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Adventkultur in Lienz. Alles Banane? 

Ein Phänomenologe sieht die Dinge, wie sie ihm erscheinen, ein Realist sieht sie so, wie sie sind.

Dolomitenstadt-Leser kennen sich aus. Dolomitenstadt-Leser sind Connaisseure, die ihre Kennerschaft durch ein Abo und immer wieder einmal durch ein scharfsinniges Posting besiegeln. Dolomitenstadt, so hat man den Eindruck, ist eine Art Kunstmagazin und Lienz so eine Art Basel. All jenen, die das nicht so recht glauben, wird ab heute allabendlich in Gestalt eines Kunstwerkes wieder die Rute ins Fenster gestellt. Nicht E-, sondern Ad-ventkultur heißt das in Lienz. Alles Banane?

Die Musa x paradisiaca gelangte im Frühmittelalter von Südostasien nach Madagaskar. Ideengeschichtlich ist sie dort steckengeblieben, denn obwohl – oder vielleicht sogar, weil? – ihr Konsum in keinem Land auf der Welt höher ist als in Deutschland, konnotiert die Banane bei uns als das Hauptnahrungsmittel von Primaten, denen die Evolution den Rang von Lienzerinnen und Lienzern bis heute verwehrt. Das ist freilich Unfug, denn wie wir seit neuestem wissen, können Affen sich so eine Banane gar nicht leisten. Chinesen schon. Um den Dingen jedoch auf den Grund zu gehen, muss man zuerst sein Vorurteil suspendieren.

Tod auf der Alm, 2024. Installation von Rudolf Ingruber (in Privatbesitz). Foto: Ingruber

Ein Phänomenologe sieht die Dinge, wie sie ihm erscheinen, ein Realist sieht sie so, wie sie sind. Um beides auf einen Nenner zu bringen, versieht man die Dinge mit Namen, durch die man jedoch nur ausnahmsweise Eigenschaften der Dinge abbildet. Kinder tun das zum Beispiel mit Lauten, die das Ding von sich gibt: Muh, Mäh, Tütü und Dada. Letzteres ist französisch und bedeutet angeblich Holzpferd. Allerdings hat noch niemand ein Holzpferd Französisch sprechen gehört. Nichtsdestotrotz hat es dem Dadaismus, einer Kunstrichtung der 1920er Jahre, seinen Namen gegeben.

Es gibt Dinge, die einem bestimmten Zweck dienen. Der Philosoph Martin Heidegger nannte sie Zeug: das Spielzeug der Kinder, das Nähzeug der Frauen, das Werkzeug der Männer, von dem sich vermutlich das „Werk“ und das „Zeugen“ ableiten. Pinkelbecken gibt es inzwischen für alle Geschlechter. Auch sie sind nicht zum Anschauen da, weshalb ihre Anbringung auf Augenhöhe nicht angebracht ist.

Marcel Duchamp, Fountain, 1917. Foto: Alfred Stieglitz

Der Dadaist Marcel Duchamp hat vor knapp hundert Jahren so ein Pinkelbecken in New York ausgestellt. „Erst das Kunstwerk gab zu wissen, was das Schuhzeug in Wahrheit sei“, schrieb Heidegger angesichts von van Goghs gemaltem Paar Bauernschuhen. Ähnliches lässt sich auch von Duchamps Pinkelbecken behaupten.

„Es ist alles eine Frage der Perspektive“, wird der Phänomenologe einwenden, dem bewusst ist, dass er von den Dingen jeweils immer nur einen blickwinkelabhängigen Ausschnitt zu sehen bekommt und nie sicher sein kann, dass es noch andere Ausschnitte gibt. Das unterscheidet ihn vom Realisten, der nie an der Vollständigkeit seiner Wahrnehmung zweifelt, oder, anders ausgedrückt: Ein Pfarrer, der versus populum zelebriert, kann davon ausgehen, dass seine Schäfchen noch eine Rückenansicht besitzen. Ein Bauer, der sein Vieh in den Osttiroler Bergen aussetzt, kann das nicht.

Seit der Erfindung der Zentralperspektive war das zumindest den Künstlern bewusst. Dass ein Standbild nicht eine, sondern vierzig Ansichten aufweisen sollte, lautete die Forderung eines Bildhauers der Michelangelonachfolge. Giambolognas Frauenraubgruppe hat tatsächlich eine Vielzahl gleichwertiger Ansichten, die sich nahtlos ineinander vermitteln, als Aufforderung an den Betrachter, sich um die Figur herumzubewegen. Nur so lässt sich dieses Meisterwerk angemessen erleben, ja sogar selbst in eine schwindelerregende Drehung versetzen.

Raub einer Sabinerin von Giovanni da Bologna, genannt Giambologna. Foto: The Met, Public Domain

Bei einer Projektion auf einen flachen Schirm ist das anders. Dass ein Fotograf, der seinen starren Blick durch ein winziges Loch auf unbewegte Motive zwängt, nicht die Wirklichkeit, sondern, wenn das Auge nicht ständig durch Bewegung gereizt wird, schon nach kurzer Zeit gar nichts mehr sieht, war für den amerikanischen Philosophen Nelson Goodman der Beweis, dass die Zentralperspektive von der Realität und den Gesetzen ihrer Wahrnehmung absieht. Für den heutigen Rezipienten ist sie daher bestenfalls eine sechshundert Jahre an Gemälden eingeübte Gewohnheit.

Und so wundert es nicht, dass die Herstellung zweidimensionaler Abbilder seit der Renaissance auf die Fotografie hinauslief. Beim Fotografieren sollte sich weder der Fotograf noch der, die oder das Fotografierte bewegen. Wilhelm Leibniz definiert die Bewegung als eine Abfolge statischer Zustände, deren zeitliche Ausdehnung gegen Null, deren Zahl aber gegen unendlich tendiert.

La Nona Ora – Die neunte Stunde – ist eine Skulptur des italienischen Künstlers Maurizio Cattelan aus dem Jahr 1999, hier zu sehen im Guggenheim Museum 2011. Foto: Mark B. Schlemmer, Wikicommons 2.0

Damit es jetzt nicht zu akademisch wird, hält man das Motiv einfach fest. Nicht mit der Kamera, sondern indem man es in einen Zustand versetzt, aus dem es so schnell nicht wieder herauskommt: Es wird erschossen, ans Kreuz genagelt und um die neunte Stunde von einem Meteoriten erschlagen. „Nature morte“, tote Natur heißt das auf Französisch. „Stillleben“ sagt man bei uns.

Der Renaissancetheoretiker Leone Battista Alberti nannte das Bild ein „Fenster zur Welt“. Das Lienzer Rathaus hat 24 Fenster zur Welt. Oder 24 Fenster zum Lienzer Hauptplatz, was auf dasselbe hinausläuft. Das erste Fenster öffnet sich heute.

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

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4 Postings

c.haplin
vor 2 Tagen

Через 5 минут после того, как есть побочная записка, Доломитенштадт преследует волка!

 
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    r.ingruber
    vor 2 Tagen

    Russia today?

     
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Bahner Bernd
vor 2 Tagen

Bei den " Schuhen" Van Gogh´s handelt es sich um die Hervorbringung eines letzlich transzendentalen, kreativen Prozesses. Nach Heidegger tritt mit dem Kunstwerk ontologisch etwas Neues ins Dasein, es unterscheidet sich in seiner Seinsweise vom "Zeug" . Bei der "Fountain" von Duchamp soll ein bereits vorgefertigtes Objekt, aus seinem Alltagsbezug herausgelöst, als verfremdetes Phänomen den Betrachter in seiner Perzeption verrücken. Eigentlich mehr Programm und Manifest als b i l d e n d e Kunst liegt hier die Arbeit des Erfassens und der Transformation mehr beim Betrachter als beim Künstler. Wesentlich überzeugender ist für mich das Gemälde Duchamps " Akt, eine Treppe herabsteigend ", mit der futuristischen Überwindung von Perspektive und Statik. Ein Artikel von r.ingruber, der einmal mehr allen Respekt abverlangt.

 
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    r.ingruber
    vor 2 Tagen

    Absolut richtig erklärt (nicht nur der letzte Satz 😜). In gewisser Weise leistet das aus seinem "Alltagsbezug" herausgelöste Objekt aber dieselben Dienste wie das Kunstwerk. Und der "Akt, eine Treppe herabsteigend" ist sozusagen die bildliche Übertragung, die Visualisierung von Leibniz' Infinitesimalrechnung.

     
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