Trailrunningschuhe, eine leichte Wanderhose, ein Sportshirt und ein verschmitztes Grinsen im Gesicht: Erwin Assmann ist auf den ersten Blick zu erkennen, wenn man durch die Lienzer Altstadt schlendert. Bei der Gelassenheit, die der gebürtige Steirer ausstrahlt, ist es kaum zu glauben, dass er von einer 50-tägigen Weitwanderung zurückkommt, die alles andere als alltäglich ist: „Ich habe auf der Landkarte zwischen Lienz und Wien mit dem Lineal einen geraden Strich gezogen und mir zum Ziel gesetzt, auf meiner Wanderung so genau wie möglich auf dieser Linie zu bleiben“, schildert er schmunzelnd.
Ideen für die unterschiedlichsten Projekte gehen dem ehemaligen Unternehmer, der Osttirol vor sechs Jahren zu seiner Wahlheimat auserkoren hat, nicht aus. Die Inspiration, auf diesem unkonventionellen Weg die Bundeshauptstadt zu erreichen, kam ihm bereits vor vier Jahren: „Damals wanderte ich gemeinsam mit meinem Cousin auf einer geraden Linie von Lienz nach Maria Lankowitz, wo ich ursprünglich herkomme“, erzählt er.
Bei diesem Projekt ging es den beiden vordergründig darum, den kleinen Ort in der Steiermark in möglichst kurzer Zeit zu erreichen. „Diese Einstellung hat sich bei meiner Wanderung nach Wien vollständig gedreht. Es ging mir nicht darum, möglichst schnell zu sein, nicht einmal darum, Wien zu erreichen. Ich wollte jeden Schritt genießen, mir Zeit nehmen, die Landschaft zu erkunden und die Menschen kennenzulernen, die an den verschiedenen Orten in Österreich leben“, erzählt Erwin.
„Eigentlich wollte ich schon 2023 mit dem Projekt starten. Als ich im Frühjahr mit der Planung begann, war aber bald klar, dass sich das nicht so schnell umsetzen lassen würde“, lacht er. Er verschob die Wanderung auf 2024 und nutzte die zusätzliche Zeit, um sich akribisch auf das Projekt vorzubereiten: Er studierte Kartenmaterial, sprach mit Sportmediziner:innen und bergaffinen Menschen über die Umsetzung, tüftelte an der idealen Ernährung, unternahm Testtouren und versuchte, das Gewicht in seinem Rucksack zu reduzieren.
„Wenn du mehrere Tage unterwegs bist, ohne die Möglichkeit, irgendwo etwas einzukaufen, musst du für alles gerüstet sein, was du in Notfällen brauchen könntest“, erklärt er. Als er seinen Rucksack zum ersten Mal packte, zählte die Waage 32 Kilogramm. „Mir war klar, dass ich so viel Gepäck auf der Wanderung nicht tragen können würde“, lacht er. Er konstruierte sein eigenes Baumzelt, um vor wilden Tieren sicher zu sein, reduzierte die Kleidungsstücke und begann, um jedes Gramm zu kämpfen: „Ich bohrte Löcher in mein Brillenetui und in die Säge, schnitt Schuhbänder ab und Marken aus der Kleidung, kürzte meine Zahnbürste. Das klingt nach Kleinigkeiten, am Ende schaffte ich es aber, das Gewicht in meinem Rucksack auf 20 Kilogramm zu reduzieren.“
Ende Mai entschied er sich schließlich, sein Abenteuer zu starten. Vorab hatte der Schneefall im Frühjahr den Start der Wanderung noch um ein paar Wochen nach hinten verschoben. Die ersten Etappen über das Mölltal, die Ankogelgruppe und die Gegend rund um die Kölnbreinsperre bargen gleich die größten Herausforderungen, weil auf einer Seehöhe von über 2.400 Höhenmetern noch etwa drei Meter Schnee lagen. Das setzte einiges an Bergaffinität voraus. „Es war unmöglich, Seilversicherungen oder Markierungen zu finden“, schildert er rückblickend.
Mehr als nur einmal stieg er von einem Übergang ab, um dann von der anderen Seite noch einmal aufzusteigen: „Ich wollte mich möglichst lückenlos an meine geplante Route halten, legte dadurch aber natürlich viel mehr Höhenmeter und Kilometer zurück, als ich ursprünglich geplant hatte.“ Den Korridor rund um die Luftlinie, an den er sich halten wollte, definierte er mit zwei Kilometern: „Ich musste aber sehr oft Umwege machen, die sich nicht in dem Bereich befanden“, lacht Erwin.
331 Kilometer wären es von Lienz bis zum Stephansdom, wenn man tatsächlich auf einer geraden Linie wandern könnte: „Geplant hatte ich, etwa 500 bis 550 Kilometer zurückzulegen, schlussendlich waren es durch die vielen Umwege etwa 700 Kilometer und 30.000 Höhenmeter.“ Das habe das Abenteuer auch zeitlich verlängert: „50 Tage war ich insgesamt unterwegs, gewandert bin ich an 35 Tagen. Die restlichen verbrachte ich auf Grund von Regenfällen in meinem Zelt und im späteren Verlauf der Tour auf Hütten.“
Die Hochtourenausrüstung gab Erwin nach der Überquerung der hohen Pässe in Zedernhaus ab, was das Gewicht in seinem Rucksack deutlich reduzierte. Mit den Herausforderungen war es deshalb aber noch lange nicht vorbei: „Da der Winter gerade erst vorüber war, waren noch nicht alle Wanderwege, die auf Karten eingezeichnet sind, wieder instandgesetzt. Einige waren von Muren oder Lawinen weggerissen worden und ein Weiterkommen war unmöglich.“ Auch an Wasser zu kommen, wurde mit den immer niedriger werdenden Bergen schwieriger. Anfangs schmolz Erwin Schnee, um sich mit Trinkwasser zu versorgen, später musste er an manchen Tagen rund 500 bis 600 Höhenmeter absteigen, nur, um eine Quelle zu finden.
Die Lebensmittel trug er in seinem Rucksack mit. „Ich hab mir ausgerechnet, bei zehn Stunden Gehzeit und 1.700 Höhenmetern pro Tag rund 4.000 bis 5.000 Kalorien zu mir nehmen zu müssen. Das ist gar nicht so einfach.“ Neben Haferflocken und Nudeln setzte er für die Energieversorgung auf Kohlenhydratkonzentrate in Form von Gels, „die kannst du irgendwann aber nicht mehr anschauen“, schmunzelt er.
Für die längste Etappe ohne Möglichkeit, in einer Hütte einzukehren oder einkaufen zu gehen, spielte ihm ein glücklicher Zufall in die Hände: „Für einen Bereich bei Donnersbach und St. Nikolai hätte ich für fünf bis sechs Tage Lebensmittel mittragen müssen.“ Kurz davor traf er allerdings auf eine Gruppe ortsansässiger Wanderer, die ihm versprachen, ihn jeden Tag mit Essen zu versorgen – wo auch immer er gerade in den Bergen unterwegs sei.
Es seien gerade diese Begegnungen, die das Abenteuer so einzigartig machen, meint Erwin: „Mit meinem großen Rucksack war ich für jeden sofort als Weitwanderer identifizierbar und wirklich alle Menschen, die ich am Weg traf, versuchten, mir auf irgendeine Weise weiterzuhelfen.“
Ein Mal half ihm ein Ehepaar aus der Patsche, als sein Smartphone den Geist aufgegeben hatte: „Ich war gerade mitten in den Eisenerzer Alpen unterwegs, als ich mein Handy aus Versehen mit meiner Kleidung in einem Bach mitgewaschen habe. Somit war ich eineinhalb Wochen ohne Handy und damit ohne elektronische Tourenplanung und GPS-Empfang unterwegs“, lacht er rückblickend.
Das Kartenmaterial, das er bei sich trug, reichte nicht aus, um zum nächstgelegenen Ort zu navigieren. Ihm blieb nichts anderes übrig, als einem Bach talwärts zu folgen, in der Hoffnung, bald auf Zivilisation zu treffen. In Hinterwildalpen bot ihm dann ein Ehepaar einen Schlafplatz an, kurz bevor strömender Regen hereinbrach. „Sie konnten zwar keines ihrer alten Smartphones mehr aktivieren, versorgten mich aber mit Wanderkarten und am nächsten Tag marschierte ich ins nächste größere Dorf, um mir ein neues Smartphone zu besorgen.“
Gleichzeitig habe ihn die Zeit ohne Smartphone auch gelehrt, dass man aufmerksamer durch die Welt geht, wenn man nicht alle paar Minuten den GPS-Track kontrolliert und ein besseres Gefühl für Wetterbedingungen bekommt, wenn man sich nicht mehr auf den Wetterbericht verlassen kann: „Man muss sich dann wieder auf Dinge fokussieren, die ohne Handy funktionieren“, meint er.
Trotz der Herausforderungen, die das Bergsteigen und Wandern abseits der ausgetretenen Pfade birgt, genoss Erwin jeden Schritt seines Abenteuers: „Du kommst in Gegenden, die du sonst nicht sehen würdest, weil es da keine Wanderwege gibt, und du triffst niemanden, außer vielleicht Einheimische, die dort ihre Almhütten oder Jagdgebiete haben.“
Allein unterwegs zu sein, schenkte ihm die Freiheit, in jedem Augenblick selbst zu entscheiden, ob er noch weitergehen möchte oder nicht, Pausen einzulegen und auch einmal länger an einem Ort zu verweilen, an dem es ihm gut gefiel und kurze Tagestouren zu unternehmen. „Das einzige Negative, dass ich über die Tour sagen könnte, wäre, dass man die emotionalsten Momente nicht direkt mit einer anderen Person teilen kann. Sonnenauf- und -untergänge, eine besonders schöne Aussicht, friedlich grasendes Wild in deiner Nähe - selbst Fotos und Tagebucheinträge können nicht festhalten, was man auf so einer Wanderung erlebt.“
Landschaftlich eine Lieblingsregion zu definieren, sei fast unmöglich, „richtig wohl gefühlt habe ich mich in den Schadminger Tauern. Da sind die Berge nicht so hoch, man bewegt sich über der Waldgrenze, es ist bis zu den Bergkämmen hinauf grün und man hat eine wahnsinnig schöne Aussicht. Außerdem ist man weit abseits der Zivilisation unterwegs. Man kann tatsächlich auch in Österreich tagelang wandern, ohne dass man irgendjemanden trifft oder irgendetwas sieht, außer unberührter Natur.“
Der starke Kontrast zwischen dem lange allein in der Natur unterwegs sein und dem Trubel der Großstadt in Wien machte Erwins Ankunft in der Bundeshauptstadt weniger freudvoll als gedacht: „Ich habe mir vorgestellt, dass ich einfach nur glücklich und erleichtert sein würde, wenn ich ankomme, stattdessen überforderten mich die vielen Menschen und der Lärm am Stephansplatz“, lacht er. „Außerdem war ich etwas sentimental, dass mein Abenteuer damit abgeschlossen war. Ich überlegte sogar kurz, gleich wieder umzudrehen und nach Osttirol zurückzuwandern“, meint er mit einem Augenzwinkern.
Schlussendlich buchte er dann doch ein Ticket für den nächsten Railjet nach Lienz, allerdings schon mit Ideen für die nächste Wanderung im Kopf: „Ich möchte auf jeden Fall wieder einmal so ein Projekt machen, vielleicht sogar dieselbe Tour. Aber auch einmal rund um Österreich zu wandern wäre eine Idee.“
Dafür nimmt er sich gleich die Learnings aus diesem Abenteuer mit, besonders das Gewicht, das er in seinem Rucksack mit sich herumtrug, möchte er reduzieren: „Ich habe in einem Buch gelesen, dass man nur zum Leben braucht, was man tragen kann – auf Wanderungen, aber auch im übertragenen Sinne. Und das stimmt zu 100 Prozent.“
Auch sonst lehrte ihn seine Tour einiges: „Viele Menschen aus meinem Umfeld haben zu Beginn des Projektes gesagt, dass mich das Wandern verändern würde. Das ist nicht passiert, ich bin immer noch dieselbe Person. Ich merke aber, dass ich schöne Momente und besondere Begegnungen mit Menschen viel bewusster wahrnehme und mehr zu schätzen weiß.“
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