In Bolivien zu leben bedeutet für mich, meine Andersartigkeit zu erkennen. Ich habe mich an vieles gewöhnt, die Unpünktlichkeit, die komplizierten Behördenwege, das deftige Essen ohne Gemüse. Doch ich fühle mich nicht zu Hause, weil ich in Bolivien nicht mit dieser kulturellen Selbstverständlichkeit leben kann, die ich etwa in Osttirol fühle. Ich mache viel anders als die Menschen hier, und das bewirkt, dass ich mich oft fühle, als würde ich alles falsch machen.
Jeder Tag bringt neue Überraschungen. Die größte Herausforderung ist, gelassen zu bleiben. In Bolivien funktioniert praktisch nichts auf Anhieb. Am Anfang regte ich mich darüber auf, aber ich lerne, alles so zu nehmen, wie es kommt. Das Schöne ist, dass es immer eine Lösung gibt – egal, wie lange es dauert.
Ich vermisse es, ohne Angst alleine auf die Straße gehen zu können, besonders nachts. Ich vermisse es, in der Natur entspannen zu können. In Bolivien gibt es mehr Kriminalität, mehr Armut, mehr Chaos als in Österreich.
Ich finde Bolivien nicht unbedingt schön, eher interessant. Nach Bolivien zu kommen, ist wie in eine andere Welt einzutauchen. Was hier funktioniert, ginge so in Europa gar nicht, und was in Europa selbstverständlich ist, gibt es hier nicht. So fahren auf der Straße Autos, die in Europa längst aus dem Verkehr gezogen worden wären. Eine in Europa selbstverständliche Mülltrennung und Müllentsorgung gibt es hier nicht. Bolivien ist auch ein Land der starken Gegensätze – während ich in einem Haushalt der Mittelklasse wohne, begegnen mir jeden Tag auf der Straße jene, die fast nichts haben. Das Leben in einem bolivianischen Haushalt bietet mir Einblicke in die bolivianische Kultur, die ich als Forscherin ohne persönliche Beziehungen nie erlangen könnte.
Es ist Bestandteil meiner Arbeit, das Alltagsleben mit den Menschen zu teilen. Ihre Antworten und Sorgen zeigen mir, welcher Forschungsschwerpunkt für die Menschen wichtig ist. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Viele Menschen wollen mir ihre Türen nicht öffnen, weil sie Angst vor Fremden haben.
Evo Morales ist mittlerweile zehn Jahre an der Macht. Geändert hat sich nicht viel. Er und seine Parteifreunde führen das Land im gleichen Sinne wie ihre Vorgänger weiter. Seine Wahlsiege aber verdankt Morales der Masse der indigenen Bevölkerung. Es ist diese soziale Bewegung der Urbevölkerung, und nicht die Regierung Morales, die das Selbstbewusstsein dieses Teils der Bevölkerung gestärkt hat.
Es scheint mir, als ob die Regierung eher die Konfrontation zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen als eine Aussöhnung verfolgt. Unter dem Tisch werden Großindustrielle gefördert, denen Rechte zur Erdölförderung in indigenen Territorien zugesichert werden. Diese Politik führt zum Konflikt in der Bevölkerung, sie baut keine Brücken.
Die Flüchtlingsproblematik in Europa ist auch in den bolivianischen Medien manchmal ein Thema. Es erschreckt mich, wie rassistisch manche Bolivianer auf diese Thematik reagieren. Sie meinen, die Immigranten seien eine Gefahr für Europa. Dabei müssten die Bolivianer die Situation der illegalen Einwanderer verstehen, denn sie selbst haben es sehr schwer, auf legalem Weg nach Europa zu kommen.
Ich möchte vor allem viel über eine fremde Kultur lernen und dadurch als Mensch wachsen. In Zukunft wäre ich gerne gemeinsam mit meinem bolivianischen Freund in Europa. Ich würde an einer Universität arbeiten und wir würden unsere eigene Organisation haben, über die wir ökologische und soziale Projekte in Bolivien und Europa abwickeln. Dadurch hätte auch mein Freund eine Chance auf eine interessante Arbeit in Europa, denn als Migrant wird er es schwerer haben als ich. Schon die Einreisegenehmigung zu erlangen, ist für ihn sehr schwierig.
Wir würden gerne eine Betätigung finden, die es uns erlaubt, eine Zeit lang in Europa und eine Zeit lang in Bolivien zu leben. Und es würde uns natürlich freuen, wenn unser europäischer Hauptwohnsitz in Osttirol sein könnte! Schweden ist zwar schön und sehr gut organisiert, aber an die dunklen, langen Winter dort werde ich mich wahrscheinlich nie gewöhnen.
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