Vorweg für alle Leser:innen, die unsere Reiseberichte schon länger verfolgen. Die heute veröffentlichte Story liegt zeitlich schon ein Jahr zurück und schließt nahtlos an meine letzte Soloetappe im Februar 2024 nach Valencia an. Es war ein aufregendes Jahr, weshalb ich erst jetzt wieder Zeit finde, alles aufzuschreiben und zu erzählen. Herzlichen Dank an alle, die Ferdi und mich als Leser:innen in Gedanken begleiten.
Marlen Schieder
Nach rund 500 Kilometern habe ich Anfang Februar mit Valencia mein erstes großes Ziel erreicht. Ich genieße ein paar feine Tage mit Freund:innen und tanke neue Energie. Wie es der Zufall so will, treffe ich hier gleich mehrere Radlerbekanntschaften aus Südamerika. Daan, ein Belgier der zurzeit in Valencia lebt, haben Ferdi und ich in Patagonien kennengelernt. Wir waren damals in entgegengesetzter Richtung unterwegs. Wie das so ist, wenn man sich im Nirgendwo über den Weg radelt, haben wir uns an den Straßenrand gesetzt, Kaffee gekocht und uns für eine halbe Stunde ausgetauscht.
Jetzt zögert er keine Sekunde und lädt mich zu sich nach Hause ein. Laura, eine Schweizer Radlerin, die zur selben Zeit in Südamerika unterwegs war, kenne ich nicht persönlich, wir waren aber bereits in Kontakt. Und der britische Dan, mit dem wir in Argentinien und Bolivien einige der anspruchsvollsten Touren geradelt sind, ist gemeinsam mit seiner Freundin in Spanien auf Kletterurlaub. Es fühlt sich richtig gut an, so viele bekannte Gesichter aus Südamerika wieder zu sehen.

Mit Laura, Daan und seiner Freundin Irene verbringe ich das Wochenende bei Freund:innen, die draußen am Land ein ausgestorbenes Dorf wiederbeleben. Ein schönes altes Steinhaus umgeben von Wäldern. Wir kochen zusammen, backen Bananenbrot am Holzofen, machen Musik und Yoga, tanzen und sitzen gemütlich vorm Feuer. Ich weiß, dass ich bald weiterziehen muss und bin etwas aufgewühlt. Bereits in Südamerika hat sich das Reisen für mich verändert. Dieses tägliche von A nach B radeln und jeden Tag woanders sein Zelt aufstellen verliert mit der Zeit seinen Reiz und wird anstrengend. Ich möchte länger an Orten bleiben, um zwischendrin etwas tiefer in das Leben und den Alltag der Einheimischen einzutauchen.

Freiwilligenarbeit ist eine tolle und kostengünstige Möglichkeit um für ein paar Wochen oder Monate zu verweilen und Land und Leute kennenzulernen. Ich habe das nach der Matura in Island ausprobiert und war begeistert. Schon vor meinem Aufbruch nach Spanien kam ich mit Kate in Kontakt. Die Britin lebt seit über dreißig Jahren auf einer Finca in Andalusien und sucht Freiwillige, die gegen Kost und Logis mithelfen. Genau jetzt, als ich mit meinen Freund:innen vorm Feuer sitze und über meine Lage und meinen weiteren Weg zu zweifeln beginne, schickt mir Kate eine Nachricht. Sie erkundigt sich, wo ich gerade bin und wann ich voraussichtlich ankomme. Also ist es entschieden, ab in den Süden.
Auf den ersten Kilometern muss ich mich wieder im Alleinsein üben. Ich folge einer schönen Bikepacking Route, die sich durch das südliche Hinterland Spaniens schlängelt. Stellenweise ist die Schotterpiste so steil, dass ich absteige und schiebe. Die größere Herausforderung der Strecke ist jedoch ihre Abgeschiedenheit. Ich muss mir bereits im Voraus Gedanken machen, wo ich Proviant einkaufen kann.
Schon im nächsten Weiler habe ich Pech und finde den auf der Karte eingezeichneten Laden einfach nicht. Von einem Einheimischen erfahre ich, dass die Tienda heute geschlossen hat. Auch er scheint nicht zu wissen, wann das Geschäft aufsperrt. Regelmäßige Öffnungszeiten kennt man hier nicht. Auf Anraten des Mannes besuche ich die einzige Bar im Ort. Der Wirt fragt, was ich denn gerne gekauft hätte. „Algo para comer“, irgendwas zu essen, antworte ich und werde mit einer Einkaufstasche voll Lebensmittel beschenkt. Mehr als genug, um über den Tag zu kommen. Die Spanier:innen sind überaus freundlich und hilfsbereit. Und sehr entspannt.
„Das Schwierigste am Alleinsein ist, dass ich die unmittelbaren Eindrücke nicht teilen kann. Wenn ich etwas Schönes am Wegesrand entdecke, seltsame Geräusche in der Nacht höre oder eine nette Begegnung mit Einheimischen habe, dann erlebe ich das nur für mich.“
Die nächsten Tage sind herausfordernd. Vor allem emotional. Eine spektakuläre Schlucht wird mir vom Wetter vermiest. Ich werde eingeregnet, mir ist kalt. Sturm raubt mir den Schlaf. Dann scheint wieder die Sonne, während ich auf einer wenig abwechslungsreichen ehemaligen Bahntrasse Kilometer um Kilometer abspule. Das ermüdet, die Hände schlafen ein, der Hintern tut weh. Schon nach wenigen Stunden des Pedalierens auf flachem Terrain sehne ich mich zurück in die Berge. Abends telefoniere ich oft mit meinen Eltern oder Freund:innen. Auch mit Ferdi, wenn es die Zeitverschiebung und Internetverbindung erlaubt. Das Schwierigste am Alleinsein ist, dass ich die unmittelbaren Eindrücke nicht teilen kann. Wenn ich etwas Schönes am Wegesrand entdecke, seltsame Geräusche in der Nacht höre oder eine nette Begegnung mit Einheimischen habe, dann erlebe ich das nur für mich.
Auf einsamen Schotterstraßen steigt mir der Duft von Rosmarin und Thymian in die Nase. Der Inbegriff von mediterranem Lebensgefühl. Es ist Mitte Februar und herrlich warm. In meiner Mittagspause am Dorfplatz gesellt sich ein älterer Herr zur mir auf die Bank und fängt an zu erzählen. Früher hat es hier immer sehr viel geschneit, ein Meter Schnee war keine Seltenheit. Heutzutage fallen höchstens ein paar Zentimeter. Viel zu oft haben uns Bauern, Hirten und Einheimische in allen Teilen der Welt berichtet, wie sich das Klima in ihrer Region ändert und sie die Auswirkungen hautnah spüren.








Meine Route führt mich durch einen der vielen Naturparks Spaniens. In diesen geschützten Gebieten ist wildes Campieren streng verboten. Dafür gibt es ein gut ausgebautes Netz an Refugios. Diese kleinen, unbewirtschafteten Schutzhütten bieten Wandersleuten und Radler:innen eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit. Jedes Refugio sieht anders aus, ist mal besser, mal schlechter ausgestattet und zumindest jetzt, vor Beginn der Wandersaison, recht sauber. Die Piste durch den Sierra de Cazorla, Segura y las Villas Park ist fast durchgehend gut fahrbar und es macht mir großen Spaß, auf den nicht asphaltierten Wegen zu radeln. Die vielen anspruchsvollen Touren in Südamerika haben sich bezahlt gemacht, technisch bin ich nach wie vor gut drauf.
Der Wind fegt über das Plateau und zwei Greifvögel schweben hoch über mir. Ich bin komplett allein hier oben auf fast 2000 Metern, wo die Freiheit grenzenlos wird. In diesen Tagen fühle ich mich besonders stark und merke, wieviel Kraft ich aus der Natur schöpfen kann. Ganz in meinem Element trete ich motiviert in die Pedale und erreiche am Ende des Tages eines der kleinen Refugios. Schnell duschen bevor es zu kalt wird. Ein halber Liter kühles Bergwasser aus meiner Trinkflasche genügen, um mich frisch zu fühlen. Die Spaghetti schmecken heute besonders gut und zur Krönung erlebe ich einen der schönsten Sonnenuntergänge aller Zeiten. Ich stehe einfach nur da und staune über die bezaubernden Farben, die am Himmel vorbeiziehen.

Es könnten fast Polarlichter sein, so schön und intensiv. Trotz dieser wunderbaren Erlebnisse schwingt ein mulmiges Gefühl mit. Immerhin habe ich hier oben keine Menschenseele gesehen und werde bis zum nächsten Dorf noch einen halben Tag unterwegs sein. Zum ersten Mal seit langem bin ich ganz ohne Kontakt zur Außenwelt. Keine anderen Menschen, kein Handyempfang. Beim Radeln habe ich manchmal daran gedacht, die Pisten lieber nicht mit Vollgas hinunter zu preschen, um der Gefahr eines Unfalles zu entgehen. Die Nächte sind gewöhnungsbedürftig. Wenn alles um mich herum stockdunkel und still wird, komme ich mir so klein vor. Ich bin nur Gästin, während die Tiere wirklich hier draußen leben. Jeden Abend hoffe ich, dass sie mich für eine Nacht dulden und in ihrem Zuhause aufnehmen.
Vogelgezwitscher weckt mich. Noch eine Stunde bis Sonnenaufgang. Ich mache mir Kaffee und Müsli, packe meine Sachen und schwinge mich aufs Fahrrad. Bei der Abfahrt taucht in der Ferne zwischen den Bäumen eine schneebedeckte Bergkette auf. Das kann nur die Sierra Nevada sein. Mein Ziel rückt näher. Zur Mittagspause im nächsten Ort sitze ich auf einer der violett gestrichenen Bänke. Diese sind mir in Spanien schon öfter aufgefallen und sollen auf geschlechtsspezifische Gewalt aufmerksam machen. Selbst in kleinen Dörfern wird mit violetten Stoppschildern oder ähnlichem ein öffentliches Zeichen gegen Gewalt gesetzt. Unaufgeregt, einfach und deutlich.
Desierto de Gorafe – durch die Halbwüste
Nach der Anstrengung der letzten Tage wäre eine längere Rast angebracht, doch eine vorhergesagte Schlechtwetterfront treibt mich weiter. Meine Route führt durch die Desierto de Gorafe, eine Halbwüste, die bei Regen zu einer unpassierbaren Gatschpartie wird. Ich muss es vor dem großen Guss schaffen. Also aufgesattelt und weiter. Ich tauche in eine Landschaft ein, die so anders, so spektakulär, so nicht europäisch wirkt. Ich könnte überall sein. In den USA, in der Mongolei, in Südamerika.
Die Piste ist recht abenteuerlich, teilweise kaum passierbar. Tiefe Furchen und Steinschläge zeugen von früheren Regenfällen. Irgendwann merke ich, dass ich von meiner geplanten Route abgekommen bin. Auf der Suche nach der verpassten Abzweigung treffe ich dann endlich die ersten anderen Reiseradler. Das deutsche Paar hat es sich bereits gemütlich gemacht und sein Zelt für die Nacht aufgebaut. Eigentlich wollte ich noch weiter, doch kurzentschlossen entscheide ich mich für die nette Gesellschaft und bleibe ebenfalls.






Während des gemeinsamen Abendessens, bei dem wir jede Menge Reisegeschichten austauschen, geht der fast volle Mond über den Badlands auf. Wasser und Wind haben diese spektakuläre Gesteinslandschaft um uns geformt. Viel schöner kann ein Zeltplatz kaum sein. Ich genieße es sehr, diesen Moment mit anderen teilen zu können. Da die zwei Deutschen leider in die entgegengesetzte Richtung unterwegs sind, geht es morgens jedoch wieder allein weiter.
Auch dieser Tag bringt beeindruckende Aussichten mit sich. Ich radle durch ein trockenes Flussbett. Neben mir ragen die steilen Wände des Canyons in die Höhe. Mitten in Spanien fühle ich mich in die Wadis der arabischen Halbinsel zurückversetzt. Ich bin fasziniert, bleibe oft stehen um Fotos zu machen. Doch der starke Wind kündigt bereits den Wetterumschwung an. So erklimme ich den Rand der Wüste und finde bei Einbruch der Dunkelheit einen kleinen Unterstand auf einem Rastplatz. Gerade groß genug für mein Zelt. Und schon fängt es an zu regnen.

Nass und kalt beginnt der nächste Morgen. Daher bin ich richtig froh, als ich nachmittags eine Warmshower-Unterkunft erreiche. Mein Gastgeber ist nicht zu Hause, dennoch habe ich in diesen verregneten Tagen Gesellschaft. Hans kommt aus Holland, spricht gut Deutsch und hat einen tollen Plan. Nächsten Monat geht er in Pension, möchte dann in der ganzen Welt unterwegs sein und als Volunteer bei verschiedensten Projekten mithelfen. Hier bei meinem Gastgeber kümmert er sich um den großen Gemüsegarten. Es ist ein Probelauf, um zu sehen, ob ihm die Freiwilligenarbeit überhaupt zusagt. Wir verstehen uns gut, er kennt viel von der Welt und hat jede Menge Geschichten zu erzählen. Wo wären wir in der Gesellschaft ohne Reisende, die ihren Blick über den Tellerrand hinaus werfen und uns von fernen und nahen, von bekannten und unbekannten Ländern, ihren Menschen und Kulturen berichten?
Die vom Regen verordnete Pause tut gut. Ich fülle seitenweise mein Tagebuch und habe endlich Zeit zu reflektieren. Klar bin ich müde, aber mein Geist ist erfüllt. Ich bin stärker als gedacht und oft selbst überrascht, was ich alles schaffen kann. Manchmal habe ich den Eindruck, je härter eine Tour, desto besser fühle ich mich danach. Diese Euphorie nach einem erklommenen Gipfel kenne ich von klein auf. Sie durchströmt mich mit großem Glücksgefühl.
Das Wetter bessert sich und ich starte meine vorerst letzte Etappe. Granada streife ich nur am Rande, die Stadt will ein anderes Mal besichtigt werden. Mein Ziel ist Órgiva, ein kleiner Ort am Fuße der Alpujarras, dem südlichen Teil der Sierra Nevada. Etwas außerhalb liegt die Finca mit dem schönen Namen "La Burra Verde", die grüne Eselin. Hier werde ich vorübergehend sesshaft.

Marlen & Ferdi – Mit dem Fahrrad durch die Welt: Alle Folgen
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