„Es ist alles sehr verzwickt. Wenn du einmal weg bist von hier, bist du nichts anderes mehr als eine Nummer, eine Nummer von 80 Millionen. Wir werden allein sein, verlassen von allen… Glaubst du, dass du dort glücklich bist? Glaubst du an all das, was sie dir sagen? Triff keine falsche Entscheidung in deinem Enthusiasmus. Warum hast du plötzlich entschieden, zu gehen? Haben sie dir Berge und Meere versprochen? Gleichheit und Gerechtigkeit? …Ich bin müde nachzudenken, ich bin müde und genervt“, tönt eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher in einem der Ausstellungsäume.
Wir sind im Innsbrucker Kunstpavillon, der unter dem Titel „Options“ Arbeiten von Riccardo Giacconi zeigt. Der Raum ist dunkel, von der Decke hängen drei aus Holzästen geformte Skulpturen, marionettengleich. „Sie sind aus natürlichen Materialen, die ich in den Tiroler Bergen gefunden habe“, erklärt der Künstler über diesen Teil der Ausstellung, den er die „Puppetshow“ nennt.
Aus den Ecken des Raums sind unterschiedliche Stimmen zu hören – vorgelesen werden private Briefe, geschrieben von und an Südtiroler:innen zur Zeit der Option, die Giacconi in italienischen Archiven gefunden hat. „Die italienische Seite hat diese Briefe damals abgefangen und ins Italienische übersetzt, um sich ein Bild über die Stimmung der Bevölkerung zu machen. Für die Ausstellung habe ich diese Briefe von Südtiroler Politiker:innen, Historiker:innen und Journalist:innen in ihre originale Sprache rückübersetzen und vorlesen lassen“.
Sein recherchebasiertes Kunstprojekt verweist auf die historischen Ereignisse zwischen 1939 und 1943, als die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols von den faschistischen Regimen vor die Wahl gestellt wurde, entweder ins benachbarte nationalsozialistische Österreich zu emigrieren oder im faschistischen Italien zu bleiben, wo sie gezwungen waren, sich der italienischen Kultur und Sprache anzupassen.
Mit dem englischen Titel „Options“ wurde bewusst eine für diesen Fall neutrale Sprache gewählt, um nicht die italienische oder deutsche Seite hervorzuheben. Dabei schwingt dem Titel eine Ironie mit: „Wählen konnte – beziehungsweise musste – man zwischen zwei faschistischen Regimen. Das hat wenig mit einer freien Wahl zu tun“, so der Künstler. Entscheidet man sich, zu bleiben, kehrt man seiner Heimat den Rücken, beschließt man zu gehen, wird einem die eigene Heimat fremd.
„Die Ausstellung behandelt nicht ausschließlich vergangene Ereignisse, sie ist auch eine Fallstudie für die Gegenwart, für das gegenwärtige Europa“, meint Giacconi, dessen Projekt an aktuelle Themen wie Migration und der damit verbundenen Frage nach Identität und Heimat anschließt. So sieht das auch Petra Poelzl, künstlerische Leiterin des Kunstpavillons und der Neuen Galerie Innsbruck: „Es gibt so viele Krisengebiete, welche aufgrund von Krieg, Klima oder anderen Katastrophen verlassen werden müssen. Schafft man es diesen Orten zu entkommen, landet man in einem zerrissenen Europa, in dem Solidarität gegenwärtig keine Rolle zu spielen scheint.“
Die Ausstellung „Options“ ist Teil des von Poelzl konzipierten Jahresprogramms „Dancing at the Edge of the World“. Der Titel ist eine Anspielung an die gleichnamige Science-Fiction-Essaysammlung der US-amerikanischen Autorin Ursula K. Le Guin. Was die historisch angelehnte Ausstellung mit Science-Fiction zu tun hat? „Es geht darum, in die Zukunft zu blicken und Alternativen für ein gutes Zusammenleben zu denken“, erklärt Poelzl, „und dazu gehört auch, neue Perspektiven auf die Geschichte einzunehmen, die Macht von Archiven und Geschichtsschreibung zu hinterfragen. So werden Themen sichtbar gemacht, denen sonst kein oder kaum Raum zuteil wird.“
„Es geht darum, in die Zukunft zu blicken und Alternativen für ein gutes Zusammenleben zu denken“.
Der gebürtigen Steirerin war die Geschichte um die Option nur wenig bewusst, ähnlich Riccardo Giacconi: „In Italien haben wir im Geschichtsunterricht gar nichts darüber gelernt“. Giacconi wurde vor zwei Jahren im Rahmen des Festivals „steirischer herbst“ dazu beauftragt, sich künstlerisch mit der Grenze zwischen Österreich und Italien auseinanderzusetzen. Bei seiner Recherche ist er auf das Thema der Option gestoßen und hat sich seitdem intensiv mit jenem historischen Ereignis sowie mit Heraldik, der Lehre von Wappen, beschäftigt.
Wappen und deren Symbolik ziehen sich durch die gesamte Ausstellung. Bereits am Eingang werden die Besucher:innen von einem Vorhang aus Wappen angehalten, eine Schwelle zu übertreten. Es verleitet dazu, die abgebildeten Wappen ihren Regionen zuzuordnen. Doch Informationen darüber sind in der Ausstellung keine zu finden. Der Künstler hat sich bewusst dafür entschieden, die Wappen ohne geografischen und zeitlichen Kontext zu präsentieren. Vielmehr gehe es um deren universale Bedeutung: „Wappen sind eng verknüpft mit der Frage der Identität. Sie werden eingesetzt, um die eigene Identität zu festigen und zugleich zu definieren, wer nicht dazu gehört“. Auch wenn es manchmal scheint, dass Wappen heutzutage keine so große Rolle mehr spielen, begegnet uns der Tiroler Adler beim Rückweg vom Kunstpavillon Richtung Museumstraße gleich an mehreren Ecken des öffentlichen Raums.
So gibt die Ausstellung nicht nur Einblick in ein historisches Thema, sondern schärft auch den Blick, Dinge zu sehen, die man vorher nicht bewusst wahrgenommen hat. „Kunst soll Fragen aufwerfen und kann zum Überdenken starrer Konstrukte und Strukturen anregen. Es geht nicht darum, klare Antworten zu liefern, sondern vielmehr Denkprozesse anzustoßen“, resümiert Petra Poelzl.
„Options“ ist noch bis 15. Jänner 2022 im Kunstpavillon zu sehen; ebenso die zum Programmzyklus „Dancing at the Edge of the World“ gehörende Ausstellung „Archives of Resistance and Repair“ in der Neuen Galerie Innsbruck. Die künstlerischen Arbeiten von Shiraz Bayjoo, Maeve Brennan und Onyeka Igwe suchen nach Möglichkeiten einer Neubewertung historischer Dokumente und Materialien aus einer dekolonialen, antiimperialistischen Perspektive. Auf das weitere Programm im Kontext „Dancing at the Edge oft he World“ dürfen wir gespannt sein.
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