Paul M. Zulehner reiste im März 2016 mit seinem Vortrag „Entängstigt Euch“ durch Österreich und versuchte, möglichst vielen Menschen die Augen zu öffnen. Über Flucht, Asylpolitik, Angst – und die Kraft der Nächstenliebe.
DOLOMITENSTADT: Herr Prof. Dr. Dr. Zulehner, Sie sind unheimlich viel unterwegs. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.
Paul Zulehner: Das mache ich vor allem deshalb, um den vielen, die sich jetzt im Land für schutzsuchende Flüchtlinge einsetzen, den Rücken zu stärken. Sie machen bewundernswerte Arbeit. Zugleich möchte ich auch einige von denen, die ins Angsteck geraten sind und Schutzsuchende „abwehren“, von dort „herauslieben“. Egal ob Obergrenzen ja oder nein: 90 000 sind bereits seit 2015 im Land und die Regierung rechnet derzeit mit weiteren 37 500. Um deren Integration zu meistern, mit ihnen Deutsch zu lernen, Wohnraum zu schaffen und ihnen den Arbeitsmarkt zu öffnen, braucht es hohen Sachverstand, mitfühlende Herzen und zupackende Hände. Ich finde es wunderbar und für uns Ältere beschämend, dass vor allem junge Menschen, die noch nichts zu verlieren haben, sich in faszinierender Weise einbringen.
Sie haben unter anderem auch in Osttirol, in Matrei, gesprochen. Ihr Vortrag „Entängstigt Euch“ zum Thema Flüchtlings- und Asylpolitik ist vielleicht aktueller denn je zuvor. Wie sind die Reaktionen des Publikums bisher?
Die Menschen, vor denen ich bislang zu diesem Thema geredet habe, sind immer nachdenklich heimgegangen. Vielen fehlt es ja an soliden Informationen. Die Versuchung, Einzelgeschichten zu verallgemeinern, ist groß – wobei man zu jeder „Anti-Flüchtlingsgeschichte“ auch eine „Anti-Einheimischengeschichte“ erzählen könnte. So waren nicht nur Nordafrikaner in Köln übergriffig (was entschieden abzulehnen und zu unterbinden ist), sondern es gab auch ungarische Sicherheitsbeamte, die eine 31-jährige Irakerin namens Zahra demütigten. Amnesty International dokumentierte die Aussage der jungen Frau: „Die Wachmänner sagten, sie müssen mich durchsuchen und deuteten mir, dass ich mich nackt ausziehen soll. Sie haben mich überall angegriffen und gelacht – ich hatte solche Angst, habe mich aber bemüht, ruhig und gleichgültig zu bleiben. Gott sei Dank haben sie mich nicht vergewaltigt.“ (Die Presse, 18. 1. 2016)
Es ist manchmal gar nicht so leicht, seine eigene Angst vor dem Fremden zuzugeben. Sie sprechen von vielfältigen Ängsten und ich habe in der Vorbereitung gelesen, dass uns vor allem die Schwierigkeit zu schaffen macht, dass wir die andere Kultur nicht einordnen können. Fehlt es uns an Grundwissen?
Von Kindheit an versuchen wir, die nach der Geburt entstehende Urangst zu zähmen und ihr Vertrauen abzugewinnen. Das ist eine wichtige Aufgabe von Religion, Politik und Bildung: Angst in Vertrauen zu wandeln. Heute gelingt das immer häufiger nicht. Fachleute nennen Europa den Kontinent der Angst (Dominique Moisi; Heinz Bude). Angst haben viele vor dem sozialen Abstieg, aber auch davor, den erreichten Wohlstand teilen zu müssen. Angst haben wir vor dem, was uns fremd ist. Deshalb haben auch viele eine eigenartige Angst vor der Islamisierung Europas. Der schleichende Atheismus macht ihnen hingegen weit weniger Angst: weil er uns schon vertrauter ist? Wer die fatalen politischen und menschlichen Folgen der Angst ermessen lernt, der erschrickt, wenn er sieht, dass rechtsradikale Bewegungen und vermeintlich „rechte“ Politiker Ängste schüren, um gewählt zu werden.
Sie beschäftigen sich zu einem großen Teil mit der Erforschung von Werten innerhalb unserer Gesellschaft. Gibt es ihn wirklich, den vielfach zitierten Werteverfall? Gerade im Umgang mit Flüchtlingen?
Die Leute im Land sind nicht so schlecht, wie wir Katholiken sie manchmal gerne hätten. In Studien sagen acht von zehn Leuten, das Wichtigste, was Kinder lernen müssen, sei teilen können. Aber das bleibt leider oft ein Wunsch. Auf dem langen Weg zur Tat erstickt dieser Wunsch in einem Dschungel diffuser Ängste. Angst entsolidarisiert. Dann ist uns „das Hemd eben näher als der Fremde“.
Vielfach wurde auch die Angst vor einem stärker werdenden Rechtsruck in unserer Gesellschaft genannt und gerne wird hier etwa auf das ostdeutsche Sachsen verwiesen. Ist es so einfach?
Die Grundbewegung sitzt tiefer – es geht um das sensible Verhältnis von Freiheit und Sicherheit. Weil wir Ängste haben, setzen wir immer mehr auf Sicherheit und verraten dabei die Freiheit und die Solidarität. Das kommt dann auf der politischen Ebene zum Ausdruck. Viele Menschen wandern heute auf der politischen Skala nach rechts und trauen Politikern, die ihnen die „riskante Freiheit“ (Ulrich Beck) abnehmen und Sicherheit vortäuschen. Eine Spielart dieses Rechtsrucks ist verängstigter Nationalismus, der nicht mit Heimatliebe zu verwechseln ist. Derzeit ist in ganz Europa eine Rechtsbewegung im Gang, in Ungarn, in Polen, in Frankreich, in Skandinavien und Dänemark. Immer mehr Kenner der dunklen Geschichte Europas sind besorgt, dass sich die Geschichte der Dreißigerjahre wiederholt. Denn rechte Regierungen neigen dazu, autoritär zu sein. Viktor Orbán zum Beispiel plädiert in seinen Stellungnahmen für eine illiberale (unfreiheitliche) Demokratie. Wir haben also allen Grund, politisch wachsam zu sein. Auch die österreichische Flüchtlingspolitik macht mir Sorge. Die Präsidentin der Katholischen Aktion, Gerda Schaffelhofer, hat unlängst in einer scharfen Stellungnahme darauf hingewiesen. Es braucht heute also nicht dumpfe Mitläufer, sondern wachsame Freiheitskünstlerinnen und Freiheitskünstler.
Es klingt gut und schlicht, wenn Sie sagen „Menschlichkeit leben statt Ängste schüren“, aber ganz so leicht ist es nicht, wenn sich alles verändert oder wir es zumindest so empfinden. Bsp. Grenzschließungen, kälter werdendes Klima innerhalb der Gesellschaft und Politik, voll ausgebuchte Selbstverteidigungskurse, leer gekaufte Munitionsvorräte, usw. Irre ich mich?
Die Flüchtlingskrise hat uns lediglich die Augen geöffnet. Denn die großen Probleme, die in den letzten Jahrzehnten gewachsen sind, reichen bald fünfhundert Jahre zurück. Der reiche Norden ist im Zuge der ausbeuterischen Kolonialisierung reich geworden und hat viele Länder in tiefer Armut zurückgelassen. Wo Armut ist, entstehen leicht lokale und internationale Kriege. Der internationale Waffenhandel schreibt schamlose Gewinne. Die Entwicklungszusammenarbeit stagniert: Auch Österreich bringt nicht die international vereinbarten 0,7 Prozent zusammen. In dieser Lage braucht es dringend Politiker, die nicht ihre (christliche oder sozialistische) Gesinnung in Wahlkämpfen aufweichen, was dann als „Realitätssinn“ ausgegeben wird. Notwendig sind Staatsmänner, die das Wohl der eins werdenden und doch so vielfältig zerrissenen Menschheit im Auge haben. Papst Franziskus mahnt die Welt daher unaufhörlich, für mehr ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen und die brutalen Kriege rasch zu beenden. Es gilt also, die Ursachen der Menschheitskrise zu bearbeiten. Mit Obergrenzen bleibt man auf den Symptomen sitzen. Es ist, wie wenn man gegen einen schmerzenden Herzinfarkt nur Schmerzmittel nimmt.
Sie betätigen sich auch in der Familiensynode und setzen sich dort für das Thema der Geschiedenenpastoral ein. Ist es Zeit für einen kirchenpolitischen Umschwung, wie sie ihn schon 1981 in ihrem Werk „Scheidung – was dann?“ angedeutet haben?
Die Bischöfe und Kardinäle haben auf der Familiensynode 2015 von einer „pastoralen Wende“ gesprochen. Ihr Ziel sei, nicht auszuschließen, sondern das einzelne Lebensschicksal zu würdigen und dann auf Integration ins volle Leben der Kirche einschließlich der Sakramente zu setzen. Daher sollen die Betroffenen in letzter Einsamkeit vor Gott ihre Situation klären. Dazu gehört, die dunklen Auswirkungen der Scheidung aufzuarbeiten und einen Neuanfang in der Spur des Evangeliums zu setzen. Die Kirche begleitet diesen Vorgang im „forum internum“, wo das Gewissen des Einzelnen die Regie hat, durch seelsorglich kompetente Personen und schützt dabei die Leute davor, dass sie sich zum eigenen Schaden ihre Lage schönreden und die Schuld ausschließlich bei Anderen suchen. Sobald dann nach einer Heilungszeit die Wunden aller Betroffenen geheilt sind, kann der Bischof die volle Integration ins Leben der Kirche bescheinigen. Papst Franziskus greift diesen Vorschlag der Bischöfe und Kardinäle in einem Schreiben auf, das er Mitte März dieses Jahres veröffentlicht hat.
Es gilt also, die Ursachen der Menschheitskrise zu bearbeiten. Mit Obergrenzen bleibt man auf den Symptomen sitzen.
Aktuell sind sie auch Beirats-Mitglied des Think Tanks „Academia Superior“ in Linz. Wenn man sich die Liste der Beiräte so durchliest, ist das eine Ansammlung des österreichischen Wissenschafts-Who-is-Who. Wohin gehen in Zukunft die Ansätze der einzelnen Forscher? Rücken wir wieder enger zusammen oder wird es eher noch isolierter werden für den Einzelnen?
Es braucht heute einen Schulterschluss aller Menschen guten Willens, wie Johannes XXIII. sie gern nannte. Dabei gilt es die großen Errungenschaften der Menschheit zu verteidigen: die unverrückbare Wahrheit von der unantastbaren Würde jedes Menschen (etwa heute der schutzsuchenden Frauen, Männer, Kinder und Alten); die Gerechtigkeit, ohne die es keinen stabilen Frieden geben wird, die Freiheit, die nicht individualistische Beliebigkeit ist, sondern jene Persönlichkeitsstärke, die den Menschen in die Lage versetzt, wahrhaft zu lieben und zu glauben. Würde und Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit sind die großen Werte Europas. Ich hoffe nicht, dass die Uneinigkeit in der Flüchtlingspolitik das epochale Einigungswerk der Europäischen Union beschädigt oder gar zerstört. Das wäre friedenspolitisch wie wirtschaftlich der helle Wahnsinn. Ich sehe derzeit zu wenige Politiker, die mit vollem Einsatz für Europa kämpfen. Es gibt zu viele bedrohliche nationalistische Alleingänge. Es gibt zu viele kurzsichtige Nationalisten. Auch in Österreich. Leider.
Was wünschen Sie sich für uns alle?
Ich wünsche, dass die lange Friedenszeit, die Europa genießen konnte, nicht zu Ende geht. Papst Franziskus sprach unlängst von einem „Dritten Weltkrieg in Raten“. Ich wünsche uns allen und noch mehr der nächsten Generation, dass des Papstes Sorge sich nicht zur fürchterlichen Wirklichkeit auswächst. Dazu braucht es viele Menschen, die nicht hetzen, sondern helfen, die nicht orbánisieren, sondern merkeln, die nicht Opfer ihrer Angst sind, sondern mit Herz und Verstand besorgt sind und daher kleine politische Schritte in die richtige Richtung wagen, zu Gunsten der Menschen und nicht ihrer Partei. Es braucht dann aber viele Menschen, die politisch gebildet sind, und stammtischtauglich argumentieren können. Nötig sind viele Menschen im Land, die denken und fühlen: „Weil nur ein Gott ist, ist jeder Mensch einer von uns!“ – also auch der dreijährige Aylan Kurdi, der mit seiner Mutter und seinem etwas älteren Bruder tot an die türkische Küste geschwemmt wurde; ertrunken ist er, weil wir Europäer keine sicheren Fluchtwege geöffnet haben. Vielleicht bewegt zutiefst manch eine und einen die Aussage des Matthäusevangeliums: „Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen.“ (Matthäus 25,35)
Buchtipp:
Paul M. Zulehner: Entängstigt euch! Die Flüchtlinge und das christliche Abendland, Ostfildern 2016, Patmos
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