Ein Sprichwort aus China besagt ‘Man trinkt Tee, um den Lärm der Welt zu vergessen’, ein Bonmot aus Osttirol ‘Kommen Sie zu uns, wir haben nichts!’ Ich habe beides getan: vom Tee getrunken und das umworbene Nichts bereist, den Lärm der Welt ausgeschaltet und Alles gehört, die besagte Leere erlebt und darin Vieles gefunden. Es waren die gewöhnlichen Begegnungen, die im Anderssehen und -hören zu etwas Besonderem wurden, die Kräfte der Natur, die durch die eigene Nacktheit erstmals spürbar wurden und das Sein mit sich selbst, das im Neuerlernen seine Herausforderungen barg. Es war diese Nähe zum alten Leben fernab von Fremdbestimmung, Angst, hierarchischen Strukturen, Machtgefüge, Wettbewerb und anderen klingenden Eigenschaften. Hier herrschte Stillstand, lebendiger Stillstand.
Da war zum Beispiel der Albert, ein grad’ Siebziger aus dem Dorf am Fuße der Alm, hager im Erscheinen, laut in der Stimme. Es vergingen kaum drei Tage, an denen ich ihn nicht auf irgendeinem Grat in der Ferne durch meinen Gucker erspähte. Und sah ich ihn nicht, hörte ich ihn. So voll sein Rucksack für eine Tageswanderung schien, so gefüllt war dieser mit abertausenden Geschichten. Aus seiner Brusttasche lugten neugierig die Köpfchen bunter Wiesenblumen und -kräuter. Ihre Namen hatten etwas Fabelhaftes, mit geschlossenen Augen konnte ich sie wie kleine Elfen über die Berghänge tanzen sehen: Da gab es die kugelige Teufelskralle und den Klappertopf in zottiger, kleiner und großer Ausführung, den Berg- und Gold-Pippau, den Alpen-Petersbart und den sternblütigen Steinbrech, das Taubenkropf-Leimkraut oder das Blutströpfchen (Kohlröschen), das, seinem Namen im Aussehen getreu, die alpinen Matten säumte. Der Albert, geboren als siebzehntes von 18 Kindern, nahm mich im Zuge dieses Almsommers mit auf eine Reise einzigartiger Familiengeschichte. Ein Wiedersehen schloss er stets mit: „Kathrin, jetzt hab’ ich dir genug erzählt, jetzt lass’ ich dich.“ Und er zog von dannen bis zum nächsten Mal.
Es war der 10. Juni. Da war ich mit mehreren Kisten Essen für drei Monate, Kleidung für vier Jahreszeiten – es konnte ja jederzeit Schnee geben – und Überlebensutensilien für ein Abenteuer in mein erstes von drei Refugien auf rund 1 900 Meter eingezogen. Der anfängliche Urbanität-Digital-Detox-Schock dauerte fast 24 Stunden an; die stille Stille – die Viecher sollten erst am nächsten Tag kommen – war gespenstisch still, ich klammerte mich regelrecht an mein Smartphone und seine wenigen verbliebenen Akku-Prozente, irrte suchend auf der Weide nach einem Empfangs-Quadratzentimeter herum und bekam beim Gedanken an die nicht vorhandene Ladestation in meiner stromlosen Hütte fast einen Anfall von Beklemmung. Mein Rückzugsort wirkte noch kalt, holte ich ihn doch nach neun Monaten Winterschlaf jetzt erst langsam zurück ins Leben. Meine Augen streiften über die an Nägeln an der Wand hängenden, rußigen Pfannen und abgeplatzten Emaille-Töpfe. Aus einem blitzte ein grüner Zettel. „(…) Du wirst einen sehr schönen Sommer erleben dürfen in einer wunderschönen Natur. (…) Genieße die Zeit!“, stand darauf. Die letztjährige Hirtin hatte ihn versteckt. Ich musste schmunzeln und freute mich auf das Bevorstehende.
Jetzt, gut drei Monate später, war ich dahin zurückgekehrt, wo alles begonnen hatte. Ich stand in der Küche, inhalierte noch einmal die von Holzrauch und Ruß erfüllte Luft, packte die übrigen Sachen und schloss die Fensterläden. Wieder musste ich lächeln. Was war es doch für ein außergewöhnlicher Sommer gewesen, herrlich und beschwerlich zugleich. Wie erfüllten mich Demut und Dankbarkeit, dafür auserwählt worden zu sein und Derartiges so nah am Leben erfahren haben zu dürfen. Ich hatte nach dem Himmel gegriffen und zugleich die Dämonen der Berge erlebt. Ich war tagelang im Nebel gefangen gewesen und fand in dessen Palindrom das Leben. Ich hatte die Angst und Einsamkeit der Untengebliebenen zwar gehört, nicht aber gefühlt. Ich war mit wenig gekommen und würde reich zurückkehren: die Reduktion hatte andere Blickfelder eröffnet, die Bescheidenheit die Freiheit spürbar gemacht und der Rhythmus von Natur und Tier mich der Zeit und dem Rausch entzogen.
Ich erinnerte mich an eine Nacht im August in der dritten Alm. Damals war ich mir am Morgen danach nicht sicher gewesen, ob nicht der Höllenschlund im Talkessel geöffnet worden war. Die Götter hatten ihre Schwerter sprechen lassen und für apokalyptische Szenen gesorgt. Meine kleine Hütte hatte sich unter dem Hagel der ballgroßen Geschoße gekrümmt, ich verdrängte den Gedanken, meine „Jockele“ [‚dschoggele‘] und Rösser nicht mehr vollzählig wiederzusehen. Ausschnitte aus Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ wurden realistisch. Im Selbstzweifel meiner Hirten-Qualitäten und der Ehrfurcht den tobenden Naturgewalten gegenüber besann ich mich auf mein Urvertrauen und meine Zuversicht – und ich griff zum Allheilmittel Schnaps. Am nächsten Tag war das mulmige Gefühl bei der Suche nach dem Vieh nicht zu leugnen. Ich ging durch ein Labyrinth kniehoher Heidelbeerstauden, in deren Schatten das Eis zentimeterhoch lag. Noch in den Tagen zuvor hatte es zum Frühstück Müsli mit selbst gepflückten Schwarzbeeren gegeben, das war jetzt vorbei. Egal, viel wichtiger war, dass ich alle 55 Kalbinnen, meine drei Noriker-Damen und das Fohlen unversehrt auffand. Der Stein ließ sich mit einem Berggipfel vergleichen, der mir in dieser Sekunde vom Herzen fiel.
Ob es an der Nähe zum Himmel gelegen hatte oder aber auch an der eigenen Sensibilität – das Majestätische und Geistige war allgegenwärtig gewesen. Es war das Königinnenreich, das ich mein genannt hatte, es war der Steinadler, der als König der Lüfte mein Bote Gottes gewesen war, es war dieser schmale Grat zwischen neuem Leben und dem Tod in den Bergen, der im Alleinsein sichtbar geworden war und es war der Mönch, der meine letzten Tage vor der Rückkehr ins Tal gekreuzt hatte. Eigentlich hatte der Frater gar nicht so ausgesehen, als käme er vom Kloster. Das hatte vermutlich damit zu tun, dass er nicht im Habit herumlief. Da war es fast Zufall gewesen, dass ich ihn als Mönch enttarnte. Seine Bewunderung und Verehrung waren mir sicher, steht es bis heute als Widmung in einem geschenkten Büchlein. „Vor deiner Hütten sitze ich und warte auf die Murmeltiere (…)“, steht darin, „Warum der Vogel singt“, steht darauf.
Mitte September war es schließlich an der Zeit zu gehen. Es waren Monate der Zufriedenheit und des Glücks gewesen, Wochen der Kontemplation, Tage der Erkenntnis und Stunden der Erschöpfung, die ich hier [v]erlebt hatte. Jetzt konnte ich meine Alm dem Winter übergeben, jetzt durfte ich gehen und dankbar zurückblicken auf meinen Hirtinnensommer.
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Das nennt man noch Zufriedenheit !
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