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Eines Tages in Indien: Die heilige Kuh und ich

Mein Tagebucheintrag vom 23. Dezember 2024 aus Tirupati, einer Großstadt in Andhra Pradesh.

Man kann keinen Reisebericht über Indien schreiben, ohne sie zu erwähnen. Die Unantastbare, wie sie im Altindischen genannt wird. Eine Kuh darf in Indien alles. Zu jeder Zeit. An jedem Ort. Sie wird gern gesehen. Im Großteil des Landes wird sie nicht gegessen. Sondern gefüttert. Verehrt.

Sie folgt mir manchmal auf Schritt und Tritt durch die Stadt, ist aber öfter mein Leittier. Komme ich, wie so oft, in die Verlegenheit, eine Straße überqueren zu müssen, habe ich zwei Möglichkeiten: Entweder, ich bitte einen Local Hero um Hilfe oder, noch besser, eine herumstreunende Kuh hat zufällig dieselbe Idee. Ich habe Glück.

Eine Kuh darf in Indien alles. Zu jeder Zeit. An jedem Ort.

Neben mir, zwischen Apotheke und Samosa-Fressbude, steht ein wunderschönes, grau-schwarzes Tier, massig und behäbig, scharf behörnt und liebevoll die langen Wimpern in meine Richtung klimpernd. Ein Blick in ihre kohlschwarzen Augenkugeln und ich weiß: Ist sie damit einverstanden, werde ich mich so dicht wie möglich an ihre Fersen heften. Blickkontakt haltend, wandere ich langsam um ihre enorme Flanke.

Sie schnaubt gutmütig und setzt sich in Bewegung. Ich darf hinter ihr hertrotten. Zögerlich noch, beflissen den Sicherheitsabstand zu ihren muskulösen Hinterhufen wahrend. Gemütlich steigend blickt sie sich dann und wann nach mir um, als wäre sie um mein Heil im hupenden und bremsenquietschenden Betondschungel besorgt. Zurecht, das weiß sie! Und streckt mir ihren Schweif entgegen. Vielleicht, damit ich ihr von den Arschbacken rücke. Oder sie hat bemerkt, dass ich fast in ein Schlagloch gefallen wäre.

Dankbar greife ich mir die fasrige Haltehilfe. Den Verkehrsteilnehmern muss klar sein: Wir zwei gehören zusammen. Ein bisschen Wärme dringt durch die ölig verfilzte Quaste in meine Hand und ich weiß: Ich stehe in ihrem Schutz. Nicht umsonst ist die Kuh im Hinduismus die nährende Tiermutter, das Symbol für unendliche Fürsorge und Lebenserhaltung. Einst kümmerte sie sich um den jungen Krishna wie um den eigenen Sohn, weil er sie verehrte wie die eigene Mutter, so heißt es.

Zurück auf der immer noch stark befahrenen Tiruchanoor-Straße in Tirupati ist mir, als wäre ein wenig ihres göttlichen Glanzes auf mich als ihre Anhängerin gerieselt. Das wilde Hupen stoppt. Der Verkehr verlangsamt sich. Die Gesichter hinter den Lenkrädern entspannen. Mir scheint, als spielte sich unser seltsamer Zug in Zeitlupe ab. Ein Seufzen geht durch die entrückte Masse an Tuk Tuks, Taxis, Lastwägen, Autos und Fahrrädern. Einen tiefen Atemzug lang scheint sich alles zu beruhigen, sich an den Kuhschritt angepasst zu bewegen. Als hätte jemand eine Dose Geduld über uns geschüttet.

Die Entschleunigung wird so lange währen, bis die Kuh, natürlich in ihrem Tempo, und ich, natürlich in ihrem Tempo, die Straße überquert haben. Wenn sie das möchte. Sie verlangsamt ihr ohnehin bereits sehr träges Spazieren. Ich wusle so nahe an ihr Hinterteil, dass ich ihre warme Ausdünstung auf meinen nackten Unterarmen spüre. Der Schweif baumelt, von mir nach wie vor fest umklammert, um ihre Beine. Höre die Uhr ticken: Ewig werden wir die Zeiger nicht aufhalten können. Ängstlich blicke ich mich um. Noch warten die Fahrer:innen. Noch stehen sie unter dem Bann der Kuh. Aber wie lange noch?

Die Peinlichkeit schießt mir heiß in die Wangen, obwohl ich keine Spur von Ungeduld in ihren Augen lesen kann. Trödelnde Kühe sind ihr täglich Brot. Egal ob am Arbeitsweg früh morgens, zur Mittagspause oder auf der Heimfahrt zu Feierabend. Hier hängt eben noch eine Ausländerin an der Kuh, die es sonst nicht geschafft hätte. Weil ich von meiner Kultur auf die Südindische geschlossen habe, ist mir die Scham so blitzartig ins Gesicht gestiegen.

Aber im Gegensatz zu mir sind die Inder:innen gekrönte Meister:innen im Warten. Es ist als völlig natürliche Gegebenheit neutral. Niemand würde sich ihretwegen schlechte Laune aufbürden. Aber darüber in einer anderen Geschichte mehr. Nun zurück zu meiner Kuh. Ich nenne sie schon „meine“ Kuh, nur weil sie mich ein Stück weit durch den undurchdringbaren Linksverkehr lotste. Diese, meine Kuh, ist speziell. Nicht nur speziell schön oder speziell hilfsbereit.

Inmitten der Straße trifft sie eine seltsame, für mich unmöglich nachvollziehbare Entscheidung. Der Verkehr um uns herum hat sich wieder in Gang gesetzt, die Autos fahren großzügige Schleifen, um der Kuh und mir auszuweichen und haben ihr Hupkonzert wieder aufgenommen. Genau hier, genau jetzt, steht die Kuh. Dreht ihr Haupt zu mir und entzieht mir mit gezieltem Schwung ihr haariges Seil. Übergibt ihre Masse der Schwerkraft und nickt mir mit ihrem breiten Schädel aufmunternd zu, als wolle sie sagen: “Du schaffst das jetzt alleine, du bist ein erwachsenes Menschenkind.”

Ich glaube ihr nicht, verbeuge mich aber, wie sich das gehört, mit zusammengefalteten Händen vor ihr und stammle hinter klappernden Zähnen ein letztes Namaste, bevor ich mich nach vorne wende und mit schweißnassen Händen meinem tosenden Schicksal ins Auge sehe. Warum die Kuh das tut? Ich meine, in der wenig goldenen Mitte der wüst befahrenen Straße, eine Rast einlegen. Warum sie mich als Anhang duldete, ist unbestreitbar auf ihre Heiligkeit zurückzuführen.

Aber das Ruhen inmitten meines ungeträumten Albtraums? Muss auch etwas mit ihrer Heiligkeit zu tun haben. Sie kennt ihren Wert. Und das hat nichts mit unserer menschlichen Überheblichkeit zu tun. Sie kennt ihren Wert, weil sie ihn nicht vergleichend schätzen muss. Weil sie in ihm lebt. In ihrer Welt gibt es kein: Ich darf diesem Taxifahrer den Vorrang nehmen, weil ich gut aussehe. Oder: Ich habe das Vorrecht, mich hinsetzen, weil ich älter bin. Oder: Ich kann mir das leisten, weil ich Geld habe.

In der Welt der Kuh, die zugleich die Welt an sich ist, weil die Kuh nie auf die Schnapsidee kam, sich von ihr abzuspalten, darf und muss die Kuh das tun, was sie gerade tun muss. Und wenn sie müde ist, und unter ihr befindet sich zufällig gerade brennender Asphalt, der von allen Seiten von quietschendem Gummi und hornigen Honks niedergebrüllt wird, dann muss sie sich eben genau dort ausruhen. Man könnte auch sagen: Im Gegensatz zu mir weiß die Kuh nicht, dass sie das nicht tun können sollte.

Da ist viel schnelle laute Bewegung um sie herum, aber sobald sie ihren kräftigen Körper in die Mitte dieses Trubels setzt, öffnen sich freie Flächen, ein sicherer Raum, durch den sie schreiten kann. Sie ist Mose, der die tosenden Wassermassen teilt. Ein Gedanke lässt mich bis heute nicht los. Würde ich es ihr einfach seelenruhig nachmachen, wäre ich erfolgreich wie sie? Ich werde es nicht erfahren, weil ich bis zuletzt nicht den Mut aufbrachte, es zu versuchen.

Der große Haken an der Sache, ein massiver Haken in Wirklichkeit, der Haken, der meinen Versuch aufspießt, hielt mich davon ab. Natürlich auch mein Riesenschiss. Aber der ist Teil dieses Hakens. Er ist sozusagen der stinkende Köder, der am Haken baumelt. Ich habe Angst. Weil ich weiß, dass ich in meiner unkonventionellen Ruhestätte höchst wahrscheinlich überfahren werden würde. Und dieses Wissen hält mich zurück.

Der Haken ist die menschliche Reflexionsfähigkeit, die es uns erlaubt, Situationen und deren mögliche Ausgänge gedanklich durchzuspielen. Und so sehr ich mich darum bemühen würde, der Kuh ebenbildlich, vorbildlich gechillt zu relaxen, ich könnte mich von diesem Haken nicht lösen. Ich kann die Kuh und ihre unendliche Ruhe im Sturm betrachten. Ich kann meiner Menschlichkeit frönen und sie bewundern und beneiden. Aber ich kann nicht wie sie sein. Ich kann nicht heilig wie sie sein.

Das wissen alle Inder:innen. Und ich jetzt auch. Nie habe ich in Indien Angst vor einer Kuh gehabt. Staunend beobachtete ich Kinder, die mit den Kälbern tobten und Muttertiere, die das aus nächster Nähe wohlwollend betrachteten. Die Kühe leben dort unter Millionen Menschen in ihren Millionen Vehikeln. Je nach Lust und Laune ernähren sie sich entweder von ihren Opfergaben oder ihren Abfällen. Sie nehmen sich alle Freiheiten. Weil sie sie haben. Von den Zweibeinern haben sie nichts zu befürchten und weil das umgekehrt genauso ist, sind sie deren gern gesehene Glücksboten.

Gibt es so etwas wie ein kollektives Bewusstsein der Tiere, frage ich mich? Ein speziesübergreifendes Wissen um menschliches Fehlverhalten ihnen gegenüber? Wenn ja, wäre das eine mögliche Erklärung für die überaus friedvolle Koexistenz von Mensch und Kuh in Indien, der ich es verdanke, jetzt alleine inmitten der lautesten, stinkendsten Straße Tirupati’s zu stehen und zu warten. Ein letztes Mal drehe ich mich um zum schönen Tier, es hat den Blick aufmerksam auf mich gerichtet und käut gemächlich wieder. 


Katharina Zanon liest aus ihrem Indien-Reisetagebuch am 4. April um 19.00 Uhr in der Stadtbücherei Lienz. Der Eintritt ist frei.
Katharina Zanon stammt aus Leisach, studierte in Mailand, Wien, Linz und der Guangzhou Academy of Fine Arts in China. Ihre Performances, Theaterstücke, Texte und Bildcollagen haben immer einen starken Hang zur Narration, zur Erzählung mit meist politischem Hintergrund.

Ein Posting

Bahner Bernd
vor 19 Stunden

Beeindruckend, wie Fr.Zanon mit ihrer wundersamen Geschichte die Atmosphäre Indiens einfängt, wo sich tiefe Spiritualität und Jahrtausende alte Tradition wie selbstverständlich mit hektischer Moderne und wissenschaftlicher Exzellenz vereinen. Ein Zauber , der einen immer wieder in dieses Land zieht. Manche Strassen in Indien muten wirklich unüberquerbar an . Auf eine heilige Kuh zu vertrauen ist da meist nicht so erfolgversprechend. Bei Fr.Zanon dürfte wohl die hilfreiche Hand des göttlichen Hirten Krishna mit im Spiel gewesen sein. Manchmal ist es wirklich besser mit Hilfe einer Gruppe Frauen und eines energischen Mannes dem Verkehrsfluß zu trotzen. So eine heilige Kuh kann einen aber auch ganz schön anrempeln, wenn man ihr in einer schmalen Gasse, zB. beim Fotografieren, im Wege steht. Ihr Huf auf den Vorfuß gesetzt ist dann erstaunlich gewichtig. Vielleicht sind die heiligen Kühe auch nicht mehr das, was sie einmal waren, seit sie sich augenscheinlich vorwiegend von Plastikmüll ernähren.

 
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