Frei sein?
Geht!
Frei sein? Geht!
Matthias Wurzer und Vittorio Messini nehmen uns in dieser Geschichte auf eine besondere Tour mit. Sie klettern eine Mixed-Route mit Fels- und Eispassagen – wenige Meter abseits der Felbertauernstraße.

Über zwei Freunde, die unendliche Freiheit am Berg und die große Lust auf Neues.

Matthias Wurzer und Vittorio Messini sitzen in der Dolomitenstadt-Redaktion und sehen sich Bilder an, die Ramona Waldner fotografiert hat, vor der Haustüre, wenn man so will. Ramona hat die beiden ins Eis begleitet und in den Fels, wenige Meter abseits der Felbertauernstraße. Wir wollen über das Klettern sprechen, über die Berge, die Gefahr und die Faszination. Matthias ist der, der etwas länger nachdenkt, bedächtiger antwortet und dabei einen Hauch von Outlaw verbreitet, Vitto ist der Mann mit den italienischen Wurzeln, ihm lacht der Schalk aus den Augen – und die Abenteuerlust.

Matthias Wurzer und Vittorio Messini nehmen uns mit auf eine besondere Tour.

Die Jungs zählen zu den besten Kletterern in der Region. Das will etwas heißen. Sie sind sich meist einig, bei Journalistenfragen und bei jenen Entscheidungen, bei denen es auch um Leben und Tod gehen kann. Weiterklettern oder umkehren? Diese Route riskieren oder eine leichtere wählen? Matthias und Vitto leben in den Bergen und das ist buchstäblich gemeint. Beide sind bei der Bergrettung Kals bzw. Matrei engagiert. Im Glocknerdorf haben sie sich auch kennengelernt. Ich frage nach, was sie außer auf Berge zu steigen noch machen und ernte mitleidige Blicke. Was sollte man denn anderes tun? Vitto hat Geologie studiert, Matthias arbeitet manchmal auch als Felsräumer oder für Industriekletterfirmen (beachten Sie unsere Reportage über die Mastensteiger), aber darum geht es nicht im Leben der beiden.

Es geht um den gesetzlosen Raum, wo du nur noch auf dich alleine gestellt bist.
Matthias Wurzer

Worum sich wirklich alles dreht, sind Berge in jeder Form und geografischen Lage, Berge in Patagonien, in den USA und Kanada, vor allem aber Berge in und um Osttirol. In den Hohen Tauern, in den Dolomiten, da sind die beiden unterwegs und wenn man mit ihnen spricht, beginnt man langsam zu begreifen, was diese Spezies ausmacht, die gar nicht so weit verbreitet ist, wie man meinen möchte. Die „Szene“ sei eigentlich klein, erzählen mir Vitto und Motz. Sie meinen nicht Urlauber, die einen Gipfel erobern möchten und auch nicht tausende bergbegeisterte Wanderer. Es geht um jenes Grüppchen von Menschen, das unermüdlich nach dem Abenteuer am Berg sucht, nach der noch nicht begangenen Route, dem magischen, unwiederbringlichen Moment, in dem eine Herausforderung in einen Sieg mündet. Dieser Erlebnisgipfel kann ein einsamer Sonnenaufgang in einem namenlosen Tal sein, oder eine jungfräuliche „Linie“, die eine Steilwand emporführt und noch nie geklettert wurde.

Es ist Matthias, der erst ein wenig nachdenkt und dann auf den Punkt bringt, worum es eigentlich geht: „Um den gesetzlosen Raum, dort, wo du nur noch auf dich gestellt bist.“ Er meint damit wohl Freiheit in ihrem ursprünglichsten, archaischen Sinn, eine Freiheit, die in Zivilisationen nicht mehr spürbar und erreichbar ist, weil in jeder modernen und zivilisierten Gesellschaft die Freiheit des einzelnen dort endet, wo die des anderen Individuums beginnt. Deshalb gelten Gesetze, die unsere verbleibenden Freiräume regeln. Und deshalb fühlt sich Matthias Wurzer als „Gesetzloser“, wenn er in den noch immer erstaunlich unberührten Weiten der alpinen Bergwelt unterwegs ist. Meist mit Vitto, mit dem er das Weltbild und die bergsteigerischen Fähigkeiten teilt.

Die beiden nennen die Mixed-Route mit Fels- und Eispassagen „El Nino“.

Im Team kann man Erfahrungen potenzieren, aber auch Eindrücke. Und der Kletterpartner gibt Sicherheit. „Ich muss nicht auf den Gipfel kommen, es ist nicht wie beim Tennis oder Fußball“, erklärt Vitto, „da gewinnt oder verliert man. Wenn wir sagen, unsere Tour hört auf dem Grat auf und nicht auf dem Gipfel, dann ist es auch gut. Es gibt kein Verlieren. Richtig verlieren kannst du nur, wenn dir was passiert. Richtig verlieren darfst du nicht.“ Passieren könnte es dennoch. Restrisiko nennen das die beiden. „Jeder ist sich dessen bewusst“, sagt Motz und Vitto ergänzt: „Wir gehen keine Touren, die objektiv zu gefährlich sind, zum Beispiel Linien, wo darüber ein riesiger Hängegletscher ist. Da sagen wir, hey, das Risiko ist es einfach nicht wert.“

Es gibt kein Verlieren. Richtig verlieren kannst du nur, wenn dir was passiert. Richtig verlieren darfst du nicht.
Vittorio Messini

Und zu zweit kann man gute Pläne schmieden. Zum Beispiel jenen, einen Eispark in Osttirol zu bauen. Diese Idee war anderswo, etwa in den USA, längst Realität, in Osttirol war sie 2015 noch neu. Motz und Vitto hatten nicht nur das Projekt ausgeheckt, sondern auch den richtigen Platz dafür gefunden und eine Art natürliche Vereisungsanlage konzipiert, die mit minimalen Eingriffen in die alpine Landschaft einen beeindruckenden Kletterpark aus gefrorenem Wasser schuf.

Der quirlige Vitto ergriff die „150-Sekunden-Chance“, eine Aktion der Wirtschaftskammer, um das Projekt öffentlich zu machen und holte prompt den Sieg unter den Jungunternehmern, mit dem Nebeneffekt, dass das Projekt nicht nur vor Ort schnell bekannt wurde. Mit dem Eiswasser eines kleinen Gebirgsbaches im hinteren Tauerntal flossen auch erste Fördergelder und der Park wurde im Winter 2015/16 tatsächlich eröffnet. Wobei „Winter“ in dieser ersten Saison eigentlich unter Anführungszeichen stehen musste, weil das Klimaphänomen El Niño beinahe für einen Totalausfall der kalten Jahreszeit gesorgt hatte.

Der Osttiroler Eispark im hinteren Tauerntal und seine Erfinder.

Der Eispark hielt der Herausforderung dennoch stand, wurde gleich zum Auftakt zum Trainings- und Ausbildungsgebiet in der Österreichischen Bergführerausbildung und ist mittlerweile auch eingebettet in die Struktur des Vereines „Bergsport Osttirol“, dem Silvester Wolsegger vorsteht, Alpinist, Polizei-Postenkommandant und Marketingfachmann. Er soll das Geld auftreiben, um den Park auch in den kommenden Wintern anzulegen und zu warten. Motz und Vitto hoffen, dass diese Übung gelingt. Es braucht ein Team, um sicherzustellen, dass das Wasser auch dort fließt und friert, wo es für die Kletterer optimal ist.

In der warmen Jahreszeit sind die Rohre in einem kleinen Schuppen verstaut. Sobald es kalt wird, werden sie vor Ort gebracht und zusammengekoppelt. Ein Bach auf der gegenüberliegenden Seite des Parks wird in einem Becken gefasst, das hoch genug liegt, um ohne Pumpe das Wasser an die Oberkante des Parks zu leiten. Dann werden die Düsen geöffnet, die nach Erfahrungswerten angebracht sind, und das vertikale Eismachen beginnt. Hundert Prozent natürlich, wie Motz und Vitto betonen. Es gibt keine Chemikalien und kein weit her geholtes Wasser. Taut die Eiswand, fließt das Nass dorthin, wo es immer schon hinfloss, in den Tauernbach. Damit dieser Wasserkreislauf reibungslos funktioniert, darf im Fassungsbecken nichts verstopft sein. Regelmäßig stapfen die beiden, unterstützt von den Bergführerkollegen des Vereins Bergsport Osttirol, hinauf zum Becken und schauen nach, ob der Zulauf frei ist. Wird es richtig kalt, müssen die Leitungen entleert sein. Sonst frieren sie zu. Dann helfen nur noch Bunsenbrenner und installierte Begleitheizung. „Man stiefelt oft auf und ab“, erklären mir Motz und Vitto, „oft bist du krautnass“. Und leicht zu klettern ist der Weg auch nur für Männer mit dem bergsteigerischen Können der beiden. Doch es lohnt sich aus ihrer Sicht.

Oben—In diesem kleinen Holzhäuschen sind die Werkzeuge verstaut, die das Team zur Wartung des Eisparks braucht.
Mitte—Die Wartungsarbeiten im Park erfordern bergsteigerisches Können.
Unten—Unverzichtbar: Die modernen Eisbeile, mit denen man sich in Eis und Fels wie mit riesigen Greifern einhakt.

Vitto vergleicht den Eispark mit einer Kletterhalle, „die eine Stadt wie Lienz übrigens dringend bräuchte“. Hier kann man fast spielerisch alles üben, was im freien Gelände schnell zur echten Herausforderung werden kann. Eisklettern ist nämlich eine eigene Kunst, die sich in den letzten 30 Jahren verändert hat. „Die Generation vor uns“ – damit meinen Motz und Vitto Kletterer wie Thomas Bubendorfer, der heute Mitte Fünfzig ist – diese Generation sei auch schon auf der Nordseite des Felbertauern Eistouren geklettert, unter völlig anderen Bedingungen. Der Knackpunkt ist das Material: „Linien, die jetzt locker gehen, waren vor 30 Jahren noch sehr schwer“, fachsimpelt Vitto. Unverzichtbar: die Eisbeile, eine Art Zarge aus Hightech-Materialien, mit der man sich in Eis und Fels einhakt wie mit riesigen Greifern und dadurch Linien bewältigen kann, die früher schlicht unmöglich waren. Moderne Steigeisen und Eisschrauben geben heute festen Halt, der früher sehr begrenzt war.

Die Masterclass des Genres ist das kombinierte Klettern in Fels und Eis, fernab von künstlich angelegten Parks, dort, wo die Natur je nach Temperatur und Witterung fast täglich andere Bedingungen bietet. Einmal ist der Wasserfall gefroren, einmal nicht, dann muss man im Fels seine Route suchen. Osttirol hat sehr viel Wasser und damit auch Wasserfälle, die im Winter zu eisigen Säulen erstarren. Vitto: „Im Gschlöss ist ein Eisfall neben dem anderen, im Defereggen ist es das Gleiche.“ Fels und Eis – das sei das Coole, „klassisches Mixedklettern ist ein Zusammenspiel aus Fels- und Eisklettern. Dabei ist im Idealfall der untere Bereich des Wasserfalls nicht geformt und man muss dreißig, vierzig Meter im Fels zum Eis klettern.“

Motz im Fels; Matthias ist Bergführer und arbeitet gelegentlich auch als Felsräumer oder für Industriekletterfirmen.
Vitto im Eis; Vittorio Messini wurde in Florenz geboren. Der studierte Geologe lebt seit seinem zwölften Lebensjahr in Kals – und natürlich fast immer in den Bergen.

Es waren die warmen Winter, in denen die beiden auf solche „Linien“ aufmerksam wurden. Anfang 2000 bewältigten sie die erste „richtig schwere Mixedkletterei“, einen Wasserfall über einer Höhle. In Schottland und Kanada seien solche Klettereien gang und gäbe, gepaart übrigens mit einer „extremen Ethik“. Viele Touren werden nur im Fels und im Eis geklettert, ohne einen Haken einzuschlagen. Die „El Niño-Tour“, eine Neutour der beiden, die sie Anfang 2016 am Felbertauern Nordportal machten, stellen wir hier auch fotografisch vor. Vitto ist sie schon einmal mit dem bekannten Ausnahmealpinist Steve House geklettert, dem amerikanischen Extrembergsteiger, der sehr gerne auch in Osttirol unterwegs ist.

Ramona Waldner, unsere Fotografin, ist die Freundin von Matthias und war einmal mit von der Partie, als Motz und Vitto zur „El Niño“ aufbrachen. Direkt dort, wo unsereins an der Nordseite ins Tunnelportal am Felbertauern einfährt, steigen sie aus der Zivilisation aus und beweisen, wie nahe uns die Wildnis immer noch ist. Man muss sie nur finden und wissen, wie man sich in ihr bewegt. Kombiniertes Eis- und Felsklettern, zumal in „Nordwandln“, wie es Vitto nennt, ist definitiv eine Sache für Könner.

Mit unserer Einstellung kannst du eigentlich niemals scheitern.
Vittorio Messini

Ich frage die beiden, worauf man achten muss. Genauso gut hätte ich einen Koch fragen können, wieviel eine Prise Salz wiegt. Das ist Gefühlssache. Und wo spürt man, dass eine Fels- und Eispassage brenzlig wird? Vitto schmunzelt und zeigt auf seinen Bauch. Dann hilft mir Motz doch noch aus der Patsche – ich muss ja etwas Kluges schreiben – und erklärt mir, dass die Sensoren eines guten Kletterers eine Menge Informationen zu einem Bild verarbeiten. Die Wetterlage, die Temperatur der Vortage, generell das ganze Einzugsgebiet im Zu- und Abstieg, die Farbe des Eises – um nur einige zu nennen. All das ergibt ein Bild, das eine Einschätzung ermöglicht. Im Fall unserer Bergfreunde sind es zwei Einschätzungen und „Bauchgefühle“, die meist übereinstimmen, aber nicht immer. Im Zweifel blasen die beiden zum Rückzug. Sie müssen nicht um jeden Preis auf den Gipfel oder ins Buch der Rekorde, sie bewegen sich aus Passion durch Eis und Fels. Vitto setzt seinen verschmitzten Abenteurerblick auf und wird philosophisch: „Mit unserer Einstellung kannst du eigentlich niemals scheitern.“

Zwei Kletterpartner, die ihre Leidenschaft für Fels und Eis teilen. Vittorio Messini (links) und Matthias Wurzer.

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Informationen unter:

eisparkosttirol.wordpress.com

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