Es klingt zu schön, um wahr zu sein: Die Welt geht einer glänzenden Zukunft entgegen. Die Wirtschaft wächst, der Wohlstand wird global gleichmäßiger verteilt und die Umwelt erholt sich von den Schäden, die ihr zugefügt wurden. Der Mann, der das für möglich hält, ist kein Fantast. Im Gegenteil.
Martin Stuchtey ist ein deutscher Wirtschaftsberater von Rang. Er lebt mit seiner achtköpfigen Familie abwechselnd am bayerischen Starnberger See, in Afrika und in Anras. Kürzlich erschien sein Buch „A Good Disruption – Redefining Growth in the Twenty-First Century“. Es hat das Zeug zum Bestseller, als eine Art Gebrauchsanweisung zur Rettung der Welt, die tatsächlich funktionieren könnte.
Neugierig geworden? Wir auch. Gemeinsam mit Fotograf Hans Groder habe ich den Autor und seine Familie besucht, an einem wunderschönen Spätsommertag kurz vor Schulbeginn. Da waren die Stuchteys noch in ihrem Sommerdomizil hoch über Anras, dem ebenso imposanten wie malerischen Kollreid-Hof. Die erste Frage drängt sich auf: „Wie kommt man zu so einem Anwesen?“ Martin Stuchtey lacht. „Der Hof hat uns gefunden, der wollte, dass wir kommen.“ Ein Freund gab dem begeisterten Bergsteiger den Tipp, ein Auge auf Osttirol zu werfen. Auf der letzten Seite eines Immobilienkatalogs sahen die Stuchteys ein altes Haus mit desolater Fassade, wenig reizvoll, wie es schien, „aber die Beschreibung ist uns aufgefallen. Mit Kirchlein, 30 Hektar, Bach, Alm – also beschlossen wir, uns das einmal anzuschauen. Auf der Fahrt durch das Tal sag ich zu Sonja, schau, da oben der Hof, dass es so etwas überhaupt noch gibt.“ Und das war´s.
Damals war Stuchtey noch im Führungsteam von McKinsey. Wäre das ein Fußballclub, würde er in der Champions League spielen. 10.000 Leute hat der Consultingkonzern unter Vertrag, McKinsey berät Großbetriebe, Banken und Regierungen rund um den Globus. Heute ist Stuchtey selbständig, gründete vor Kurzem seine eigene Firma, gemeinsam mit einem weiteren Ex-McKinsey-Hochkaräter, Jeremy Oppenheim. Die beiden nennen ihr Unternehmen SYSTEMIQ und arbeiten buchstäblich an einer radikalen Veränderung der Welt. Wie die aussehen soll, erfahren wir noch.
Jetzt nehmen wir erst einmal Platz an einem Holztisch vor dem Kollreid-Hof, neben einem plätschernden Brunnen. Hühner gackern. Zwei Töchter unseres Gesprächspartners reiten gerade auf dem Hof ein, der kein Freizeitwohnsitz ist, sondern ein Wirtschaftsbetrieb, wie Stuchtey betont: „Wir haben das Haus 2010 gefunden, 2011 gekauft und 2012 in nur drei Monaten umgebaut. 2013 haben wir mit der Landwirtschaft begonnen. 40 Schafe, acht Lamas, zwei Pferde, vier Schweine, Hühner und Hasen leben derzeit auf dem Hof. Die Menagerie soll noch bunter werden. Es gibt eine kleine Gastwirtschaftslizenz, wir vermieten das Haus für Seminare und haben unter dem Dach ein Matratzenlager.“ Einen Verwalter hat das Anwesen auch, Herbert, der hier einen neuen Lebensinhalt gefunden hat. Er kümmert sich um Hof und Gäste, darunter nicht selten hochkarätige Wirtschaftsbosse und Konzernlenker, die ihren Spaß an Matratzen-Übernachtungen haben und den Kollreid-Hof als entschleunigte Gegenwelt zum Highspeed-Kapitalismus genießen.
Womit wir auf dem Punkt sind. Dieser Gegensatz ist Kern der Gedankenwelt von Martin Stuchtey. „Meine seelische Gesundheit verdanke ich der Tatsache, dass ich immer die Chance hatte, in solchen Gegenwelten zu leben. Für mich war das hier die Antipode zu meinem McKinsey-Dasein. Innerhalb der schnellen Welt ist McKinsey besonders schnell. Da nach 20 Jahren ohne physische und seelische Schäden rauszukommen ist schwer. In den letzten Jahren war Kollreid meine geheime Medizin. Hier erlebe ich Augenblicke der totalen Entschleunigung.“ Stuchtey lacht: „Auf der einen Seite musst du in einer Welt mit mehreren Tausend Euro Tageshonorar über Minuten Rechenschaft ablegen und auf der anderen Seite redest du einen ganzen Vormittag mit den Nachbarbauern darüber, ob es für den Zaun die Lärchenstempel oder die Fichtenstempel werden. Nach drei Kaffee, zwei Zweigelt und vier Stunden stellst du fest, dass du mit fünf Bauern eine 39-Euro-Frage geklärt hast. Man kann das belächeln und den Kopf darüber schütteln. Aber man setzt andere Prioritäten und feiert andere Werte. Man gibt sich den Luxus, sich aufeinander einzulassen – und Zeit zu haben!“
Die Nachfrage nach authentischen Orten wächst schneller als der Rest des Marktes.
Der wuchtige Hof, dessen Kern mehr als 400 Jahre alt ist, wurde mit größter Behutsamkeit saniert und adaptiert. Eine „fantastische Qualität der lokalen Handwerker“ habe das ermöglicht, erzählt Stuchtey und erinnert sich: „Die Einweihungsfeier war an unserem Hochzeitstag. Wir sind eine Stunde vorher fertig geworden. Sonja hat Apfelkuchen gebacken, sie war hochschwanger mit Kind Nummer 6.“ 48 Jahre alt ist der Mann und auch beim Nachwuchs hat er sich wenig Zeit gelassen. Wie geht das, mit drei Wohnsitzen und sechs Kindern? „Mein Geheimnis bin nicht ich, mein Geheimnis ist meine Frau.“ Sonja Stuchtey schaut wie aufs Stichwort aus einem der Fenster des Hofes. „Du hast zugehört“, ruft ihr Mann und erklärt uns: „Sonja ist echt tüchtig. Sie hat vor 14 Jahren eine Firma gegründet mit mittlerweile 70 Leuten. Da geht es um naturwissenschaftliche Früherziehung von Kindern.“ Später setzt sich Sonja Stuchtey zu uns an den Gartentisch. Sie hat die operative Leitung ihres Unternehmens vor Kurzem abgegeben und ihre Dissertation fertiggestellt. Auch sie lebt offenbar in zwei Geschwindigkeiten.
Wir kommen auf das Buch zu sprechen. Wie übersetzt man „A Good Disruption“? Stuchtey, im Nebenberuf auch Professor an der Uni in Innsbruck, denkt nach, als hätte er sich die Frage noch nie gestellt. „Eine gute Unterbrechung ist es nicht“, meint er, „nein, ein verheißungsvoller Bruch“ erklärt uns Sonja. Die beiden sind das perfekte Team. Es gehe jedenfalls darum, aus einer Bedrohung eine Chance zu machen, unterstreicht der Autor: „Mit der jetzigen Perspektive können wir unsere Kinder nicht losschicken. Wir müssen das in ein positives Narrativ drehen und ich glaube bei allem Realismus – und manchmal auch bei aller Verzweiflung – an die Entdeckung, die wir gemacht haben.“
Um diese „Entdeckung“ zu verstehen, muss man wohl das Buch lesen. Ich kann es empfehlen und versuche das Unmögliche, eine Kurzzusammenfassung in drei Sätzen: Was Stuchtey und seine Co-Autoren Per Anders Enkvist und Klaus Zumwinkel darlegen, beruht auf einem Paradigmenwechsel, der ebenso radikal wie nachvollziehbar ist. Die Autoren von „A Good Disruption“ gehen davon aus, dass das globale Wirtschaftswachstum derzeit falsch gemessen wird, nämlich unter weitgehender Vernachlässigung des gigantischen Ressourcenverbrauchs, mit dem dieses Wachstum bezahlt wird.
Man könnte auch sagen, die Natur wird falsch eingewertet und mit rasender Geschwindigkeit verbraucht. Geht diese Entwicklung ungebremst weiter, brechen ausgerechnet jene Wirtschaftszweige in sich zusammen, die heute für den Wohlstand mitverantwortlich sind. Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen. Das ist keine neue Erkenntnis. Spannend ist aber der Lösungsansatz, den die Autoren anbieten. Sie haben anhand unterschiedlichster Branchen durchgerechnet, dass es erstmals in der Menschheitsgeschichte technologisch möglich wäre, eine komplett neue Ökonomie aufzusetzen, die „net positive“ ist, oder in anderen Worten: Wir könnten ohne Produktivitäts- und Wohlstandsverlust heute die globalen Ressourcen nutzen und komplett in einen Kreislauf zurückführen, statt sie in großem Stil unwiederbringlich zu vernichten.
Martin Stuchtey glaubt an diesen Wandel: „Das ist seit wenigen Jahren keine technologische Utopie mehr, sondern eine gesellschaftliche Wahl. Es ist machbar, wenn wir es wollen. Was uns ärgert, ist die Erhebung der Technologie zum Selbstzweck. Industrie 4.0 wird gefeiert, aber die Frage ist doch: Wie weit nehmen wir diese Technologie in Anspruch, um eine humanere und auch ressourcenunabhängige Ökonomie zu schaffen? Was wir beschreiben ist kein Konzept, die Dinge weniger schlecht zu machen, sondern gut, ein vom Ressourcenverbrauch entkoppeltes Industriemodell. Regenerativ, zirkular, gesund. Mit modernen Technologien ist dies erstmalig eine realisierbare Vision.“ Zu den Gründen für Stuchteys Optimismus zählt ausgerechnet das Phänomen der „Burning Plattform“. Die Welt beginnt zu begreifen, dass wir ohne radikales Gegensteuern auf einen Abgrund zurasen. Auch die neuen Medien helfen bei der Bewusstseinsbildung. Stuchtey: „Über das Internet haben wir erstmals die Möglichkeit, einen viel breiteren Konsens zu erzeugen, Impulse verbreiten sich schneller, man sieht was in den Regenwäldern und in den Ozeanen passiert.“ Der Experte erläutert ein konkretes Projekt, wohl auch, weil er spürt, dass ich nicht so recht an das ökologische Vernunftsprinzip im Weltkapitalismus glauben will.
Man könnte auch sagen, die Natur wird falsch eingewertet und mit rasender Geschwindigkeit verbraucht. Geht diese Entwicklung ungebremst weiter, brechen ausgerechnet jene Wirtschaftszweige in sich zusammen, die heute für den Wohlstand mitverantwortlich sind. Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen. Das ist keine neue Erkenntnis. Spannend ist aber der Lösungsansatz, den die Autoren anbieten. Sie haben anhand unterschiedlichster Branchen durchgerechnet, dass es erstmals in der Menschheitsgeschichte technologisch möglich wäre, eine komplett neue Ökonomie aufzusetzen, die „net positive“ ist, oder in anderen Worten: Wir könnten ohne Produktivitäts- und Wohlstandsverlust heute die globalen Ressourcen nutzen und komplett in einen Kreislauf zurückführen, statt sie in großem Stil unwiederbringlich zu vernichten.
Unser Industriemodell ist von Ressourcenverbrauch entkoppelt. Regenerativ, zirkular und gesund.
„The New Plastic Economy ist ein großes Projekt, an dem ich gerade mitarbeite“, erzählt Stuchtey, „da sind zwanzig Firmen und ein paar Stiftungen mit unserer Hilfe dabei, sich zu überlegen, ob man Plastik nicht völlig neu denken muss. Plastik ist auf der einen Seite ein tolles Zeug, verbessert Hygiene und Haltbarkeit, ist also auch eine Art Wohlfahrtsprogramm für arme Menschen.“ Die Welt verbrauche derzeit allerdings 311 Millionen Tonnen Plastik pro Jahr und bald werde diese Menge auf 600 Millionen Tonnen steigen. „Ein Drittel davon wandert in die Ökosysteme. Am Ende des Produktzyklus werden nur zwei Prozent von unserem Plastik aus ehemaligem Plastik gewonnen. Das ist ein zivilisatorisch gescheitertes Großprojekt! Darüber muss man völlig neu nachdenken. Mittlerweile gibt es Konsortien, die sich sehr konstruktiv darum kümmern. So entsteht der eigentliche wirtschaftliche Fortschritt.“
Klingt spannend, also setze ich nach. Wenn ich schon einen teuren Berater am Holztisch sitzen habe, dann mache ich doch gleich einmal Osttirol zum Thema. Hier wird chronisch abgewandert und gejammert. Auch ein Systemfehler? „Lassen Sie uns ein wenig fantasieren“, lächelt Martin Stuchtey und rechnet vor: „Beschreiben wir Wohlstand einmal nicht mit dem Einkommen pro Jahr und wie dieses Einkommen von Jahr zu Jahr wächst. Das ist eine Flussgröße. Nehmen wir stattdessen Bestandsgrößen, also das eigentliche Kapital. Das sehen wir nicht nur als die Summe dessen, was Menschen erzeugen, sondern addieren dazu Sozialkapital, Humankapital und Naturkapital – da würde man dann draufkommen, dass Osttirol von den hinteren Rängen der österreichischen Bezirke schon ins vordere Drittel hochspringt“. Klingt plausibel. Stuchtey weiter: „In Osttirols Naturkapital stecken zudem viele Optionen, die man im Unterinntal schon nicht mehr hat, oder dort, wo man alles schon industrialisiert hat in den Bergen. Dazu kommt extrem viel Sozialkapital, die Vereine, das Vertrauen, die Nähe, die kulturelle Eigenständigkeit – das ist eine Menge wert.“ Sonja Stuchtey wirft ein: „Entscheidend ist das Potenzial, die Möglichkeiten die man noch hat!“ Und ihr Gatte setzt noch eins drauf: „Misst man nach diesen Metriken und Kennzahlen, dann ließe sich zeigen, dass Osttirol das Saudi-Arabien der Kapitalakkumulation ist!“ Kein Wunder, dass der Mann eine Menge Honorar kriegt, denke ich mir jetzt und fühle mich schon wesentlich reicher als Minuten zuvor.
Wir plaudern noch lange weiter. Zum Beispiel darüber, was die Ansiedlung von Großwäschereien in Osttirol bedeutet. Der Fachmann dazu: „Im Prinzip macht man sich damit zum Teil eines Faktorkosten-Wettbewerbs und da konkurriert man mit China. Man glaubt, wir müssten das klassische Industrialisierungsmodell des 20. Jahrhunderts hier nachholen und sagen, unser Vorteil besteht aus den relativ geringen Löhnen und Subventionen, die uns helfen, Logistikkosten und anderes niedrig zu halten. So kommst du von Rang 117 halt auf Rang 116.“ Dann diskutieren wir darüber, warum es in Osttirol keine Osttiroler Heumilch zu kaufen gibt: „Es werden sich doch vier bis sechs Bauern finden, die den Mut haben, auszubrechen und auf Heumilch zu gehen, so dass man morgens mal einen Milchtransporter damit vollkriegt und deshalb wird die super Heumilch mit der Sillagemilch zusammengegossen, weil man nicht in der Lage ist, sich um eine Hochproduktphilosophie herum zu organisieren.“
Als nächstes kriegt der Tourismus sein Fett ab: „Gibt es in Europa einen Markt für gut erhaltene Naturräume? Spektakulären Alpinismus? Wunderschöne Skitouren-Atmosphäre? Hüttenkultur? Ja, diesen Markt gibt es. Wächst dieser Markt schneller und ist er ertragsstärker als der TUI-Markt? Ja. Zermatt ist genauso schwer zu erreichen wie Osttirol. Und trotzdem fahren die Leute gerne da hin.“ Stuchtey wechselt den Kontinent, erzählt, was in Namibia, wohin er mit seiner Familie regelmäßig reist, touristisch passiert: „Es klingt jetzt eigenartig, dass der Alpenraum von Namibia lernen muss. Aber dort hat man einen Tourismus aufgebaut, der wirklich toll ist. Man hat Rinderfarmen aufgelassen und Lodges hingebaut, mitten in die Natur hinein, nachts mit klarem Sternenhimmel und Wasserstellen, wo die Tiere hinkommen. Alles ist nur auf Atmosphäre und Ortskultur ausgerichtet – und die können jeden Preis verlangen, auch 1.200 Euro pro Person und Nacht. Einfach weil man die Natur feiert. Gibt es dafür einen Markt? Natürlich gibt es den!“
Da ist es wieder, sein Lieblingswort: feiern! Hat Osttirol denn keinen Grund dazu? „Lasst uns feiern, dass wir dreißig Jahre verpennt haben“, meint der Kollreid-Hausherr ohne mit der Wimper zu zucken. Und was sagt er zum Zukunftskonzept der Osttirol-Vordenker? „Ganz Osttirol steckt voll toller Ideen – und Vordenker. Doch die Summe der Umsetzungsversuche ist nicht so selbstbewusst, wie es Landschaft und Menschenschlag verdienen.“
Plötzlich biegt Justus um die Ecke, der jüngste Sohn der Stuchteys. Er hat eine Schüssel Suppe in der Hand. Sieht köstlich aus. „Wollen Sie mit uns essen?“ fragt Martin Stuchtey. Hans Groder und ich winken ab. Wir müssen runter ins Tal, die Zeit ist schnell vergangen, hier oben auf Kollreid. Auf der Rückfahrt nehmen wir die Höhenstraße. Ein paar kleine weiße Wolken ziehen über den strahlend blauen Himmel, die Straße windet sich an gediegenen Höfen und abgeernteten Feldern vorbei durch die Postkarten-Landschaft. Auf den Bergspitzen vis-à-vis liegt schon Schnee. Es ist unglaublich schön hier und ich habe plötzlich das Gefühl, dass es noch nicht zu spät ist, um die Welt zu retten.
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