Das Fahren im Kreisverkehr muss Fatemeh noch üben. Bei jeder möglichen Ausfahrt streckt sie ganz schnell die rechte Hand aus, obwohl sie noch weiterfährt. „Das mit dem Handzeichen macht sie mir sogar noch etwas zu brav“, stellt Fahrrad-Trainerin Andrea Danklmaier fest und grinst.
Die sportliche Frau mit den schulterlangen, blonden Haaren hat Fatemeh und ihre zwei Kurskolleginnen vom Innsbrucker Messegelände in das angrenzende, ruhige Wohnviertel geführt, um sie dem echten Verkehr auszusetzen.
Andreas Schülerinnen sind nicht mehr zehn und machen auch nicht den Fahrradführerschein, wie es in Österreich für Kinder in der vierten Klasse Volksschule üblich ist. Stattdessen sind sie zwanzig oder mehr als fünfzig Jahre alt, kommen aus dem Irak, Afghanistan oder Somalia, und lernen nun als erwachsene Frauen zum ersten Mal, wie man sicher Fahrrad fährt.
Den kostenlosen Fahrradkurs für Frauen mit Migrationsgeschichte organisiert das Klimabündnis Tirol in Innsbruck schon im dritten Jahr – in anderen Städten wird er seit 2014 angeboten. Die Mittel für das Projekt kommen zu zwei Dritteln vom Verkehrssicherheitsfonds Tirol sowie dem Land und zu einem Drittel von der jeweiligen Gemeinde. Die vorhandenen Leihräder wurden gespendet, die jeweils zwölf Schülerinnen werden von sozialen Initiativen oder Wohnheimen für Flüchtlinge zur Teilnahme ermuntert.
Wir haben einige Frauen in den Tälern, die sehr eingeschränkt sind in ihrer Mobilität. Die würden so einen Kurs ebenfalls benötigen.
Auch in Lienz gab es bereits ein ähnliches Angebot, allerdings nicht in Zusammenarbeit mit dem Klimabündnis. Barbara Brandstätter vom Frauenzentrum Osttirol organisierte den Fahrradkurs für Frauen im Sommer 2017 unabhängig und ist mit dem Erfolg des bisher einmaligen Projekts zufrieden: „Frauen, die vorher wirklich nicht Radfahren konnten, bewegen sich nun sicher auf zwei Rädern fort.“ Auch gebürtige Osttirolerinnen nahmen daran teil.
Ob es diesen Kurs im kommenden Jahr wieder geben wird, kann sie trotz des regen Interesses noch nicht sagen, da dies von anderen Aufgaben abhänge: „Wir haben uns 2019 eigentlich der Gewaltprävention verschrieben.
Ausschließen will sie eine künftige Zusammenarbeit mit dem Klimabündnis aber nicht. Sie ist sicher, dass es in Osttirol weiterhin Bedarf gibt. Nicht nur bei Frauen mit Migrationsgeschichte übrigens, wie sie betont: „Wir haben einige Frauen in den Tälern, die sehr eingeschränkt sind in ihrer Mobilität. Die würden so einen Kurs ebenfalls benötigen.“
Dass Frauen mit Migrationsgeschichte allerdings ungleich öfter nicht Radfahren können, sagt eine Studie des Wiener Instituts für Höhere Studien aus dem Jahr 2015. Die Autorinnen untersuchten das soziale und gesundheitsfördernde Potenzial von Radkursen für Migrantinnen und befragten dazu in Wien 45 Einwanderinnen erster und zweiter Generation.
49 Prozent der Frauen aus Nicht-EU-Ländern hatten nie das Radfahren erlernt, und nur 16 Prozent der Befragten fuhren gelegentlich Fahrrad. Die Gründe dafür sehen die Studienautorinnen vor allem in der kulturellen Prägung und auch einer schwierigen finanziellen Lage in der Kindheit. Einem Mädchen in der Familie ein Fahrrad zu besorgen, sei in den teils konservativen, teils auch kriegsgebeutelten Herkunftsregionen der Frauen keine Priorität gewesen.
Auch im Erwachsenenalter spiele die mangelnde Ausstattung bei jenen Frauen eine Rolle, die zwar einmal Fahrradfahren konnten, aber es aktuell nicht ausübten: Fast die Hälfte der befragten Frauen hatte kein einziges eigenes Fahrrad zur Verfügung, selbst bei mehreren Kindern im Haushalt.
Die Hemmnis, den Sattel zu erklimmen, sei anfangs bei vielen Teilnehmerinnen entsprechend groß, sagt Andrea Danklmaier. Geduldig begleiten die ausgebildeten Fahrradlehrer und Trainerinnen die Frauen von den ersten unsicheren Tretversuchen an. „Wir machen das so, wie man es bei den eigenen Kindern auch machen würde“, erzählt sie. „Wenn nötig, klemmen wir einen Besenstiel im Gepäckträger ein und halten jede Einzelne seitlich.“
Andreas fortgeschrittene Schülerinnen können die Balance schon recht gut halten, doch der Straßenverkehr ist für Zahra Akktari, Zahra Tarasoli und Fatemeh Rezai noch eine Herausforderung: „Auf dem Übungsplatz fühlen sie sich alle schon recht sicher, aber kaum kommen Autos dazu oder Straßenbahnschienen, werden sie wieder wackeliger“, sagt Andrea.
Dafür ist sie mit dem theoretischen Wissen der Frauen sehr zufrieden. Sie haben fleißig in den Theorieheften geblättert, die das Klimabündnis auch in Farsi oder Arabisch anbietet. Mit Erfolg, sagt die Fahrradlehrerin. „Die Verkehrsschilder haben sie schon ziemlich gut drauf.“
Wie zum Beweis haben ihre Schülerinnen einen Häuserblock weiter ordnungsgemäß an einer Stopplinie gehalten, stehen fest mit einem Fuß auf dem Boden, und warten geduldig auf ihre Lehrerin. Nicht nur, weil sie sich strenger als die meisten einheimischen Radfahrer an die Regeln halten, fallen die drei Frauen im Straßenverkehr auf. Auch die Kopftücher unter den Helmen tragen ihren Teil dazu bei.
Ein grauhaariger Mann auf einem Stadtrad kann sich darum einen Kommentar nicht verkneifen, als er neben ihnen zum Stehen kommt: „Lernt’s ihr etwa alle Fahrradfahren?“ Verlegenes Nicken bei den Frauen. Ehrliche Begeisterung bei ihm: „Des is ja total supa, macht’s weita so!“
Nicht überall war die Freude über dieses kostenlose Kursangebot für Frauen so groß: Dass die Fahrradstunden vorwiegend für Migrantinnen eingeführt wurden, war der Tiroler FPÖ im April 2015 ein Dorn im Auge. Ein regulärer Fahrradkurs würde rund 200 Euro kosten und es sei daher eine Benachteiligung von Einheimischen, diesen nicht für sie anzubieten.
Der Kurs steht hier geborenen Frauen ebenso offen, wir hatten sogar einige einheimische Teilnehmerinnen bisher.
Doch Projektleiter Kerschbaumer vom Klimabündnis Tirol hat die Fakten: „Der Kurs steht hier geborenen Frauen ebenso offen, wir hatten sogar einige einheimische Teilnehmerinnen bisher“, sagt er. „Allerdings lernen die meisten Tirolerinnen das Fahrradfahren schon in der Kindheit und benötigen unser Angebot schlichtweg weniger oft.“
Warum das Klimabündnis sich überhaupt dafür einsetzte, dass alle Frauen Radfahren können? Die Idee dahinter sei gleichermaßen sozial wie ökologisch vorteilhaft, sagt Kerschbaumer. „Das Fahrrad ist ein ideales Verkehrsmittel im urbanen Raum. Es ist günstig und klimafreundlich und hat noch viel Potenzial in Städten wie Innsbruck“, sagt er.
Gerade Frauen, die in ihrer Heimat bisher nicht Radfahren lernen konnten oder durften, ermögliche es, ihre neue Umgebung besser kennenzulernen. „Diese Frauen haben nach dem Kurs eine viel größere Bewegungsfreiheit.“
Bei Zahra Akktari ist das so: Zum vorletzten Kurstermin ist sie schon mit einem eigenen Fahrrad gekommen. Stolz präsentiert sie ihr blaues Mountainbike, nachdem die Gruppe vom Straßentraining wieder auf den Übungsplatz zurückgekehrt ist. Ihr Mann hat ihr das ramponierte Rad für 60 Euro auf dem Flohmarkt gekauft und wieder fit gemacht. „Er kann sehr gut Sachen reparieren“, sagt die zwanzig Jahre alte Frau aus Afghanistan in nahezu akzentfreiem Deutsch. Zahra genießt nun die regelmäßigen Fahrradausflüge sehr, die sie und ihr Mann mit der kleinen Tochter unternehmen. „In Afghanistan durfte ich als Frau überhaupt nicht Radfahren.“
Auch Haleema Abadi aus dem Irak hat als Kind nie Radfahren gelernt. Es jetzt noch zu beherrschen, ist für sie sichtlich schwieriger als für die anderen. In der letzten Stunde ist sie auf dem Übungsgelände sogar so gestürzt, dass sie blaue Flecken im Gesicht und Schürfwunden auf den Schienbeinen davontrug.
Doch davon lässt sie sich nicht aufhalten, im Gegenteil: Während die anderen eine Trinkpause machen, übt Haleema weiter ehrgeizig, die vielen Hütchen zu umfahren, die Andreas Tochter Eva als Parcour aufgestellt hat. „Sehr gut machst du das schon“, ruft Andrea ihr zu. „Beim nächsten Mal darfst du mit uns rausfahren.“
Zahra Tarasoli verteilt derweil ein duftendes Reisgericht mit Kartoffeln und Curry an die Kurskolleginnen und ihre Lehrerinnen. Bei dem kleinen Abschlusspicknick nach der letzten Stunde wird die 37 Jahre alte Afghanin nicht dabei sein können – ohne ein Dankeschön will sie den Kurs aber keinesfalls beenden. Fatemeh, die ihre beiden Töchter im Kindergartenalter mitgebracht hat, erzählt voll Vorfreude von einem geplanten Ausflug: Am nächsten Morgen will sie mit ihrer Deutschlehrerin – und mittlerweile guten Freundin – zum Achensee radeln.
Die gebürtigen Tirolerinnen in der Runde können das Ausflugsziel nicht ganz glauben: Von Innsbruck aus zum Achensee? Das wäre ja eine ganz schön weite Strecke, auch geübte Radler brauchen dafür drei bis vier Stunden.
Schnell stellt sich aber heraus: Fatemeh meint stattdessen den kleinen Baggersee, im Osten von Innsbruck. Den kennt die 28 Jahre alte Mutter noch nicht, obwohl sie schon bald drei Jahre in der Stadt lebt und die meisten Innsbrucker Familien im Laufe eines Sommers irgendwann dort schwimmen gehen. Auch Zahra war mit Mann und Tochter schon da: „Der ist sehr schön für die Kinder“, sagt sie. „Es fährt auch ein Bus hin.“ Aber Fatemeh winkt ab und lacht. Jetzt kann sie ihn ja mit dem Rad erreichen.
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