Werner Bätzing, emeritierter Professor für Kulturgeographie, gilt als einer der wichtigsten Erforscher alpiner Lebensräume. Über die Entwicklung des Alpenraums im Allgemeinen und Osttirols Zukunft im Besonderen schreibt er in den folgenden acht Punkten.
Die industrielle Revolution vervielfacht die Produktivität der menschlichen Arbeit und führt zu vorher unbekannten Konzentrationen von Wirtschaft und Bevölkerung in riesigen Industriestädten und -gebieten. Diese neue Entwicklung erfasst die Alpen ab 1880 verspätet, verändert sie aber tiefgreifend: Aus dem dezentralen Lebens- und Wirtschaftsraum – in jedem Seitental gab es mindestens einen Bauernhof oder eine Alm – wird jetzt eine Region, die stark durch die gegensätzlichen Prozesse von Verstädterung und Entsiedlung geprägt wird. Während die tiefen, gut erreichbaren Tallagen sowie etwa 300 isolierte Tourismuszentren im Gebirge stark wachsen und verstädtern, wird der eigentliche, schwerer erreichbare Gebirgsraum wirtschaftlich entwertet und entsiedelt.
Heute schon finden sich zwei Drittel der Alpenbevölkerung und drei Viertel der Arbeitsplätze der Alpen in den verstädterten Alpenregionen, während gut 1.000 von 6.124 Alpengemeinden seit 1870 mehr als die Hälfte ihrer Einwohner verloren haben und sich die landwirtschaftliche Nutzfläche der gesamten Alpen in dieser Zeit meist durch Verbuschung und Aufforstung, aber auch durch Überbauung halbiert hat.
Die Alpen sind aber kein Sonderfall in Europa, denn viele periphere Regionen verzeichnen ganz ähnliche Entwicklungen. Das bedeutet, dass die Ursachen von Verstädterung und Entsiedlung nicht in den besonderen Bedingungen der Alpen zu suchen sind, sondern dass es sich um typische Phänomene des modernen Wirtschaftens handelt. Und diese führen zu gravierenden Problemen sowohl in den großen Städten (wo das Leben zu teuer wird) als auch in den Peripherien (wo die Arbeitsplätze zerstört werden).
Geht die Entwicklung so weiter wie bisher, dann werden die Alpen in 50 Jahren nur noch aus verstädterten und entsiedelten Regionen bestehen. Es ist aber auch möglich, dass sich andere Entwicklungen durchsetzen werden:
→ Wenn der Staat seine Infrastrukturen nur noch auf die Räume konzentriert, in denen die Staatsausgaben am effizientesten eingesetzt werden können, also auf die großen Stadtregionen, und sich aus allen übrigen Gebieten zurückzieht, dann würden zahllose Alpentäler sehr schnell als Lebens- und Wirtschaftsräume aufgegeben werden müssen.
→ Wenn eine längere Finanz- und Wirtschaftskrise Europa erfassen würde, dann würde sich die Wirtschaft auf die konkurrenzstärksten Standorte in den Metropolen konzentrieren, und die Alpen würden mit großer Wahrscheinlichkeit wirtschaftlich stark geschwächt werden.
→ Wenn neben einem globalen Wirtschaften europaweit die Regionalwirtschaft gestärkt würde, um bewusst dezentrale Arbeitsplätze, eine lebenswerte Umwelt und regionale Identitäten zu erhalten, dann würden davon auch die Alpen profitieren, indem ihre dezentralen Strukturen aufgewertet werden würden.
Da es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass die Entwicklung auf Grund der Fragilität der wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen einfach so weitergeht wie bisher, wird es für die Alpen sehr entscheidend werden, welches dieser Entwicklungsszenarien sich durchsetzen wird.
Betrachtet man Osttirol im Kontext der gesamten Alpen, so fällt zuerst seine ausgeprägte inneralpine Lage abseits der großen Transitachsen ins Auge, die heute einen großen Nachteil bedeutet. Nimmt man die Bevölkerungsentwicklung von 1869 bis 2011 als Maßstab, so steht Osttirol mit einem Plus von 84 Prozent (Alpen insgesamt 94 Prozent) gar nicht so schlecht da. Zieht man aber Lienz und drei seiner stark wachsenden Nachbargemeinden davon ab, verzeichnen die übrigen 29 Osttiroler Gemeinden nur noch ein schwaches Wachstum von 36 Prozent. Dabei ist positiv zu vermerken, dass zwischen 1869 und 2011 nur sechs Osttiroler Gemeinden Einwohner verlieren (alpenweit sind es 36 Prozent) und dass lediglich St. Veit in Defereggen (27 Prozent) und Untertilliach (46 Prozent) starke Rückgänge aufweisen.
Negativ schlägt zu Buche, dass Osttirol ab 2001 wieder Einwohner verliert (2,6 Prozent von 2001 bis 2016), während der gesamte Alpenraum weiter wächst. Nachteilig ist auch, dass die Stadt Lienz im alpinen Kontext sehr klein ist und dass die Osttiroler Wirtschaftskraft unterdurchschnittlich ausfällt. Auch der Tourismus ist klein: Die meisten Betten gibt es in Kals, Matrei und St. Jakob (je 2.600 bis 2.700 Betten). Das ist weit vom Schwellenwert 5.000 Betten pro Gemeinde entfernt, ab dem eine Alpengemeinde normalerweise im internationalen Wettbewerb erfolgreich sein kann. Gleiches gilt für die sechs Osttiroler Skigebiete, deren Pistenlängen (13 bis 37 Kilometer) mit den 68 großen Skigebieten der Alpen (100 bis 601 Kilometer Pistenlänge) nicht mithalten können und deren Höhenlage (maximal 2.500 Meter Seehöhe) von 131 Skigebieten teilweise weit übertroffen wird. Positiv fällt dagegen beim Tourismus auf, dass Osttirol zwischen 1985 und 2014 nur acht Prozent Übernachtungen verliert, was im Alpenkontext nicht schlecht ist, und dass in dieser Zeit keine räumliche Konzentration bei den Übernachtungen stattfindet.
Damit ist Osttirol eine typisch inneralpine Region mit der für die heutige Zeit typischen Wirtschaftsschwäche. Diese ist jedoch im alpinen Kontext derzeit noch eher moderat ausgeprägt. Aber es besteht die große Gefahr, dass die Seitentäler völlig entsiedelt werden und nur die Stadtregion Lienz davon ausgenommen sein wird.
In dieser Situation werden üblicherweise zwei Aufwertungsideen vorgeschlagen, nämlich die Verbesserung der Erreichbarkeit und der starke Ausbau des Tourismus.
Was die Verbesserung der Erreichbarkeit betrifft, so gab es dafür bereits viele Vorschläge: eine Eisenbahn mit Felbertauerntunnel im 19. Jahrhundert, eine Schnellstraße durch das Pustertal in den 1960er Jahren, die Alemagna-Autobahn in den 1980er Jahren. Da derzeit die Alemagna-Diskussion wieder aufflammt, ist darauf hinzuweisen, dass zahlreiche Erfahrungen in den Alpen zeigen, dass durch einen Autobahnbau lediglich die Verstädterung im Raum Lienz stark vorangetrieben würde, die Seitentäler aber nicht profitierten und dadurch die Außenabhängigkeit Osttirols stark anstiege.
Was den Ausbau des Tourismus betrifft, so gibt es Pläne, die Skigebiete von Sillian und Sexten miteinander zu verbinden, um Anschluss an das Gebiet von „Dolomiti Superski“ zu erhalten. Der wirtschaftliche Erfolg dieses Projektes ist jedoch wegen des aktuellen Überangebots an Skigebieten bei schrumpfender Nachfrage und steigenden Temperaturen sehr unsicher und würde im besten Fall zur touristischen Verstädterung und zur Erhöhung der Außenabhängigkeit führen.
Die klassischen Aufwertungsideen laufen also ins Leere. Man braucht eine andere Aufwertungsidee!
Dreh- und Angelpunkt dieser Aufwertungsidee ist nicht die Förderung Osttirols von außen mittels viel Geld, sondern eine ausgeprägte kulturelle Identität vor Ort: Nur wenn man stolz darauf ist, in Osttirol zu leben, kann man die Kreativität und die Innovationsfähigkeit entwickeln, die es braucht, um die lokalen und regionalen Wirtschaftspotenziale zu entfalten. Dabei kann man feststellen, dass die lokale Identität in Osttirol stark ausgeprägt ist, dass es aber oft an Selbstbewusstsein fehlt, wenn es um das Verhältnis zur Außenwelt geht.
Ausgangspunkt für die hier vorgeschlagene Aufwertung ist die Neubewertung der peripheren Lage, die als „Distanzschutz“ ja gleichzeitig den Vorteil besitzt, die direkte Überprägung von außen zu erschweren und einen größeren Freiraum für eine eigenständige Entwicklung zu ermöglichen. Diesen Freiraum kann man dazu nutzen, Osttirol eine Zukunft zu geben, die weder von Entsiedlung noch von Verstädterung und Massentourismus, sondern die von der Aufwertung von dezentralen, natur- und kulturnahen Strukturen geprägt ist, mit denen sich ihre Bewohner (Einheimische wie Zugezogene) stark identifizieren können. Damit kann Osttirol seinen Charakter als eine attraktive Alpenregion auf neue Weise schärfen.
Diese Leitidee kann in wenigen Alpenregionen so gut umgesetzt werden wie in Osttirol, weil hier typische Fehlentwicklungen vermieden wurden und viele positive Voraussetzungen gegeben sind.
Die Landwirtschaft sollte sich darauf konzentrieren, hochwertige, veredelte Qualitätsprodukte zu erzeugen, die unter einem Label Osttirol vertrieben werden. Damit kann die Wertschöpfung in den Betrieben erhöht werden, und die regionalen Wertschöpfungsketten können verlängert werden, was zusätzlich Arbeitsplätze schafft. Das Potenzial für diese Aufwertung ist sehr groß, aber es müssen vor allem kulturelle Hindernisse überwunden werden. Der Absatz geht an Touristen in Osttirol sowie an die Bewohner der benachbarten Alpenstädte und der Metropolen am Alpenrand, wo dafür eine sehr große Nachfrage besteht.
Ähnliches gilt für die Bereiche Holz und Energie, für die Forstwirtschaft und für zahlreiche Handwerksbetriebe, die mit lokalen Rohstoffen und/oder lokalen Qualifikationen arbeiten.
Auch der Tourismus spielt bei dieser Aufwertung eine Rolle, aber nicht als Monofunktion, sondern als eine regionale Wirtschaftsaktivität neben anderen. Er stützt sich auf die vorhandenen Potenziale (Naturlandschaften, Nationalpark Hohe Tauern, Kulturlandschaften inklusive Ortsbilder und besondere Gebäude, Städtetourismus in Lienz) und er errichtet weder neue technische Anlagen noch strebt er einen Massentourismus an. Leitidee wäre es, Gastgeber in einer charakteristischen Alpenregion zu sein, die nicht in ein Freizeit-Ghetto umgebaut wurde, sondern in der der Gast am normalen Alpenleben teilnimmt.
Im Zentrum des touristischen Angebots steht das Erleben der Natur- und Kulturlandschaften im Sommer wie im Winter mittels vielfältiger Formen der körperlichen Bewegung, ergänzt durch Kulinarik (Basis regionale Spezialitäten), Kultur und Brauchtum (in lebendigen, nicht in musealen Formen) und Gesundheitsvorsorge und Wellness.
Eine solche Aufwertung der regionalen Potenziale setzt voraus, dass die Bereiche Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Handwerk und Tourismus systematisch miteinander verbunden werden, weil sie nur gemeinsam ihre Stärken voll ausspielen können. Und zugleich muss ganz Osttirol ein einheitliches Profil ausbilden: Wenn man von allem etwas haben möchte – hier eine neue Skischaukel, dort Regionalprodukte, hier eine Autobahn, dort ein naturnaher Tourismus –, dürfte man am Schluss mit leeren Händen dastehen.
Diese umfassende Aufwertung regionaler Potenziale reicht allerdings noch nicht aus, um Osttirol eine Zukunft zu geben. Von den gut 21.000 Osttiroler Erwerbstätigen arbeiten 69 Prozent in der Kleinstadtregion Lienz (15 Gemeinden) und damit in Betrieben, die eng mit Österreich, Europa und der Welt verflochten sind. Diese Arbeitsplätze werden von der Aufwertung regionaler Produkte nicht erreicht.
Die Industrie hat im Lienzer Becken eine lange Tradition und eine starke Position. Ihr Problem ist die periphere Lage, und ihr Potenzial am Standort Osttirol stellen die gut ausgebildeten, motivierten und innovativen Mitarbeiter dar. Deshalb wäre es die zentrale Aufgabe, die Qualifikation der Mitarbeiter zu sichern und zu erhöhen, um diese Industriestandorte langfristig in Osttirol halten zu können. Erfahrungen aus anderen Alpenregionen zeigen, dass diese Strategie erfolgreich sein kann.
Neben der Industrie sind die nicht-touristischen Dienstleistungen ein zentraler Teil der modernen Wirtschaft. Sie sind in Osttirol sehr stark auf Lienz konzentriert, aber hier wegen der kleinen Größe der Stadt nur relativ schwach vertreten. Der Aufbau eines Mechatronik-Studiengangs in Lienz ist ein erster und wichtiger Schritt zur Stärkung dieser Dienstleistungen.
Die neuen Möglichkeiten von Digitalisierung und Internet können in Zukunft auch die Peripherien neu aufwerten. Die Stadtregion Lienz könnte davon profitieren, aber nur, wenn sie nicht die Entwicklungen der Metropolen nachahmt, sondern ein eigenes Profil entwickelt. Dies könnte darin bestehen, spezifische neue Infrastrukturen für dünnbesiedelte Räume zu entwickeln, bei denen die Menschen mittels neuer Technik so mit den Zentren verbunden sind, dass sie gut an abgelegenen Orten leben können, ohne von der Welt abgeschnitten zu sein.
Üblicherweise dominieren heute in den Alpen die überregionalen Betriebe die regionalen Betriebe. Im Rahmen dieser Aufwertungsidee wäre es wichtig, dass beide wirtschaftliche Nutzungen nicht miteinander konkurrieren, sondern sich wechselseitig fördern und unterstützen. Und das bedeutet zugleich, dass die Stadtregion Lienz und die zahlreichen Seitentäler gleichberechtigt sein müssen. Beide haben je unterschiedliche Qualitäten und Potenziale, die sich wechselseitig ergänzen und bereichern, und nur beide gemeinsam können heute Osttirol aufwerten.
Für die skizzierte Aufwertung ist eine kulturelle Lebendigkeit der Schlüsselfaktor: Nur wer gern in Osttirol lebt und stolz darauf ist, hier zu leben, lebt aktiv und engagiert, übernimmt Verantwortung für seinen eigenen Lebens- und Wirtschaftsraum und entwickelt aus sich heraus und zusammen mit anderen neue Ideen, die zur Aufwertung der unterschiedlichsten Potenziale führen können.
Und hier liegt ein weiteres wichtiges Potenzial: Es gibt zahllose Menschen, die aus Osttirol abgewandert sind und die nicht mehr zurückkehren, weil sie die kulturelle Enge und die soziale Kontrolle scheuen und weil sie hier keine beruflichen Möglichkeiten für sich sehen. Diese Menschen kennen aber sowohl Osttirol als auch die Welt außerhalb Osttirols, und sie können dadurch regionsspezifische Potenziale wahrnehmen, die vor Ort leicht übersehen werden, weil sie für die Einheimischen viel zu selbstverständlich sind. Wenn eine neue kulturelle Lebendigkeit dazu beiträgt, dass einige dieser Menschen nach Osttirol zurückkehren und andere sich von außerhalb regelmäßig für ihre Heimat engagieren, dann könnte Osttirol dieses wichtige Potenzial für seine Zukunft aktiv nutzen.
Wenn man Osttirol auf die skizzierte Weise aufwerten würde, dann könnte es zur Modellregion für die Zukunft der gesamten Alpen werden.
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