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„Wenn die Wohnungen leer werden, bleiben sie leer.“

Hilde Reiter lebt seit 70 Jahren in der Südtiroler Siedlung. Wir trafen sie zu Kaffee und Kuchen.

Lienz stellt sich seinen Gästen als Sonnenstadt und Modellstadt für schöneres Leben vor und wird als solche genauso gern gepriesen wie kritisiert und mit Vorschlägen zu seiner wirtschaftlichen, kulturellen und infrastrukturellen Entwicklung geradezu überhäuft. Wir haben nun beschlossen, uns in den einzelnen Stadtteilen von Lienz ein wenig umzuhören, doch anstatt immer nur Osttirols bekannten und lauten Stimmen unser Ohr zu schenken, wollen wir in dieser Reihe von „Stadtgesprächen“ mit Menschen sprechen, die schon lange hier leben oder ihren Stadtteil aus einer sehr bodenständigen Perspektive präsentieren.

Wir beginnen mit einer Siedlung, die nicht nur in Osttirol, sondern in ganz Österreich und auch Deutschland etwas ganz Besonderes ist: der Südtiroler Siedlung. Bekanntermaßen entstanden diese Siedlungen aufgrund eines zwischen Adolf Hitler und Benito Mussolini 1939 abgeschlossenen Abkommens, das deutsch- und ladinischsprachigen Südtirolern die Option bot, ins Deutsche Reich abzuwandern, falls sie nicht unter den Bedingungen des italienischen Faschismus leben wollten. 

Um die 75.000 Südtiroler, also ca. 85 Prozent der damaligen Südtiroler Bevölkerung, entschieden sich zwischen 1939 und 1942 für diese Variante. Für sie wurden allein in der Ostmark, wie Österreich ab dem 15. Oktober 1939 hieß, in 130 Gemeinden Siedlungen mit insgesamt ca. 13.500 Wohnungen gebaut. 23 Südtiroler Siedlungen entstanden allein in Tirol, eine davon auch in Lienz. 

Dort umfasst dieser geschichtsträchtige Stadtteil am Mühlanger insgesamt 196 Wohnungseinheiten in sechs Quergassen, die direkt an die Friedenssiedlung angrenzen. Wie ein markanter Knotenpunkt wirkt dabei die Familienkirche

Ursprünglich geplant waren diese Wohneinheiten für Grödner Holzschnitzer, die hier hauptsächlich Arm- und Beinprothesen für Kriegsversehrte herstellen sollten. Die großzügigen Gartenflächen der Siedlung sollten nicht nur der Selbstversorgung dienen, sondern auch ihr kommunikativer Treffpunkt sein. Nach Kriegsende blieben jedoch nicht alle Südtiroler dort. Einige kehrten wie die anderen insgesamt ca. 25.000 Optant:innen nach 1945 wieder nach Südtirol zurück und somit wurde auch die Südtiroler Siedlung in Lienz zu einer begehrten Wohngegend für andere Wohnungssuchende. 

Inzwischen sind diese Wohnungen natürlich mehr als nur in die Jahre gekommen und immer wieder gibt es Gespräche, Verhandlungen und selbst Architekturtage, um ihren Fortbestand zu besprechen. Die großen Pluspunkte der Südtiroler Siedlung sind neben den immer noch äußerst günstigen Mieten die großzügigen Grünflächen zwischen den Häusern und die damit einhergehende niedrige Bebauungsdichte in einer sehr zentrumsnahen Lage. Die größten Nachteile liegen in der notwendigen Gebäudesanierung. 

Bürgermeisterin Elisabeth Blanik sprach sich bis jetzt dafür aus, sehr behutsam mit der Südtiroler Siedlung umzugehen. Dies könnte beinhalten, die charakteristische Linienführung der einzelnen Häuserreihen und ihre großen Freiräume als Gärten zu behalten sowie die Häuser mit maximal einem weiteren Stockwerk zu versehen. Die Geschäftsführung der „Neuen Heimat“ hingegen plädiert klar für einen Neubau mit höherer Verdichtung, weil sich eine Sanierung wegen der schlechten Substanz nicht auszahle.  

Eine Siedlung wie diese ist natürlich nicht nur ein architektonisches Projekt, sondern primär ein Lebensraum von Menschen und daher verbunden mit vielen Familiengeschichten und -schicksalen, mit Erlebnissen und Erzählungen. 

Wir haben uns vor Kurzem mit Frau Hilde Reiter getroffen. Sie ist 93 Jahre alt und lebt als gebürtige Kärntnerin seit dem 5. Mai 1955 in Lienz. Fünf Kinder hat sie hier großgezogen und die meiste Zeit ihres Lebens hat sie in der Pattererstraße Nr. 1 in der Südtiroler Siedlung verbracht. Als wir sie dort besuchten, war der Tisch in der Küche bereits mit Kaffee und Kuchen gedeckt. Den Kuchen hatte sie eigens gebacken und Sohn Helmut bereitete noch Tee vor. Im Wohnzimmer hatte Hilde bereits ein Bett für ihre später am Nachmittag eintreffende Tochter aus München vorbereitet. 

 „Bei fünf Kindern ist immer etwas zu tun“, sagt sie dazu, vor allem, wenn das Highlight des Jahres vor der Tür steht. Einmal pro Jahr verbringt sie nämlich eine Urlaubswoche mit ihren fünf Kindern. Es ist ihr jährliches Geburtstagsgeschenk. Ihr Geburtstag ist zwar erst im September, „doch bis dahin kann noch viel passieren“, lacht sie. Vorsichtshalber haben sie deshalb die gemeinsame Woche auf den Februar vorverlegt. Wohin es dieses Mal geht, verrät sie uns lieber nicht. Es ist jedoch nicht allzu weit weg. Dafür erfahren wir beim Durchblättern ihrer Familienalben, dass ihr Enkelsohn Oliver Deutsch Teil der Dolomitenstadt-Community ist, als Veranstalter der Wohnzimmer-Sessions und als Koch der aktuellen Staffel unserer Kulinarikserie „Jetzt werd´s guat“.

In den Erzählungen von Hilde Reiter wird schnell klar, dass es ihr bei ihrer Wohnungssuche vor 70 Jahren in Lienz genauso ging wie vielen jungen Familien heute. Es standen für sie kaum leistbare Wohnungen zur Verfügung und fast keine Bleibe war groß genug für ein Paar mit mehreren Kindern. 

Die Wohnung, die sie schließlich durch einen glücklichen Zufall bekam, war eine der „großen“ in der Südtiroler Siedlung und sie schätzte sich überglücklich, dort einziehen zu können. Die Mietwohnung hat 62 Quadratmeter und musste über die Jahre immer wieder von Hilde selbst renoviert werden, doch die 93-Jährige liebt diese Wohnung und den dazu gehörenden großen Garten. „So wie die anderen auch, die hier noch leben – auch wenn es immer weniger werden, denn, wenn Wohnungen leer werden, bleiben sie jetzt auch leer.“


Der Dolomitenstadt Podcast ist ein akustisches Magazin, das die Redaktion von dolomitenstadt.at in Lienz zusammenstellt. Das Themenspektrum ist breit und beschränkt sich nicht nur auf die Region. Wir stellen spannende Projekte vor, widmen uns den Künsten und der Kunst des Lebens, schauen in Kochtöpfe und über den Tellerrand, greifen heiße Eisen an und diskutieren die Themen unserer Zeit mit Menschen, die etwas zu sagen haben. Zu finden auch auf Spotify und bei Apple Podcasts.

Silvia Ebner ist eine Erzählerin mit Leib und Seele. Ihr erstes Buch „Vom Sterben. Und Leben“ erschien im Sommer 2018 im Dolomitenstadt-Verlag und wurde gleich zum Bestseller. Die Sprachlehrerin arbeitet auch als Journalistin, Theaterautorin und Podcasterin.

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