„Man hat mir die Hände auf dem Rücken verbunden. Ich lehne mit dem Kopf an einer blickdichten Scheibe. Obwohl niemand raucht, erzählen mir die Sitzpolster von vergangenen Nikotingenüssen. Vor mir ist ein Gitter. Und davor sitzt eine Beamtin, deren Pferdeschwanz im Fahrtwind tänzelt.“
Als Angela Lehner im ersten Stock des Altstadthotels Eck aus ihrem von der Kritik bejubelten Roman „Vater unser“ zu lesen beginnt, springt der Funke sofort auf das Publikum über.
Ein Glas Wasser, um das sie kurz zuvor gebeten hatte, wird zum Tisch gebracht und passt plötzlich nahtlos zum gelesenen Text, weil just in diesem Moment auch die Heldin des aufrüttelnden und mit großer Raffinesse komponierten Romans nach einem Glas Wasser verlangt: „Einen Durst hab ich!“ Diese Heldin heißt Eva Gruber und wird in der ersten Szene des Buches in die psychiatrische Klinik am Steinhof in Wien eingeliefert.
Angela Lehner erweckt diese Romanfigur in Lienz auch lesend mühelos zum Leben, schlüpft in ihre Rolle, liest, ruft, wechselt den Dialekt. Der Roman ist nicht autobiografisch, sondern ein minutiös kalkuliertes Spiel mit dem Bewussten und Unterbewussten. Was ist real und was Fiktion? Wer ist „normal“ und wer „gestört“? Die Grenzen des Wahnsinns und die Bruchlinien verletzter Seelen verlaufen eben nicht linear, sind nicht immer gleich sichtbar und tarnen sich gut hinter unterschiedlichsten Fassaden.
All das lässt die Autorin in einer sorgfältig gewählten Dramaturgie an diesem Leseabend auch ihr Publikum spüren. Wie im Buch überlässt Lehner auch bei ihrer Live-Performance nichts dem Zufall, baut Kontakt zur Zuhörerschaft auf, erzählt zwischendurch aus ihrer Zeit in Lienz.
Später, im Interview mit Dolomitenstadt Chefredakteur Gerhard Pirkner plaudert die Erfolgsautorin über Inspiration und Disziplin in einem Business, das nur den Besten eine Überlebenschance gibt.
Auch alte Zeiten kommen zur Sprache. Die heute in Berlin lebende Schriftstellerin hat in Lienz maturiert, war Ferialreporterin bei dolomitenstadt.at, hat sich damals intensiv mit dem Autor Christoph Zanon auseinandergesetzt – den sie in ihrem Roman würdigt – und war als „Reporterinnen-Dreamteam“ beim Straßentheater mit Fotografin Ramona Waldner unterwegs, die acht Jahre später wieder mit der Kamera zur Stelle ist. Ihre Bilder liefern einen fotografischen Eindruck von einem Leseabend der Extraklasse, der auch musikalisch aus dem kleinstädtischen Rahmen fällt. Zwischen den literarischen Szenen aus der Psychiatrie blitzt als akustische Interpunktion das Genie des russischen Komponisten Aleksey Igudesman auf, interpretiert von den Geigerinnen Beate Aschan und Andrea Riedler. Auch das ein Hochgenuss.
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