Leichenschau. Die Summe der einzelnen Teile.
Leichenschau. Die Summe der einzelnen Teile.
DOLOMITENSTADT-Redakteur Marcus G. Kiniger hat sich mit dem Sillianer Bestsellerautor Bernhard Aichner in einem Hamburger Obduktionssaal getroffen.

Das Reißen und Schmatzen, als der Präparationsgehilfe mit einem Spatel die Kopfhaut vom Knochen löst, unterbricht unsere Gespräche, holt uns aus unserer schützenden Geräuschkulisse. Der nackte Körper, der noch vor Kurzem abstrakt und unwirklich schien, ist plötzlich sehr real, macht Geräusche, verliert Blut, riecht. Wir stehen zu siebt in einem Obduktionssaal, der Rechtsmediziner Jan Sperhake, die Autorin und Psychotherapeutin Angelique Mundt, Bestsellerautor Bernhard Aichner, Thomas, der Präparationsgehilfe, zwei Medizinstudenten und ich.

Es ist Donnerstagmorgen, draußen scheint Frühsommersonne warm, Vögel singen. Im Keller der Rechtsmedizin des Hamburger Universitätsklinikums Eppendorf leuchtet Kunstlicht. Jan und Thomas beginnen ihre Arbeit. Wir anderen lehnen im Halbkreis an der Wand, halten Abstand, suchen an den hellblauen Kacheln Halt. Thomas schiebt die durchtrennte Haut in die Stirn des Toten, legt so das graue Gesicht in groteske Falten. Er öffnet mit einer kleinen Kreissäge die Schädeldecke. Und ich denke daran, wie ich hierhergekommen bin.

Mittwochabend, Interviewtermin mit Bernhard Aichner. Wir kennen uns seit Jugendtagen. Ich kenne seinen Schreibdrang, der trotz zeitintensiver, fordernder Brotjobs – erst als Presse-, dann als Werbefotograf – stets ungebrochen war. Seinen unbedingten Willen, sich auszudrücken, gelesen zu werden, seinen Figuren Leben zu schenken, in Theaterstücken, Hörspielen, Kurzgeschichten, Romanen. Ich treffe ihn auf der Hamburger Reeperbahn.

Bernhard hat am nächsten Tag einen Promotion-Termin für „Totenhaus“, den zweiten Teil seiner erfolgreich gestarteten „Totenfrau“-Trilogie. Den Tag nutzte er für Recherchen, erzählt nun von der bevorstehenden Lesetour, von den heutigen Begegnungen und dass er am nächsten Morgen bei einer Obduktion anwesend sein werde. Schon als wir unser Treffen vereinbart hatten, erwähnte er den Termin. Weil er früh raus müsse, kommen wir überein, den Abend nicht zu lange unterwegs zu sein und auf Alkohol im Übermaß zu verzichten, weil er sich, wie er sagt, nicht im Obduktionsraum übergeben wolle.

„Ich habe in all den Jahren kein einziges Mal erlebt, dass sich jemand bei einer Obduktion erbricht. In Ohnmacht gefallen sind schon welche. Doch das kann man vermeiden. Da gibt es klare Signale“, sagt Jan Sperhake zu uns, als er uns vor Beginn der Obduktion zur Einstimmung Computertomographien des Toten zeigt.

Er erläutert, warum obduziert wird. Für die Familie, nichts Gerichtsrelevantes, die Staatsanwaltschaft habe den Körper frei gegeben. Jan bittet uns, aufeinander zu achten, auf „Blässe und Schweiß auf der Stirn“, sagt er. Sein Tonfall ist angenehm, freundlich. So wie er selbst. Jan nickt Angelique zu, beide kennen sich schon lange. Von der Krisenintervention. Von Toden, die Familien zerreißen, Eltern zerbrechen lassen, Menschen in tiefe Trauer stoßen, die Antworten und Trost notwendig machen, die Jan und Angelique zu geben versuchen. Jan will uns vor Ohnmacht bewahren und sagt: „Ich spüre als Warnsignal immer ein Kribbeln im Nacken. Es wird einem heiß und die Atemfrequenz erhöht sich. Wenn ihr was merkt, geht raus und atmet tief durch, das hilft.“

„Ich habe in all den Jahren kein einziges Mal erlebt, dass sich jemand bei einer Obduktion erbricht. In Ohnmacht gefallen sind schon welche.“

Am Vorabend sitzen Bernhard und ich draußen am Spielbudenplatz, im domestizierten, von Musicaltheatern weichgespülten Teil der Reeperbahn. Letzte Sonnenstrahlen scheinen warm am Ende eines kühlen, windigen Frühsommertags auf uns. Wir trinken Bier. Ich frage nach der Obduktion, wie er dazu kommt, warum. Er erzählt von der Criminale, dem jährlichen Treffen der deutschsprachigen Krimiautoren, von Angelique Mundt, seiner btb-Verlagskollegin, die er dort kennenlernte, und von Jan Sperhake, der bei der Tagung einen fachmedizinischen Vortrag gehalten habe. Angelique habe das Treffen für die Recherche möglich gemacht, auch den Termin für die Obduktion. Den er sofort annimmt, weil er neugierig ist. Immer schon war.

Jan setzt das Messer an und sagt: „Ich finde, wenn man über Obduktionen schreibt, dann sollte man zumindest eine gesehen haben.“ Er habe schon viel Unsinn über seine Profession gelesen und gesehen. Mit einem Y-Schnitt am Torso schneidet er die Haut ein, löst sie mit wenigen Schnitten von den Rippen, die er wenig später mit einer Art Geflügelschere vom  Brustbein zu trennen beginnt. „Im Fernsehen würde bei dieser Arbeit die Kreissäge gezeigt. Lauter Unsinn“, sagt Jan. Er klingt ehrlich verärgert. Aus der geöffneten Bauchhöhle steigt dichter Fäkaliengeruch auf und füllt den Raum. Thomas entnimmt das Gehirn und reißt mit einem Ruck dunkelblaugeäderte Hirnhaut geräuschvoll aus der Schädelbasis. „Das kommt wahrscheinlich daher, dass manche Autoren keine Ahnung haben, weil sie nicht nah dran waren.“

Nah ran zu gehen ist Bernhard wichtig. Bevor er „Totenfrau“, seinen Bestsellererfolg aus 2014, geschrieben hat, machte er in einem Innsbrucker Bestattungsunternehmen ein Praktikum. Er erzählt davon, immer wieder und immer wieder gern, wie er einer alten Frau die Haare wusch, sich fragte, was er da denn tue, ihr die Haare föhnte und spürte, dass das einfach richtig sei. Seine Helden baut er nah am Tod. Egal ob Blum, Bestatterin und hochemotionaler Racheengel, die er im ersten Kapitel von „Totenhaus“ sterbend zeigt, oder Max Broll, der Ex-Journalist und Totengräber in Familientradition. Keiner seiner Romane kommt ohne Tod aus, nicht „Das Nötigste über das Glück“, nicht „Schnee kommt“, nicht „Nur Blau“. Vielleicht weil Bernhard selbst dem Tod nahe war, Weihnachten 2004 in Thailand, im Tsunami.

„Im Fernsehen würde bei dieser Arbeit die Kreissäge gezeigt. Lauter Unsinn“, sagt Jan. Er klingt ehrlich verärgert.

„Die Todesursache kann ich jetzt noch nicht klar bestimmen. Ich habe eine Vermutung, aber ob sich die bestätigt, weiß ich noch nicht. Wir präparieren jetzt erst einmal alle Organe heraus“, sagt Jan. Bei der Ansicht der CT-Bilder meinte er, dass aufgrund der medizinischen Vorgeschichte des Toten ein Herzinfarkt wahrscheinlich sei. Ich denke, dass wir Glück mit unserer Leiche haben. Kein totes Kind, kein Suizid, kein Mord, kein schrecklicher Unfall, keine Wasserleiche. Als Thomas für Jan mit einem Metzgermesser eine letzte widerspenstige Rippe vom Brustbein trennt, fragt ihn einer seiner Kollegen, ob gestern eine Sumpfleiche hereingekommen sei, die schon zwei Wochen gelegen habe. Einer der Medizinstudenten verlässt den Raum, ihm ist übel. Meine Gedanken retten mich zum Vorabend.

Noch beim letzten Tageslicht gehen Bernhard und ich am Mittwoch über die Davidstraße, entlang der Reeperbahn zum Hans-Albers-Platz. Bernhard erzählt, was er bei der Recherche von einem Kriminalpolizisten gehört hat, über organisierte Kriminalität, Menschenhandel und die Reklamation eines enttäuschten Freiers wegen eines unbefriedigend verlaufenen, devianten Sexualkontakts. Über die Geschäftspraktiken der Prostituierten und ihrer Zuhälter, über EC-Kartentricks, über Lockangebote für 30 Euro.

Im gleichen Moment bieten uns zu stark geschminkte Mädels was ganz Besonderes an, für 30 Euro. Wir lehnen dankend ab und gehen weiter, sprechen über den Büchermarkt, über Promotion. Wir landen im „Ahoi“, einer angenehm prostitutionsfreien Höhle in der Hamburger Hafenstraße, reden und trinken weiter. Neben uns wird gekifft. Bernhard bittet mich, ihn in der mit Stickern übersäten Toilette zu fotografieren. Im Obduktionssaal ist Fotografieren verboten.

Einen großen Skandal habe es gegeben, sagt Jan. Einige Bestatter hatten Tote für Fotos in Pose gebracht und die Bilder im Internet gepostet. Man habe sie auf der Stelle entlassen. „Hier geht es um Respekt. Um die Hinterbliebenen, aber auch um die Toten selbst“, sagt er. Darauf achte er. Klar, man sei hier nicht todernst, der Umgang miteinander sei locker, aber respektlos dürfe man nicht werden. Achtsam müsse man sein, zum Beispiel mit den Grabbeigaben, die er bei der gesetzlich vorgeschriebenen Nachschau vor Kremierungen in Särgen finde. Fotos, Ringe, Uhren, Stofftiere, die toten Kindern in die Hände gedrückt würden. Liebevolle Abschiede.

Ich denke an Bernhards Heldin Blum, die ihre Toten beschützen will, sie kämmt und versorgt und aufbahrt. Frage mich, woher diese Fürsorglichkeit kommt. Denke an Bernhards Plädoyer, die alte Kultur des Abschiednehmens bei geöffnetem Sarg wieder aufleben zu lassen. Weil der Abschied von Angesicht zu Angesicht wichtig sei, sagt er. Weil der Tod zum Leben gehört und wir ihn zu sehr an den Rand drängten.

In „Totenhaus“ lässt sich der Tod nicht an den Rand drängen, er ist allgegenwärtig. Bernhard lässt ihn Quell von Angst aber auch Trost sein, und zeigt, wie unterschiedlich und ambivalent Reaktionen auf ihn sein können. Wie er etwa Blum, dem eigenen Tod nahe, gedanklich nicht nur zu ihren Kindern flüchten lässt, sondern auch in den Versorgungsraum ihres Bestattungsunternehmens. Den Ort, der für sie Kindheitstrauma und Sehnsuchtsort zugleich ist, an dem sie Täterin und Trösterin ist. Wie er kunstvolle Todesdarstellungen erschafft, in denen Blum sich selbst begegnet, und mit denen er sensationsgeile Kreativität hinterfragt. Wie er Blum in Beziehungs- und Vertrauensverhältnisse, in Todesahnungen und -ängste verstrickt. Wie er sie zur Gehetzten ihrer Emotionen, zur Getriebenen macht. Die sich befreien will und muss. Wahrscheinlich am Ende der Trilogie, für den Bernhard gerade recherchiert, für das er nach Details sucht, die sich verbinden lassen.

Menschliche Einzelteile liegen vor uns auf Edelstahl. Organe bar jeglicher Funktion. Mittlerweile gewogen. Das Gewicht mit Kreide auf eine Tafel geschrieben. Herz, Hirn, Lunge, Leber, Gedärm, Nieren. Jan ist auf der Suche nach der Todesursache, schneidet, öffnet Herzkammern, die Schere knirscht durch verkalkte Adern. Er zeigt uns vernarbtes Gewebe, einen alten Infarkt, daneben vielleicht ein neuer. „Nicht eindeutig“, sagt er. „Das muss noch wässern, dann sieht man einen möglichen Schaden besser“, und legt das Herz ins vom Blut hellrote Wasser des Auffangbeckens am unteren Ende des Obduktionstischs. Im offenen Brustkorb sind gebrochene Rippen zu sehen. Spuren der Reanimationsversuche.

„Ich denke an Bernhards Heldin Blum, die ihre Toten beschützen will, sie kämmt und versorgt und aufbahrt. Frage mich, woher diese Fürsorglichkeit kommt.“

Aus Einzelteilen etwas Belebtes zu schaffen, zu animieren. Ein alter Traum. Medizinisch noch nicht ausgeträumt. Kommt vielleicht noch, denke ich, schaue zu Bernhard, der seine Fragen stellt, über die Zerteilung von Körpern. Der Details, Bilder, Emotionen sucht, um sie lebendig werden zu lassen. Für sich, für seine Leser. Der Medizinstudent, der den Raum verlassen hatte, kommt wieder und bleibt nicht lange. Jan nimmt das Gehirn, schneidet es in Scheiben, ruft uns näher zu sich. Bernhard steht gefesselt da, sagt: „Das sind wir. Genau das. Gedanken, Gefühle, Sein. Alles da drin. Unglaublich.“

Wie sie kommen, seine Gedanken, und wie seine Geschichten daraus entstehen, erzählt er mitten in der Nacht, in einer anderen Bar. Es ist schon Donnerstag, die selbstauferlegte Alkoholabstinenz längst vergessen. Er schwärmt vom Schreiben, sagt, es mache ihn glücklich. Er würde eingehen wie eine Pflanze ohne Wasser, dürfte er, könnte er ihnen nicht mehr freien Lauf lassen, diesen Ideen, die schnell und ständig kämen, wie im Flug. So wie gerade während der Anreise nach Hamburg, als der Plot für den nächsten Roman entstanden sei. „Es geht dahin“, sagt Bernhard, lebendig, weit weg von Stillstand und ewiger Ruhe. Wir kommen wieder auf die nächsten Termine, auf die Zukunft, wieder auf die Obduktion am nahen Morgen zu sprechen. Er sagt, ich solle mitkommen, das ließe sich arrangieren. Ich zögere, sage schließlich biermutig zu. Begleite ihn noch zu seinem Hotel, dem Zimmer im 13. Stock mit Blick auf den eindrucksvoll erleuchteten Hamburger Hafen. Der Verlag mag seinen Autor. „Du kommst mit, oder?“, fragt er nach, bevor ich gehe. Ich nicke.

So bin ich hierhergekommen. Und jetzt muss ich raus. Mir wird heiß. Unter dem grünen Kittel, der durchsichtigen Plastikschürze, dem Mundschutz. Ich weiß nicht, ob der Hangover von der viel zu kurzen Nacht zuvor, oder der intensive Geruch von Blut und Fäkalien, die Jan gerade aus dem Darm streicht, ob der Mangel an Frischluft oder das in Falten gelegte Gesicht des Toten mich so mitnehmen. Meine Stirn ist schweißnass. Ich gehe vor die Tür. Der Medizinstudent sitzt draußen, fragt, ob bei mir alles gut sei. Ich erzähle was von Hangover. Nach und nach kommen auch die anderen aus dem Raum, schöpfen Luft, wir sprechen miteinander, über uns, den Tod, während Jan drinnen weiter arbeitet.

Bernhard Aichner, Bestsellerautor, präsentiert mit „Totenhaus“ den zweiten Teil seiner erfolgreich gestarteten „Totenfrau“-Trilogie.
Foto: Fotowerk Aichner

Wenig später ruft er uns wieder zu sich. Zeigt noch einmal die wahrscheinliche Todesursache, nimmt Proben, die in Formaldehyd eingelegt werden. „Wenn die Obduktion im Zusammenhang mit einem Verfahren stattgefunden hätte, dann wären wir zwei Rechtsmediziner gewesen“, sagt er. Alles würde protokolliert, in einer Sprache, die auch vor Gericht verstanden wird, vom Staatsanwalt, vom Richter, bestenfalls vom Angeklagten.

Jan führt uns aus dem Keller nach oben ans Sommerlicht und verabschiedet uns freundlich, herzlich, mit einem Lächeln im Gesicht. Draußen sprechen Bernhard, Angelique und ich übers Schreiben, über Angeliques aktuelles Buchprojekt, das mich zu Tränen rührt, und das ein Fachbuch über ihre Arbeit in der Krisenintervention werden soll. Ich bin noch sprachlos vom Gesehenen, flüchte mich in Details, wie Gerüche und Geräusche und die eigene nahe Zukunft. Als wir auseinandergehen, denke ich an die Bilder, die uns, die mir bleiben werden.

Denke an den Präparationsgehilfen Thomas, wie er hinter der kalkmatten Glasscheibe des Obduktionsraums mit groben Stichen die Kopfhaut vernäht. Das Gehirn liegt in Scheiben geschnitten im Bauch, an seiner Stelle füllt den Schädel unbedrucktes Papier. Denke an Jan, der einen Bericht für die Angehörigen schreiben wird, einen, den sie verstehen.

Credits
  • Autor: Marcus C. Kiniger
  • Fotografie: Colourbox, Fotowerk Aichner

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