Mit einem Sack voll Fenistil-Packungen unter dem Arm begrüßt mich Clemens Lukasser. „Ich hab noch schnell einen Vorrat in der Apotheke geholt“, lacht er. In wenigen Tagen macht sich Clemens wieder auf den Weg in den peruanischen Dschungel. Dorthin, wo er seit 2021 die meiste Zeit über lebt und forscht. Der gebürtige Oberlienzer hat an der University of South Wales Wildtierbiologie studiert. Der 25-Jährige ist Forschungskoordinator bei der Organisation Hoja Nueva.
Clemens, wieso hast du dich dazu entschieden, in den Regenwald zu gehen?
2021 hätten wir mit der Uni einen Feldkurs in Südafrika gemacht, wegen Corona ist das aber nicht zustande gekommen. Ich kannte Hoja Nueva von Instagram, ich habe sie angeschrieben und gefragt, ob ich bei ihnen mein Praktikum machen kann. Dann bin ich zwei Monate zu ihrem Camp nach Peru. Mit Corona und Brexit war die Rückkehr an die Uni nach der Praktikumszeit aber schwierig, niemand hat sich ausgekannt, ob ich wieder ein Visum bekomme und mein Studium in Wales wieder aufnehmen kann. Die Zeit, in der ich auf Antworten von meiner Universität gewartet habe, habe ich in meiner Heimat Osttirol verbracht. Nach zwei Monaten habe ich mir dann gedacht, eigentlich könnte ich wieder in den Regenwald und die Zeit dort nutzen. Ich habe meine Kolleg:innen von Hoja Nueva gefragt, ob ich wieder zu ihnen kommen kann und so bin ich dann wieder nach Peru ins Camp.
Was macht die Organisation Hoja Nueva und wie kann man sich die Arbeit dort vorstellen?
Unsere Organisation besteht aus dem Rescue- und dem Forschungscenter. Dort betreiben wir Feldarbeit, das bedeutet, wir sammeln Daten über die Umgebung und die Tiere, die dort leben, mithilfe von Wildkameras. Zurzeit haben wir 50 Kameras in der Umgebung verteilt, manchmal sogar bis zu 100 Stück. Mit den Daten betreiben wir dann Forschungsarbeit. Wir müssen herausfinden, wie die Umgebung um unser Camp herum aussieht. Wir müssen die Vegetation einstufen und klassifizieren. Wir sammeln Vegetationsdaten, um herauszufinden, wie die Tiere ihren Lebensraum nutzen, welche Faktoren für sie wichtig sind. So erfährt man, welcher Lebensraum für die Tiere erhalten bleiben muss. Aber auch damit wir wissen, was auf unserem Land ist und wie beispielsweise der Weg zu einer Wildkamera aussieht.
Wir sammeln dann alle 100 Meter die gleichen Daten und Variablen, sodass alles miteinander vergleichbar ist. Mit den Daten erstellen wir dann Karten, die detaillierte Informationen über das Reservat beinhalten. Das ist auch langfristig gesehen praktisch, da man zukünftige Daten mit älteren vergleichen kann, man sieht dann, wie sich die Vegetation verändert hat. Im Regenwald ist das notwendig, da die Baumkronen so dicht sind, dass wenig auf Satellitenbildern erkennbar ist. Aus diesem Grund müssen wir unter den Bäumen alles zu Fuß abgehen und messen. Die Wege zwischen unseren Zentren, zum Fluss und zum anderen Ende des Reservats, müssen durchgehend instand gehalten werden, sodass alles erreichbar ist.
Und was fällt unter den Aufgabenbereich des Rescue Centers?
Im Rescue Center kümmern wir uns um Raubtiere, die wir zu einem späteren Zeitpunkt dann wieder auswildern. In ganz Peru sind wir das erste und einzige Rescue Center, das sich auf Raubtiere spezialisiert hat. Oft halten Menschen illegal Raubkatzen zu Hause. Bevor es uns gegeben hat, hatte die peruanische Regierung keinen Ort, an den sie konfiszierte Raubtiere hinschicken konnte. Es fehlte einfach an Ressourcen und Infrastruktur. Aus diesem Grund haben sie diese Tiere oft in Zoos gegeben. Im Gegensatz zu den Zoos sind wir auf das Auswildern der Tiere spezialisiert. Nur selten bleiben Tiere bei uns, wenn sie nicht mehr ausgewildert werden können.
Den Auswilderungsprozess dokumentiere ich fotografisch. Aber auch in der freien Wildbahn bin ich oft mit meiner Kamera unterwegs. Wir benötigen Content für unseren Social Media Account und für Fundraiser, die die Auswilderungen finanziell unterstützen. Das Bauen neuer Gehege gehört ebenso zu den Aufgaben des Rescue Centers. Diese sind in den Dschungel integriert und werden so natürlich wie möglich gestaltet.
Wir vom Forschungscenter helfen dann auch beim Tragen der Materialien, neulich haben wir insgesamt drei Tonnen Zaunmaterial in unser Camp gebracht, denn wir brauchen Platz für fünf Pumas, die jetzt zu uns kommen. Das alles haben wir ins Camp geschleppt, ohne maschinelle Hilfe. Auch die Essenslieferungen aus der Stadt müssen wir zweimal die Woche mit dem Boot und dann zu Fuß in das Camp bringen. Neben unseren Lebensmitteln schleppen wir auch das Futter für unsere Tiere den Hügel, auf dem unser Camp steht, hinauf. Das kann ziemlich anstrengend sein, wir lachen dann immer und sagen, heute steht „Jungle Gym“ auf dem Plan.
Du bist im Forschungscenter stationiert. Wie sieht deine Arbeit dort aus?
Ich verbringe viel Zeit hinter dem Computer mit dem Recherchieren für Forschungsarbeiten und dem Management von Daten, die wir mit unseren Kameras sammeln. Viel davon übernehmen auch Praktikant:innen, aber die Daten müssen immer doppelt geprüft werden, da schaue ich also auch nochmal drüber und checke, ob alles richtig eingetragen wurde. Für die Praktikant:innen halten wir auch Vorträge, in denen wir relevante Aspekte unserer Forschungen vermitteln. Denn nebenbei hat jeder von uns auch noch seine eigenen Projekte.
Im Moment arbeite ich zum Beispiel an einer Studie über Pumas, in der ich die Populationsdichte und Lebensraumnutzung ins Auge fasse. Ich habe mich auch mit der Ernährung von Ozelots und Kleinsäugetieren beschäftigt. In meinem Abschlussprojekt an der Universität habe ich die Auswirkung der Beutetierdichte auf die räumliche Ökologie von Margays und Ozelots untersucht. Auch das Entwickeln neuer Methoden und Projekte gehört zu unseren Aufgaben. Wir unterstützen Praktikant:innen bei der Umsetzung ihrer eigenen Forschungsprojekte, meistens sind das Abschlussarbeiten für die Universität.
Du hast diesen Herbst eine Forschungsarbeit mit publiziert. Was waren interessante Erkenntnisse, die ihr gefunden habt?
Unser Forschungspaper hat neue Erkenntnisse zur Population und Lebensweise der Margays gebracht. Interessanterweise gehört die Populationsdichte der Margays in unserem Untersuchungsgebiet zu den höchsten weltweit. Es gibt einen bekannten Zusammenhang, den sogenannten Ozelot-Effekt. Dieser besagt, dass eine ausgeprägte Ozelot-Population die Margay-Population unterdrücken kann. Wenn es viele Ozelots gibt, gibt es weniger Margays. In unserem Gebiet haben wir jedoch etwas Bemerkenswertes festgestellt: Trotz einer Ozelot-Dichte von 31 Individuen pro 100 Quadratkilometer finden wir eine außergewöhnlich hohe Margay-Dichte von 71 Individuen pro 100 Quadratkilometer.
Das deutet darauf hin, dass andere Faktoren eine Rolle spielen müssen. Möglicherweise liegt es an der Landschaft, die in unserem Gebiet optimale Bedingungen für Margays bietet. Während unserer Forschung haben wir viel über die Ökologie dieser Tiere gelernt und neue Methoden entwickelt und angewendet, die uns dabei geholfen haben, diese überraschenden Ergebnisse zu dokumentieren.
Zu welchem Thema möchtest du in Zukunft noch gerne forschen?
Besonders interessiert mich der Konflikt zwischen Menschen und Raubtieren. Überall auf der Welt leben Menschen und Raubtiere in denselben Lebensräumen und versuchen, irgendwie zu koexistieren. Für beide Seiten ist das oft nicht ideal. Dabei gibt es unzählige Studien, die zeigen, wie wichtig Raubtiere für das Ökosystem sind. Alles, was sich auf einer niedrigeren Stufe der Nahrungskette befindet, hängt von den Raubtieren ab, weil diese das Gleichgewicht und die Biodiversität aufrechterhalten.
Das wurde auch ausführlich in mehreren Ökosystemen untersucht, es gibt bereits Studien, die diesen Mechanismus beschreiben. Das ist aus vielen Gründen wichtig, der Mensch kann das niemals ersetzen. In einer Landschaft mit viel Zivilisation, wie es in unseren Regionen der Fall ist, stellt sich jedoch die Frage, inwiefern Raubtiere dort noch eine Rolle spielen können. Gleichzeitig benötigen wir Menschen viel Raum, darum wäre es spannend zu untersuchen, wie eine Koexistenz zwischen Menschen und Raubtieren funktionieren könnte.
Gibt es neben eurer Forschungstätigkeit einen typischen Tagesablauf in eurem Camp?
Nein! Jeder Tag bringt immer etwas anderes, aber prinzipiell haben wir schon einen Plan. Pro Woche sind zwei Tage für Computerarbeit und zwei Tage Feldarbeit vorgesehen. An weiteren zwei Tagen werden die Essenslieferungen ins Camp gebracht und am Sonntag haben wir frei. Dort machen wir das, worauf wir Lust haben. Neulich haben wir eine Liane entdeckt, die sich super zum Schaukeln eignet. Im Prinzip ist der Regenwald ein riesiger Spielplatz. Einziger Fixpunkt im Camp ist das tägliche Volleyballmatch um halb Fünf, für das lassen wir alles stehen und liegen. Bis es dunkel ist, stehen wir am Feld und spielen.
Was vermisst du am meisten während deinen Aufenthalten im Regenwald?
Am meisten vermisse ich das Essen und die Freiheit, alles tun zu können, was man will. Ich kann nicht einfach in ein Geschäft gehen und mir das kaufen, was ich will oder spontan mit Freunden in eine Bar gehen. Die Berge vermisse ich auch hie und da. Im Regenwald sieht man nur Bäume vor sich, man hat keine Aussichten. Nicht ständig von Moskitos gestochen zu werden wäre auch mal wieder schön. Dennoch bin ich gerne im Dschungel, manchmal sind mir die Probleme dort lieber als die zu Hause in unserer zivilisierten Welt.
Du kehrst nun zum fünften Mal ins Camp zurück. Was beeindruckt dich so an diesem Lebensraum?
Alles um uns herum lebt. Genau genommen lebt auch unsere Unterkunft, durch die ganzen Termiten im Holz. Die Vegetation um uns herum ist unglaublich faszinierend. Ich finde spannend, dass der Regenwald doch noch so unerforscht ist. Das Terrain ist schwer zu studieren, das Beobachten von Tieren gestaltet sich damit schwierig. Somit gibt es viele Tierarten, die noch nicht beschrieben wurden. Der Regenwald ist global relevant, das macht unsere Forschung so wichtig. Das Besondere daran ist auch die Koexistenz von fünf Raubkatzenarten: Pumas, Jaguare, Margays, Ozelots und Jaguarundis. Sie teilen sich alle denselben Lebensraum und Ressourcen, das ist unglaublich interessant.
Das klingt nach viel tierischem Leben. Welche besonderen Erlebnisse oder Begegnungen hattest du bisher?
Wo soll ich anfangen? Letztens mussten ein Kollege und ich eine Wildkamera checken, die war circa 15 Kilometer von unserem Camp entfernt. Die Wege, die dorthin führten, waren alle bereits wieder überwuchert, das Vorankommen war beschwerlich. Auf dem Weg dorthin sind wir drei Halsbandpekaris begegnet. Diese Schweineart ist im Gegensatz zu ihren Verwandten, den Weißbartpekaris normalerweise ungefährlich. Mein Kollege wollte ein Pekari-Männchen, das uns sehr nahegekommen ist, verscheuchen, daraufhin ist es auf uns losgegangen. Wir mussten uns schnell einen Baum suchen, auf dem wir uns in Sicherheit bringen konnten. Nachdem wir schließlich die Kamera kontrolliert hatten, querten wir einen Fluss, der genau in Richtung unseres Camps floss, also haben wir uns treiben lassen.
An einem Ufer machten wir dann eine Pause und fischten. Plötzlich kam ein Boot mit Touristen einer Lodge, die weiter flussaufwärts liegt, vorbei. Wir haben ihnen zugewunken. Sie schauten alle sehr verwirrt, als sie uns – zwei durchnässte Europäer – am Flussufer sitzen sahen. Als wir dann später weitertrieben, bemerkte mein Kollege einen Stein am Ufer und meinte, er sehe aus wie ein Kaiman, eine Unterart der Alligatoren. Plötzlich bewegte sich der vermeintliche Stein und schwamm direkt unter ihm hindurch.
Ein anderes Mal bin ich beinahe in einen Tapir hineingelaufen. Der Dschungel ist so dicht, dass man oft nur etwa fünf Meter weit sehen kann. Der Tapir war genauso erschrocken wie ich. Ein weiteres unvergessliches Erlebnis war die Begegnung mit einem Puma-Weibchen. Ich war auf dem Weg zum Rescue Center, da hat sie meinen Weg gekreuzt. Sie hat mich kurz angeblickt und ging dann weiter. Die Situation war total entspannt.
Wie beeinflussen solche Begegnungen und das Leben in der Natur deinen Alltag und deine persönliche Perspektive?
Man lebt monatelang im Nirgendwo, oft in Gebieten, die noch nie ein Mensch betreten hat. Alles im Ökosystem beeinflusst sich gegenseitig. Wenn ich im Flugzeug nach Hause sitze, sehe ich, wie wenig ursprüngliche Natur in Europa übrig ist. Früher war alles Wald, doch viele Systeme sind verschwunden. Ich finde, bei uns in Osttirol haben wir verhältnismäßig noch viel Natur.
Aber solch ein Leben abseits der Zivilisation verändert die Sichtweise. Man versteht, wie stark Mensch und Umwelt sich gegenseitig prägen. Theorie aus dem Studium ist eine Sache, es zu erleben eine andere. In der Zivilisation leben wir in geschlossenen Räumen, getrennt von der Natur. Wir denken oft in Gegensätzen: Mensch und Tier, Mensch und Umwelt. Doch letztlich sind wir auch nur Primaten, Teil der Natur, mit sozialen und kulturellen Ähnlichkeiten zu anderen Arten. Dieser Gedanke ist sehr präsent, wenn man vollständig in der Natur lebt.
Siehst du dich auch in Zukunft im peruanischen Dschungel, in der vollständigen Natur?
Ich sehe mich irgendwo in einer Hütte im Wald. Langfristig will ich nicht im Dschungel bleiben. Dort habe ich kein normales Leben, ich bin immer weg von der Gesellschaft. Ich will in der Biologie bleiben, aber irgendwo, wo ich etwas von beiden Welten haben kann. Wo ich in die Natur und in die Zivilisation gehen kann. Mich zieht es auch durchaus wieder in die Heimat. In Osttirol sehe ich eine optimale Verbindung von Natur und Stadt. Vor allem den Nationalpark Hohe Tauern und die Arbeit dort finde ich spannend. Ich kann mir vorstellen, auf heimischem Boden tätig zu sein.
3 Postings
Wäre nicht meine Welt!!! Aber es braucht auch in diesen Gegenden Menschen, die sich dort wohlfühlen!
Mega ! Würde mich über ein Podcast mit ihm sehr freuen , über seine Erlebnisse und Eindrücke .
in osttirol ist der regenwald zumindest in der sonnseite inzwischen ausgedünnt. was dem wald der käfer, ist den schafen der wolf.
Sie müssen angemeldet sein, um ein Posting zu verfassen.
Anmelden oder Registrieren