 2018, Menschen warten vor dem Kirchentor, weil drinnen selbst die Stehplätze besetzt sind. Der Pfarrer liest aus dem Exodus: „Ich werde einen Engel schicken, der dir vorausgeht.“

Falls auch Francisco Dafá einen Schutzengel hatte, muss er am Mittwoch, den 3. September 2014 unauffindbar gewesen sein. An diesem Tag stirbt er in Abfaltersbach, mit 47 Jahren. Auf dem Friedhof, der über dem Dorf thront, liegt er seither begraben. „In Gott geborgen“ steht auf seinem Grabstein. In Guinea-Bissau geboren, Westafrika, am 15. Juli 1967, das könnte da auch stehen.

Francisco Rafael Dafá, geboren in Guinea-Bissau, Westafrika, am 15. Juli 1967, gestorben in Abfaltersbach, Osttirol, am 3. September 2014.

Nach Osttirol kommt Francisco Rafael Dafá im Sommer 2014 als Eisenbieger. Ein Leiharbeiter mit portugiesischem Pass und afrikanischer Herkunft, den die Gesetze der kapitalistischen Marktwirtschaft nach Österreich gespült haben wie die Flut Plastik an den Strand.

Auf einer Großbaustelle in Heinfels, einem Nachbardorf von Abfaltersbach, stellt er Stahleinlagen her, die in die Betonform eingearbeitet werden, damit der Beton auch gegen Zugkräfte stabil bleibt. Er biegt die Stäbe in Form, mit den Händen oder einer Maschine. Schließlich verbindet er die Einzelteile zu einer Tragekonstruktion. Eisenbieger arbeiten immer in Gruppen. Mit seinen Arbeitskollegen lebt Dafá im Widum von Abfaltersbach. Bis man ihn am 3. September spätabends auf dem kalten Fließboden des Badezimmers liegend findet. Tot.

Wer war dieser Mann und was ist damals passiert? Jahrelang frage ich mich das. 2014 fahre ich öfters an der Großbaustelle vorbei, ständig scheint sie in Betrieb. Irgendwann höre ich von einem toten Leiharbeiter aus Portugal. Immer wenn ich seither an dem Gebäude vorbei komme, fällt er mir ein, dabei kenne ich nicht einmal seinen Namen. Ich denke, ich sollte seine Geschichte erzählen. Und lasse es dennoch bleiben. Vier Jahre dauert es, bis ich mich dazu entschließe.

Die Baustelle in Heinfels im Jahr 2014. Hier arbeitete Francisco Rafael Dafá.

Die Recherche beginnt dort, wo sein Leben ein Ende nahm, in Abfaltersbach. Denn Franciscos Geschichte kann nicht ohne die Menschen des Dorfes erzählt werden. Menschen, die eher Taten sprechen lassen als Worte. Er lebt nicht lange unter ihnen, keine vier Wochen. Am 10. August 2014 wird Dafá in der Gemeinde gemeldet. Im Pfarrgemeindeblatt schreibt der Pfarrer zuvor unter dem Titel Portugal trifft Österreich: „Seit Anfang Juni ist das Widum in Abfaltersbach wieder bewohnt. Über eine Salzburger Firma haben Bauarbeiter zu uns gefunden. (…) Die Pfarrkirchenräte und ich haben bereits einen sehr guten Eindruck gewonnen. Nehmen wir sie wohlwollend im Sinne eines christlichen Miteinanders auf!“

Die österreichische Firma, die Dafá über ein portugiesisches Unternehmen als Leiharbeiter holt, schließt mit der Pfarrgemeinde Abfaltersbach eine Vereinbarung ab. Sie bezahlt eine monatliche Pauschale von 1.900 Euro für die Nutzung der Räume im 1. Stock des Widums (eine Küche, zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein großes und ein kleines Bad). Maximal zehn Personen sollen sich dort aufhalten, man verspricht aktuelle Listen zu schicken. Eine erste führt sieben Portugiesen und einen in Kroatien geborenen Österreicher – nur er spricht Deutsch.

Abfaltern ist der älteste Ortsteil der Gemeinde Abfaltersbach und beherbergt die Pfarrkirche und den Friedhof. Foto: Andreas Rauchegger

Von oben betrachtet muss Abfaltersbach wie ein ungewöhnlich schmaler Streifen aussehen, die längste Stelle misst eineinhalb Kilometer, die schmalste ist nur 500 Meter breit. Das Dorf zählt 651 Einwohner und 14 Vereine, zwei Kirchen und einen Friedhof, eine Gemeinderätin und zehn Gemeinderäte. Unnötig zu sagen, dass ein Schwarzer wie Dafá hier auffällt. Dreimal im Jahr feiert das Dorf Prozessionen in alter Tracht. Die Abfaltserbacher sind stolz darauf, dass die Musikkapelle nie einen Musikanten hat ausleihen müssen, weil man selbst über genügend Freiwillige verfügt.

Einer von ihnen ist Anton Brunner, der Bürgermeister, groß und schlank, seit vielen Jahren spielt er die Tuba. „Ja, Francisco Dafá“, sagt er und seufzt. Vorweg gilt zu sagen: Brunner liebt sein Dorf. Das Vereinsleben ist für ihn Lebensinhalt. Mit seiner Frau, Chorleiterin und wie er ein Leben lang in Abfaltersbach wohnhaft, ist er bei jedem Fest anwesend. Was hier passiert, das geht ihn etwas an. So empfindet er auch Dafá als seine Angelegenheit, als er am 3. September nach der Gemeinderatssitzung in das Widum gerufen wird. „Francisco hat hier gelebt und ist hier gestorben, also war klar, dass auch wir uns um ihn kümmern.“

Anton Brunner
Werner Jesacher

Mehr noch als Anton Brunner ist in Franciscos Geschichte jemand anderes involviert: der Bestatter aus dem Nachbardorf, Werner Jesacher, ein Baum von einem Mann mit einer sanften Stimme. Um 23.20 Uhr, 40 Minuten nach dem offiziellen Todeszeitpunkt, trifft er im Widum ein, birgt Dafá und bringt ihn mit dem Leichenwagen in seine Kühlanlage, gegen 1.00 Uhr früh legt er sich schlafen.

Am nächsten Morgen fährt er ihn für die gerichtsmedizinische Obduktion nach Innsbruck. Dort wird die Todesursache festgestellt: Floride Endokarditis der Aortenklappe, septisch-toxische Organschäden, linker Niereninfarkt. Eine Endokarditis ist eine bakterielle Infektion der Herzklappen. Kurierbar mit einem Antibiotikum, mitunter ist es nötig, die Herzklappen operativ zu ersetzen. Wird sie nicht behandelt, führt eine Endokarditis zum Tod.

Noch am selben Abend bringt Jesacher den Leichnam in den Kühlraum der Bezirkshauptstadt Lienz. Am Tag darauf kontaktiert er — der seinen Beruf als Berufung versteht und der nicht überlegt, sondern handelt — Dafás Arbeitgeber in Portugal. Dessen Teilnahmslosigkeit irritiert, mehr noch, sie erschreckt ihn. Mit der portugiesischen Botschaft versucht er Angehörige zu finden und eine Lösung. Am 11. September schreibt er an die Sanitätsbehörde der Bezirkshauptmannschaft, man könne nicht länger verantworten, die Leiche im Kühlraum aufzubewahren. Die Behörde informiert die Botschaft, setzt eine Frist: den 16. September. Bis dahin muss entschieden sein, was mit Dafá passiert.

Und dann sind sie auf einmal da. Am Samstag, den 13. September, wird Werner Jesacher zur Polizeistation von Sillian gebeten. Vier schwarze Männer sind dort eingetroffen, die Angehörigen des Verstorbenen. Die Verständigung fällt nicht leicht, die einen sprechen kein Portugiesisch, die anderen kein Deutsch. „Ich war nicht sicher, ob es seine Brüder sind.“ Aber das spielt keine Rolle, es sind vier höfliche, leicht verunsicherte Männer, die Francisco Dafá gut zu kennen scheinen. Einer von ihnen spricht, wenn auch nur dürftig, Englisch. Neto.

Gemeinsam mit dem Bürgermeister fahren Jesacher und die Männer nach Lienz um die Leiche zu identifizieren. Anton Brunner organisiert für sie eine Unterkunft in der Pension seiner Cousine und kommt persönlich für die Kosten auf. Werner Jesacher will die Männer zum Abendessen einladen, aber sie nehmen die Einladung zunächst nicht an. Am nächsten Tag kaufen sie zwei Burger. Einen geben sie Werner, den anderen teilen sie sich zu viert.

Die Zeit drängt. Eine Einäscherung wäre am billigsten, aber für die Angehörigen kommt sie nicht in Frage. Eine Überführung des Leichnams nach Portugal würde knapp 5.000 Euro ausmachen, hinzu kämen die Kosten für den dortigen Bestatter. Den Verwandten fehlt das Geld, der Botschaft ebenso. Also entscheiden sie: Francisco soll in Abfaltersbach beerdigt werden. Am Sonntag geht der Bürgermeister nach der Messe zum Pfarrer und sagt: „Wir begraben ihn am Dienstag.” Der Pfarrer fragt: „Ist er auch römisch-katholisch?“ Brunner wiederholt: „Wir begraben ihn am Dienstag.“

Eine respektvolle Beerdigung sei es gewesen, sagt der Pfarrer, „wie bei einem Einheimischen.“ Am Dienstag, den 16. September 2014 um 10.30 Uhr, in der St. Andre Kirche in Abfaltern — am Tag, an dem die Frist abläuft. Eine Frau liest die Fürbitten. Ein Mann spielt die Orgel. Anwesend sind neben vielen Abfaltersbachern die Arbeitskollegen von Dafá. Werner Jesacher trägt einen Kranz. Die Angehörigen tragen Francisco von der Kirche zum Grab. Sie lassen den Sarg hinunter und schaufeln Erde darauf. Während der Trauerfeier bedankt sich Neto bei der Gemeinde, von der deutschsprachigen Beerdigung verstehen die Männer kein Wort. Noch am selben Tag verlassen sie Abfaltersbach, mit Sterbebildern von Francisco im Gepäck, die Jesacher ihnen mitgibt.

Das Dorf hilft, irgendwie. Das Grab bezahlt die Gemeinde. Ein Schlosser restauriert ein Kreuz und schreibt die Tafel. Die Bezirkshauptmannschaft übernimmt den Sozialtarif der Bestattungskosten, wie üblich, wenn niemand dafür aufkommen kann. Rund die Hälfte der Spesen trägt Werner Jesacher selbst, aber das ist für ihn nicht der Rede wert. Später gestaltet er ein Album mit Fotos der Beerdigung, Din A4, roter Umschlag. Irgendwann, sagt er sich, wird er es nach Portugal bringen. Ein paar Wochen hält er mit Neto via Email Kontakt. Dann weiß niemand mehr von den Männern.

Und dennoch bewahrt Irmi, die Frau des Bürgermeisters, unter einer Schale in ihrer Küche ein Zettelchen auf. Seit vier Jahren. Darauf Netos Kontakt. Auch die Cousine des Bürgermeisters, in deren Pension die Männer damals übernachten, hat den Meldezettel noch. Darauf derselbe Name und eine Wohnadresse. Ich kontaktiere Neto über Email und Facebook, schicke ihm einen handgeschriebenen Brief. Schließlich kommt Antwort: „Danke für Ihr Interesse an Franciscos Geschichte.“ Mit dem Album des Bestatters fahre ich nach Portugal.

Unter den 175.000 Einwohnern der portugiesischen Stadt Amadora lebte einst auch Francisco Dafá. Foto: Koshelyev, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Amadora liegt nur eine halbe Zugstunde von Lissabon entfernt, aber gekachelte Altbauten und schöne Cafés sucht man vergeblich, dafür sind die Wohnpreise erschwinglicher. Unter den 175.000 Einwohnern lebte einst auch Francisco Dafá. Ein steiniger Weg führt den Hügel hoch zu seiner ehemaligen Adresse. Er geht vorbei an halbfertigen und halbbewohnten Häusern. Eine Gegend, die von der Polizei gemieden wird. Wie anders muss Abfaltersbach auf Francisco gewirkt haben.

Die Hausnummer ist an die Wand gemalt, 259. Im Freien sitzen vier Männer zwischen 19 und 25 Jahren, glatte junge Gesichter. Sie trinken Bier, rauchen. „Guten Tag. Habt ihr einen Mann namens Francisco Dafá gekannt?“ Skeptische Blicke. Ich erkläre mein Anliegen, sie bitten mich herein. Die Jungs sind Francisco Dafás Neffen, sie tragen denselben Nachnamen. Sind in Guinea-Bissau geboren und portugiesische Staatsbürger wie er, wohnhaft in Amadora, zwei davon in seinem alten Haus. „Francisco war ein guter Onkel“, sagen sie. „Er liebte Wein und Fleisch, besonders Schwein.“ Dann holen sie auf ihn adressierte Briefe hervor, alle ungeöffnet. Francisco, sagen sie, sei ein gesunder Mann gewesen, habe immer gearbeitet. Als Eisenbieger, wie fast alle ihrer männlichen Verwandten.

Lange blättert Neto Stunden später im Album des Bestatters. „Ich war Franciscos Cousin“, sagt er dann. Zur Beerdigung nach Abfaltersbach kam er gemeinsam mit seinem Bruder, einem Schwager und einem guten Freund, der damals in Wien arbeitete. Über einen Arbeitskollegen seines Cousins habe er von dessen Tod erfahren und darauf entschlossen nach Österreich zu fahren. „Tage später kam ein Paket.“ Darin Franciscos Pass, seine Kleidung, ein wenig Bargeld. Weniger als 50 Euro.

Neto, 34 Jahre, trägt elegante Schuhe, ein Hauch von Guinea-Bissau liegt in seiner Stimme. Er ist zielstrebig und freundlich und scheint in Amadora viele zu kennen. Im letzten Jahr hat er einen Verein gegründet, der Menschen aus Guinea-Bissau in Portugal Hilfe anbietet. In seinem Heimatland wolle man ihn in der Politik haben. Er möchte lieber Anwalt werden und „für Gerechtigkeit kämpfen“. Zwei Prüfungen fehlen ihm, dann ist er Jurist. Er ist der Zweite aus seiner Familie, der an der Universität studiert. Nebenbei arbeitet er als Verkäufer von Elektrogeräten in einem Einkaufszentrum. Spricht man mit ihm, begreift man schnell wie wichtig Familie ist. Ein Cousin wie Francisco ist ihm so eng wie anderen der Bruder nicht. „Wir haben vieles geteilt.”

Guinea-Bissau in Westafrika ist eines der ärmsten Länder der Welt. Amts- und Schulsprache ist Portugiesisch, untereinander sprechen die Menschen ihre Stammessprachen oder Kreolisch. Francisco kommt auf dem Land zur Welt, in Nhoma, 30 Kilometer von der Hauptstadt Bissau entfernt. Er ist ein Balanta, Teil der größten Ethnie im Land. Sohn von Crufá Dafá, und Sumi Manhá.

Das Foto in seinem Pass zeigt einen jungen Mann mit rasierten Haaren. 1,67 Meter groß. Besondere Kennzeichen: keine. Auf dem Sterbebild wirkt er um einige Kilogramm schwerer, mit Doppelkinn, aber denselben gutmütigen Augen. In Nhoma besucht Francisco die Schule bis zur 7. Klasse. Lieber als das Lernen ist ihm die körperliche Arbeit. Er pflanzt Mais an, Roggen, Bohnen, Reis und Maniok. Er ist ein geselliger Mensch, dennoch ruhig, er liebt den traditionellen Tanz der Balanta.

Francisco, römisch-katholisch, heiratet jung, aber weil die Ehe kinderlos bleibt, wird sie aufgelöst. Er heiratet wieder und wird Vater eines Sohnes. Später kommt eine weitere Frau hinzu. Mit ihr kriegt er drei Töchter. Sie alle leben in Guinea-Bissau. Die eine Frau hat ihn verlassen, die andere ist Analphabetin und spricht kein Portugiesisch, nur Balanta und Kreolisch. Als Francisco stirbt, ist es Neto, der Frau und Kinder darüber informiert.

Das der Landwirtschaft gewidmete Leben ist hart in Guinea-Bissau. Im Juni 2003, mit fast 33 Jahren, wandert Francisco daher nach Portugal aus. Träumt, wie so viele, von einem besseren Leben in Europa. Er kommt im Süden an, geht nach Porto, schließlich nach Amadora, überall leben Verwandte. Als er 2012 die portugiesische Staatsbürgerschaft erhält, arbeitet er vermehrt im Ausland. Immer im Baugewerbe, in Frankreich, Spanien, Österreich. Für eine Firma, die ihre Angestellten wie Waren in die Welt verschickt. Mal ein paar Wochen lang, mal ein paar Monate. Francisco folgt der Arbeit, egal wohin. Endet sie, kehrt er nach Amadora zurück.

Wusste Francisco, dass er Anrecht auf eine medizinische Versorgung hat? Warum ist er nicht zum Arzt gegangen, obwohl er mit Sicherheit Schmerzen verspürte? Seine Neffen sagen: „Wenn deine Stunde gekommen ist, kann dir niemand mehr helfen. Davon sind wir in Guinea-Bissau überzeugt.“ Neto sagt, Francisco habe nie Probleme gewollt, er war niemand, der Ärger macht. Wer weiß, meint er dann, leiser, „vielleicht hat er auch Angst gehabt.“ Er habe bemerkt, wie Francisco schwächer wurde, erinnert sich ein Arbeitskollege. Aber er habe die Zeichen abgetan, wie alle sie abgetan hätten, „das kommt von der schweren Arbeit, das vergeht wieder.“

Auslöser für eine Endokarditis sind Bakterien, die dazu führen, dass sich die Herzklappen entzünden und schrumpfen oder mit der Zeit verkleben. Die Bakterien kommen meist aus dem eigenen Körper, vor allem aus dem HNO-Bereich. Die Symptome können akut auftreten aber sich über Wochen und Monate hinziehen: Fieber, Abgeschlagenheit, Gewichtsabnahme, Atemnot. Lösen sich die Bakterien von den Herzklappen, gelangen sie in verschiedene Organe und können dort Arterien verstopfen und zu Infarkten mit Organschädigung führen, wie das bei Dafá der Fall war.

Das Widum von Abfaltersbach ist ein ehrwürdiges Haus mit vielen Heiligenbildern an den Wänden. Obwohl die Männer inmitten des Dorfes leben, werden sie kaum gesehen. Wann auch, frühmorgens verlassen sie das Haus, erst abends kommen sie zurück. Es muss am Tag seines Todes gewesen sein, als eine Nachbarin Francisco am Vormittag vor dem Haus sitzend bemerkt, gekrümmt vor Schmerzen. Sie wundert sich, warum er nicht auf der Arbeit ist und will ihm ein Bier bringen. Er lehnt kopfschüttelnd ab. „Die Arbeiter aus Portugal“, sagt sie , „waren einfache, gute Leute.“

Zwei Jahre lang wurde an der Vergrößerung des Loacker-Werks in Heinfels gebaut. Südtiroler Baufirmen engagierten jenes Subunternehmen, das Francisco Dafá nach Osttirol brachte. Er arbeitete für sieben Euro pro Stunde. Foto: Loacker

Die meisten Eisenbieger in Österreich kommen aus dem Ausland. Es gibt keine geregelte Ausbildung, die Kenntnisse werden betriebsintern angeeignet. Voraussetzung sind laut Berufslexikon des österreichischen Arbeitsmarktservices: kräftiger Körperbau, Gleichgewichtsgefühl, physische Ausdauer. Ein Arbeitskollege von Francisco erzählt von den damaligen Bedingungen: Arbeitstage von zwölf Stunden. Ein Stundenlohn von 7 Euro, obwohl 10 vereinbart waren. „Wir wurden, wenn überhaupt, sehr spät bezahlt“. Die Firma schulde ihm bis heute 1.400 Euro. Auch Francisco habe kein Gehalt gesehen für die Tage, die er in Osttirol arbeitete. Und die Erben, die Anrecht darauf hätten, seien nie kontaktiert worden.

Die Angaben sind vom Arbeitgeber nicht bestätigt — das portugiesische Unternehmen ist nicht erreichbar. In sozialen Medien finden sich allerdings zahlreiche Kommentare, in denen vor ihm gewarnt wird. Die österreichische Firma, die mit ihr kooperiert hat, gibt es nicht mehr. Am 8. November 2016 eröffnet sie Konkurs. Über den Masseverwalter sende ich Fragen, aber der ehemalige Inhaber äußert sich nicht, weder zu den Arbeitsbedingungen noch zum Tod von Francisco Dafá.

Anders als das Subunternehmen ist der Bauherr nach wie vor aktiv, zählte im Jahr 2017 weltweit über 1.000 Mitarbeiter und einen Umsatz von rund 335 Millionen Euro: Es ist der Waffelhersteller Loacker. Seine Waren, die er in über hundert Länder verkauft — auch in die Nachbarländer von Guinea-Bissau — produziert er an zwei Standorten. Am Ritten in Südtirol und in Heinfels in Osttirol. Heute arbeiten im Werk von Heinfels rund 370 Menschen. Loacker ist einer der wichtigsten Arbeitgeber im strukturschwachen Osttirol.

Zwei Jahre lang wurde an der Vergrößerung des Werks gebaut, rund 70 Millionen Euro hat das Unternehmen darin investiert, dafür auch öffentliche Förderungen erhalten. Wie üblich bei solch großen Projekten wurden die Bauarbeiten ausgeschrieben. Das Rennen machten nicht einheimische Betriebe aus Osttirol. Sondern zwei Südtiroler Baufirmen mit mehr Erfahrung, und dem besseren Preis-Leistungs-Verhältnis. Sie waren die Günstigsten. Und sie waren es, die das Subunternehmen engagierten, das Dafá nach Osttirol brachte.

Monate vor seinem Tod, am 28. Mai 2014, kontrollierte die Finanzpolizei die Baustelle. Vorwürfe des Lohndumpings und der Beschäftigung illegaler Leiharbeiter wurden laut. Loacker bestätigt die Kontrolle. Unregelmäßigkeiten seien nicht bekannt geworden. „Zugegeben“, sagt Frank Hess, Leiter des Loacker-Werks in Heinfels, „das System der Eisenbieger war etwas undurchschaubar.”

Am liebsten, sagt Neto, würde er Francisco in Guinea-Bissau wissen. Dort, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat, wo seine Frau und Kinder leben. Oder in Amadora, viele Freunde und Familie sind mittlerweile in Portugal zu Hause. Loacker hätte die Überführung dorthin gerne bezahlt, aber das Angebot kam zu spät. Von Franciscos Tod habe man erst erfahren, so Hess, als ein lokales Medium eine Anfrage wegen der Bestattung stellte.

Das Grab von Francisco Dafá auf dem Friedhof von Abfaltersbach in Osttirol.

Eine Menge Unternehmen standen zwischen Dafá, dem Leiharbeiter aus Guinea-Bissau, und Loacker, dem Bauherrn aus Südtirol. Vielleicht fühlte sich deshalb niemand zuständig. Vielleicht hat deshalb niemand etwas getan. Verantwortung übernahmen schließlich andere. „Seine letzte Ruhestätte ist der Friedhof von Abfaltersbach, Tirol, Österreich, Ruhe in Frieden!“ hat Werner Jesacher auf Portugiesisch ins Album geschrieben.

Als er dort ankam, sagt Neto, war er beeindruckt von der Schönheit und der Stille. Ein Ort, an dem die Menschen ihr Auto nicht absperren müssen. Eine Gegend, die konservativ sein mag, aber die gegen ein weit verbreitetes Phänomen immun scheint: Gleichgültigkeit. Er ist dankbar, als er hört, dass zwei Frauen aus dem Dorf noch immer Franciscos Grab pflegen, Kerzen anzünden, die Blumen gießen. Neto lächelt, als ich ihm sage, dass unter lauter einheimischen Namen, derer Jahr für Jahr am Schutzengelsonntag gedacht wird, in der Kirche Maria Heimsuchung in Abfaltersbach in Osttirol, dass dort irgendwann auch ein fremder Name fällt. Der genau genommen gar nicht mehr so fremd ist: Francisco Dafá.

Credits
  • Autorin: Barbara Bachmann
  • Fotografie: Andreas Rauchegger, Werner Jesacher

11 Postings

jose810
vor 5 Jahren

Unglaubliche Geschichte, ein sehr berührender und interessanter Artikel.

 
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Niedrist
vor 6 Jahren

Auch für mich als Abfaltersbacherin war das ein sehr berührender und interessanter Artikel. Bei meinen Friedhofsbesuchen habe ich mich immer gewundert, wie Francisco nach Abfaltersbach gekommen ist und wie wohl sein Leben vorher war. Vielen Dank für diesen Artikel.

 
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Anna Maria Kerber
vor 6 Jahren

Danke, für diesen erhellenden Bericht und die Solidarität der Abfaltersbacher, von Herrn Jessacher und Mithelfern. Es tut gut, inmitten der zunehmenden Ablehnung von "Fremden" die Menschlichkeit spürbar zu machen.

 
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derLois
vor 6 Jahren

Traurige Sache, bin selbst Abfaltersbacher und hat mich sehr berührt. Leider war das Begräbnis sehr spontan, wir wussten es erst nachher. Bin mir sicher wir hätten das Geld für die Überstellung zusammenbekommen und Francisco in seiner Heimat bestatten können.. Auch wenn es ihm nichts mehr geholfen hätte.

 
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Kapatieme
vor 6 Jahren

Solche Schicksale berühren sehr ! Gefordert ist hier weniger die Firma Loacker sondern der Gesetzgeber ! Der Generalunternehmer muss für alle Vergehen seiner beauftragten Subfirmen zur Rechenschaft gezogen werden. Und zwar mit hohen Geldstrafen.

 
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haberg
vor 6 Jahren

Unbekannt und doch geborgen! Mit Respekt von der ganzen Gemeinde behandelt! Das lobe ich!

 
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Lienz4ever
vor 6 Jahren

Sehr guter Artikel! Es ist sehr schön, dass sich jemand die „Arbeit“ macht das Leben von Francisco aufzurollen und ihm ein Gesicht zu geben.

 
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    meinlz
    vor 6 Jahren

    Sehr berührend!

     
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Eye de Net
vor 6 Jahren

...geborgen. In fremder Erde, in einem fremden Land, im Herzen fremder Menschen, die gar nicht mehr so fremd sind. geborgen.

 
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soomanides
vor 6 Jahren

Ich sag einfach nur DANKE für den berührenden Bericht. Schön, dass "es" das bei uns noch gibt.

 
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Kiew
vor 6 Jahren

Ein wahrhaft berührender Artikel, der zeigt, wie einsam man heute trotz globaler Vernetzung leben und sterben kann.

 
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