Ihr Dolo Plus Vorteil:
Diesen Artikel jetzt anhören

Sprichst du Deutsch und fährst du Rad in Lienz?

Dann lies diese Randnotiz von einem, dessen erstes Babywort schon andersartig war: „Milupa!“

Aufmerksame Leser der Randnotizen haben schon manches über mein Leben, meine Familie und meine Herkunft erfahren. Ich bin in Lienz aufgewachsen, bin hier zur Schule gegangen. Und wenn ich schreibe, sitze ich vor dem Computer. In Lienz. Das Leben in Lienz war schon vor mir ein Algorithmus und meine Filterblase dessen logische Konsequenz.

Als ich zur Welt kam, so erzählte mir meine Mutter, habe ich nicht viel gesprochen. Das erste Wort, das sie mir beigebracht hat, war nicht „Mamme“, der lateinische Fachausdruck für die Nahrungsquelle, auf welche die Kinder am Land ihre Mütter begrenzten. Nein, das erste Wort, das ich erlernte, war „Milupa“, eine Babynahrung aus Hafermilch. Nicht, weil sie gesund war, sondern um die heimischen Bauern zu ärgern. Ich lernte schnell, und schon nach wenigen Monaten galt ich in Lienz als ein Autochthoner.

Mein Bruder, eineinhalb Jahre jünger als ich, tat sich da deutlich schwerer. Meine Eltern verstanden ihn nicht und hielten die Laute, die er auf der Entbindungsstation von sich gab, für eine Mischung aus Paschtunisch und Farsi. Da niemand in unserer Familie damit etwas anfangen konnte, wurde mit allen möglichen Strategien versucht, mit ihm in Kontakt zu treten. Mein Vater, der während der britischen Besatzung mehrsprachig aufgewachsen war, probierte es mit einer Mischung aus Hubert Gorbach und Gerald Hauser. Ohne Erfolg. Im Lienzer Krankenhaus sprach man damals bei weitem nicht so viele Sprachen wie heute.

„In keiner anderen Stadt Österreichs sieht man so viele Einkaufskörbe mit Fahrrad“. Foto: Rudolf Ingruber

Mein Bruder hatte bei seiner Geburt keinen Ausweis dabei, deshalb durfte er vorerst auch bleiben. Sein Sprachverständnis aber blieb mangelhaft, und so wurde er von meiner Mutter zwecks Einzelunterrichts in eine Deutschförderklasse gesteckt. „Deutschförderklasse“ war aber nichts als ein Euphemismus, denn das Raumangebot unserer Wohnung konnte sich so ein Séparée gar nicht leisten. Unsere Wohnung bestand aus Zimmer, Küche und Kabinett, wobei letzteres schon von der Regierung besetzt war. Meine Mutter hatte das Innen- und das Justizministerium sowie das Finanzressort über, mein Vater die Kanzlerschaft. Ein Stockwerk über uns wohnte die Großmutter mütterlicherseits, die den Kanzler alle paar Jahre bestätigen musste.

Aus Platzgründen wurde also für meinen Bruder die Besenkammer bereitgestellt, in der er immer willkommen war. Zur Bestätigung wurde auch das Türschild erneuert: Statt „Ausreisezentrum“ hieß es jetzt „Wiederkehr“, wobei ich mir sicher bin, dass mein Bruder eher zu Erstem neigte. Handys gab es damals noch keine, also musste man sie auch nicht verbieten. Trotzdem wurde mir ein Fotopoint zugestanden, während mein Bruder mit der Dunkelkammer vorliebnehmen musste. Durch das Schlüsselloch sah ich zu, wie er sich dort drinnen radikalisierte.

Einmal musste er einen Schulaufsatz mit dem Thema „In keiner anderen Stadt Österreichs sieht man so viele Fahrräder mit Einkaufskorb“ schreiben, aber weil er eben nicht so gut schreiben konnte, durfte er ein Bild dazu machen. Er hat es trotzdem vermasselt. „In keiner anderen Stadt Österreichs sieht man so viele Einkaufskörbe mit Fahrrad“ ist daraus geworden. Das Bild finde ich trotzdem gelungen!

Da meine Eltern um die demografischen Probleme unseres Gemeinwesens wussten, blieben sie gegenüber dem Familiennachzug weiterhin offen. Irgendwer musste ja einmal ihre Rente bezahlen. Allerdings konnten sie den Nachzüglern nicht mehr so viel Aufmerksamkeit widmen und überließen ihre Sozialisierung daher meinem Bruder und mir. Heute gelten sie in unserer Familie als diejenigen, welche die deutsche Sprache am besten beherrschen. Mein erster Bruder aber ist schließlich Raumplaner geworden und ich Kolumnenschreiber bei Dolomitenstadt.

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

Keine Postings

Ein Posting verfassen

Sie müssen angemeldet sein, um ein Posting zu verfassen.
Anmelden oder Registrieren