„Du Karrnerin, was willst du hier?!“ – Sprüche wie diesen hat eine ganz in Schwarz gekleidete Jenische immer noch im Ohr. Sie schüttelt Jahrzehnte später ihre sorgsam frisierten, rotbraunen Locken und richtet sich kerzengerade auf, als sie von den wiederholten Beleidigungen durch ihre Mitschüler erzählt. Bei einer Podiumsdiskussion auf dem „Dritten Jenischen Kulturtag“ im Oktober in der Innsbrucker Kulturbackstube geht es um die Bildungschancen von Kindern aus fahrenden Familien.
Bei der Zuhörerin weckte das Erinnerungen an Dinge, mit denen sie sich schon in jungen Jahren abzufinden hatte. Die deshalb aber nicht gerecht wurden: „Ich war sehr gut in der Schule, trotzdem wäre das Gymnasium für mich niemals drin gewesen.“ Dass sie das Zeug dazu haben könnte, kam keinem Lehrer in den Sinn. „Man hat uns so behandelt, weil wir aus einer sehr großen Familie kamen und in einer bestimmten Siedlung wohnten. Da wusste man schon: Aha, die Jenischen.“
Einige der Anwesenden nicken stumm. Sie ahnen, wie es ihr und ihren Geschwistern ging. Denn noch vor fünfzig Jahren lebten im Reichenauer Lager und der Bocksiedlung im Osten Innsbrucks viele jenische Familien auf engstem Raum, ohne ein Bad in der Wohnung. Lebensumstände, die nicht gerade freiwillig gewählt waren, aber beim Rest der Bevölkerung den Ruf als Minderwertige zementierten.
Ihre Kinder hätten später „natürlich schon die Matura gemacht“, erzählt die Frau mit einem Anflug von Trotz in der Stimme. Ob sie von den frühen Erfahrungen ihrer Mutter wissen, fragt jemand. „Ich glaube nicht, dass es ihnen bewusst ist“, sagt sie nachdenklich, „dass ich eine Jenische bin.“
Wer bis hierher gelesen hat und sich fragt, wer eigentlich die Jenischen sind, ist damit nicht allein. „Ich hatte bis gestern keine Ahnung, dass es diese Leute gibt“, erzählt die Kulturtag-Besucherin Vesna Josovic und schaut interessiert zum Musiker Mario Hein hinüber, der im Kreis seiner Familie sitzt und die Finger über die Tasten des Akkordeons fliegen lässt. Bis ihr Bekannter sie zu dieser Veranstaltung eingeladen hatte, sei ihr das Thema komplett fremd gewesen: „In der Schule haben wir diese Geschichte nie behandelt.“
Geläufig sind den meisten Tirolern eher noch die abschätzigen Fremdbezeichnungen für Jenische: Dörcher, Laninger und eben Karrner nannte die Mehrheitsbevölkerung das fahrende Volk. Sie wiederum waren die „gatschi“ – also die Bauern oder auch Tölpel, mit ihrem sozial starren und unfreien Leben in Sesshaftigkeit.
Dabei waren die beiden Gruppen aufeinander angewiesen. Die Jenischen tauschten etwa die Lebensmittel der Bauern gegen ihre besonderen Waren oder ihre gefragten Handwerkskünste: als Korbflechter, Pfannenflicker, Schleifer, Schneider, Besenbinder, Maulwurfsfänger oder Heilerinnen sicherten sie das Überleben der Sippe. Mit Handkarren oder Wagen zogen die kinderreichen Familien herum – und brachten dabei auch Wissen und Geschichten aus aller Welt mit. Denn in der Schweiz, Italien, Frankreich, Süddeutschland und eigentlich ganz Europa lebten und arbeiteten zahlreiche Jenische.
Geringgeschätzt, pathologisiert und von den Behörden verfolgt seien die Jenischen für ihren ungebundenen, untypischen Lebensstil trotzdem immer gewesen, sagt die Innsbrucker Bildungswissenschaftlerin Elisabeth Grosinger-Spiss. Unter der Diktatur der Nationalsozialisten waren sie schließlich fast vollständig zur Sesshaftigkeit gezwungen worden, wenn sie nicht als „Asoziale“ im Konzentrationslager enden wollten.
„Die Vorarbeiten waren aber schon weit gediehen“, hat Grosinger-Spiss im Zuge ihrer Dissertation herausgefunden: „Hätte die NS-Herrschaft noch einige Jahre angedauert, wäre es nur mehr eine Frage der Zeit gewesen, dass eine flächendeckende Vernichtungswelle eingeleitet worden wäre.“
Die rassenideologische Überzeugung, dass Jenische bestimmte erbliche Mängel hätten und ihr Nachwuchs von diesem Einfluss befreit werden müsste, blieb den einschlägig geprägten Behörden bis lange nach Kriegsende erhalten.
Für die Aufarbeitung der Tiroler Heimgeschichte sprach der Innsbrucker Historiker Horst Schreiber unter anderem mit erwachsenen Jenischen, die im Volksschulalter ihren Familien entnommen wurden und in gefängnisartigen Kinderheimen großwerden mussten. Welchen systematischen Sadismus und Missbrauch diese Kinder erleiden mussten, ist online problemlos nachzulesen, aber auch dafür fehlt ein breites, öffentliches Bewusstsein.
Die „Initiative Minderheiten in Tirol“ versucht mit dem Jenischen Kulturtag deshalb bereits zum dritten Mal, diese Menschen und ihre Geschichten aus dem Schatten wieder ans Licht zu bringen. „Es wurde uns beim letzten Mal vorgeworfen, dass wir zu sehr in die Vergangenheit schauen“, sagt Organisator Michael Haupt in seiner Begrüßung. „Das stimmte damals schon nicht und diesmal sowieso nicht. Das Feiern und Beisammensein sind bei uns noch nie zu kurz gekommen.“
Den Spagat zwischen notwendiger Erinnerungsarbeit, Kulturgenuss und jenischer Zukunftsperspektive versucht der Verein in diesem Jahr mit einem vielfältigen Angebot zu schaffen: mit traditioneller Live-Musik, einer Fotoausstellung, der Lesung einer jenischen Schriftstellerin, mehreren Vorträgen und Diskussionsrunden. Einzig der Messerschleifer hat abgesagt und spontan möchte niemand den Schleifstein bedienen.
Der Geschichte genügend Platz einzuräumen, sei der Initiative immer noch wichtig, erklärt Haupt später bei einer Tasse Kaffee auf der Sonnenbank der Bäckerei. In Tirol habe die Aufarbeitung und Selbstermächtigung nie dieselbe Kraft bekommen wie beispielsweise in der Schweiz. Und: „Die Verfolgung und Ausgrenzung der Jenischen wirkt bis heute nach, das macht ja etwas mit den Leuten.“ Die Hemmungen, sich öffentlich zu ihrer Herkunft zu bekennen, seien bei vielen Jenischen zum Beispiel immer noch groß.
Willi Wottrengs Vortrag über das jenische Leben jenseits der Schweizer Grenze klingt darum wie aus einer anderen Welt: Der Autor zeigt die Aufnahme zweier junger Männer, die sich einen Igel – eine Art jenisches Wappentier – und das Wort „Jenisch“ auf den Arm tätowieren lassen haben. „Ein solches Tattoo zu tragen, wäre für einen Jenischen doch früher absolut undenkbar gewesen“, freut sich der Geschäftsführer der „Radgenossenschaft der Landstraße“ über den Mut der nächsten Generation.
Wo bis in die späten Siebzigerjahre tausende „Kinder der Landstraße“ schon als Neugeborene ihren Eltern weggenommen und in Pflegefamilien untergebracht wurden, gibt es mit der Radgenossenschaft nun seit vielen Jahren eine starke Interessensvertretung der Jenischen. Sie bringt Bilderbücher und Unterrichtsmaterial in jenischer Sprache heraus. Kämpft politisch mit allen Mitteln für Stellplätze, damit Jenische weiterhin mobil bleiben können. Und betreibt einen Campingplatz, auf dem normale Urlauber und Fahrende sich ganz beiläufig bei einem abendlichen Bier begegnen.
Dass zum Kulturtag in der Bäckerei diesmal überwiegend Jenische und Freunde der Jenischen gekommen sind, sei grundsätzlich sehr positiv und zeige, dass es bei den Angehörigen selbst ein Bedürfnis nach Austausch und Beschäftigung mit dem Thema gibt, meint Michael Haupt. „Die Frage ist, wie wir den Kreis der Interessierten erweitern können und Jenische ansprechen können, die sich noch wenig mit ihrer Herkunft beschäftigen“, sagt er. Die vorläufige Antwort: „Wir müssen einfach weiterhin konstante Kulturarbeit leisten und Jahr für Jahr einen spannenden Tag gestalten.“
Was „heit Schein“ noch nicht ist, kann „ander Schein“ ja was werden. Sofern die Begriffe aus dem jenischen Wortschatz hier richtig angewendet wurden. Denn diese Sprache wirkt auf nicht-jenische Tiroler durch ihre Nähe zur Mundart vertraut und exotisch zugleich. In ihr werden auch die klare Weltsicht und die große Kreativität der Jenischen deutlich: Finger oder Hand werden bei ihnen zum „Griffling“, der Spiegel zum „Blender“ oder das Streichholz zum „Funkerle“.
„Jede Familie spricht Jenisch aber ein bisschen anders, je nachdem, welche Einflüsse sie hat“, erzählt die Sprachwissenschaftlerin Heidi Schleich, während sie für eine Besucherin ihr Buch „Das Jenische in Tirol“ signiert. „Das macht die Forschung an dieser Sprache so schwierig – und so spannend.“
Ihre Sammlung veröffentlichte sie mit der Hilfe von Jenischen wie dem mittlerweile verstorbenen Ehrenprofessor und Schriftsteller Romed Mungenast oder der jenischen Autorin Simone Schönett. „Ohne die Unterstützung der Jenischen geht es nicht“, sagt Schleich, die für die Veröffentlichung derer „Geheimsprache“ zuweilen auch angefeindet wurde.
Die Sprachwissenschaftlerin möchte sich auch politisch für die Anerkennung und Förderung des Jenischen stark machen. Das würde ihrer Meinung nach langfristig dazu führen, dass jenische Kulturarbeit besser finanziert werden könnte. „Meine juristische Basis ist die Charta der europäischen Minderheitensprachen, die Österreich unterzeichnet hat“, erzählt Schleich.
Ich flehe die Älteren an: Bitte, sprecht die Sprache mit euren Kindern und euren Enkeln.
„Die Jenischen wurden darin nicht aufgenommen, aus Gründen, die man durchaus kritisieren kann. Zum Beispiel, weil sie örtlich nicht so leicht zuzuordnen sind wie andere Minderheiten“, vermutet sie. Sie ist aber überzeugt, dass den Jenischen aufgrund ihrer eigenen Sprache und Kultur der Status einer Ethnie zukommen müsste.
„Für die Jenischen wäre allein die Anerkennung ihrer Sprache eine große Sache.“ Sie hofft, dass Jenisch bis dahin nicht für immer verlorengeht: „Ich flehe die Älteren geradezu an: Bitte, sprecht es mit euren Kindern und euren Enkeln. Es wäre so verdammt schade um diese Sprache.“
Richard Renzl denkt nicht daran, seine Herkunft zu verleugnen oder zu vergessen. „Meine Mama war Stuhlflechterin, der Papa Pfannenflicker und Korbbinder“, erzählt er. „In Tirol gibt es diese Berufe so nicht mehr, eher noch in Kärnten.“ Wenn jemand den gestandenen Mann mittleren Alters als Karrner beschimpfen würde, wäre ihm das gleich. „Da bin ich stolz drauf.“ Er steht mit einer Zigarette in der Hand vor dem Eingang zur Bäckerei und lässt sich die Herbstsonne auf das kantige, gebräunte Gesicht scheinen.
Auch in seiner nächsten Familie gibt es ein paar Menschen, die den Besuch des Kulturtags aus Scheu vor der Öffentlichkeit nicht gewagt hätten. „An einem Tag wie diesem hier zu sein, lasse ich mir aber sicher nicht nehmen. Je mehr Leute von uns erfahren, desto besser.“
Je mehr Leute von uns erfahren, desto besser.
Was die Schweizer und auch die Deutschen Jenischen erreicht haben, sollten auch die Österreicher schaffen. Der Status als anerkannte Minderheit wäre „das Mindeste“, findet er. „Dafür bräuchte es nur ein paar von uns, die vorausgehen.“
Renzl spricht mit seinen erwachsenen Söhnen heute noch die eigene Sprache. „Wenn wir unter uns sind, oder uns sein wollen, reden wir Jenisch.“ Ihre Kultur verbindet sie mit Verwandten oder Bekannten in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. „Das ist wie eine große Familie, wir halten zusammmen.“ Auch in Osttirol kennt er natürlich jenische Familien, denn „wir sind ja fast überall zu finden.“
Für größere Bauaufträge kommen Renzl und seine Söhne viel herum, deren fundierte Ausbildung macht ihn sichtlich stolz. „Wir kennen kein Wochenende und arbeiten viel, aber wir wissen auch, wie man gut lebt“, sagt er und zieht noch einmal genüsslich an seiner Zigarette.
Das beweist auch dieser dritte jenische Kulturtag. Bei deftigem Essen, Musik und Tanz und den vielen, redseligen Raucherpausen vor der Bäckerei schwirren Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Jenischen gleichzeitig durch die Luft. Und ein wenig auch die Erkenntnis, dass der Prozess der Versöhnung zwischen den „gatschi“ und den Jenischen im Privaten schon längst im Gang ist: so wie bei Richard Renzl und seinem besten Freund.
Eine derart tiefe Freundschaft habe bei ihm und vielen seiner Angehörigen echten Seltenheitswert, sagt Renzl und man ahnt, dass er sonst nicht zu emotionalen Ausbrüchen neigt. „Aber wenn du einmal einen Jenischen zum Freund hast, dann fürs ganze Leben.“
Sagt’s und klopft einem etwas jüngeren, gut trainierten Mann von der Seite auf die Schulter: „Der Gerold ist wie ein Bruder für mich. Egal was es ist, und wenn es vier Uhr früh ist: Braucht er mich oder ich ihn, ist der andere sofort da.“ Sein bester Freund sei zwar streng genommen keiner von ihnen. „Aber ein gatschi bin ich nicht“, sagt der mit bestimmten Tonfall. Renzl lacht: „Der hat mehr Jenisches in sich als irgendwer sonst.“
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