Liebe Leserinnen und Leser, halten Sie kurz inne und fragen Sie sich, ob Sie in ihrem Leben eher der Pilot sind, oder nur Passagier? Steuern Sie, oder werden Sie gesteuert? Sind Sie souverän oder doch eher nur der Ball in einem Spiel, dessen Richtung von ihrer Umgebung, ihrem Arbeitgeber, ihrem Freundeskreis, äußeren Einflüssen und Erwartungen gelenkt wird?
Es gibt in der Psychologie einen Begriff, der den Unterschied zwischen steuern und gesteuert werden gut beschreibt: Selbstwirksamkeit. Wenn man sich als selbstwirksam empfindet, dann spricht man von Selbstwirksamkeitserwartung. Sie ist ganz wesentlich auch in einem politischen Prozedere, das in den kommenden Wochen in Österreich abläuft: den Koalitionsverhandlungen. Es gibt nämlich nur eine Partei mit berechtigter und entsprechend stark ausgeprägter Selbstwirksamkeitserwartung, die ÖVP.
Wenn man sich auf dem Weg zur Regierungsbank eine Tür vorstellt, die noch versperrt ist und durch die alle künftigen Regierungsparteien gehen müssen, dann hat aktuell nur die ÖVP Grund zur festen Überzeugung, dass der passende Schlüssel in ihrer Tasche steckt.
Eine Koalition ohne ÖVP ist unmöglich, die eigene Wirksamkeit im politischen Prozess also evident und das hat massive Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein in den Verhandlungen. „Ohne uns geht nix.“ Das prägt seit mittlerweile Generationen das politische Selbstverständnis der ÖVP-Kader.
Mehr noch: Durch Jahrzehnte an der exekutiven Macht – lediglich Kreisky sorgte hier für ein rotes Intermezzo – hatte die ÖVP mehr als jede andere Partei Zeit und Gelegenheit, die informellen Machtstrukturen auf- und auszubauen, zu verknüpfen und abzusichern.
Das führt zu einer anderen Überzeugung, die fest im Bewusstsein der Schwarzen verankert ist: Nur wir können es richtig gut, das Regieren. Die ÖVP empfindet sich selbst als völlig logische, weil alternativlose politische Kommandozentrale. Opposition? Kann sie nicht. Sieht man in Wien, sieht man in Lienz. Politik wird in den schwarzen Machtzirkeln als technisches Handwerk verstanden, als politisches Management und nicht (mehr) als ideologisch motiviertes Gestalten. Die ÖVP ist längst eine taktische Gruppierung, weit mehr als eine Wertegemeinschaft. Deshalb fehlen ihr auch zunehmend der moralische Kompass und eine auf Idealen gegründete Vision.
Die ÖVP empfindet sich selbst als völlig logische, weil alternativlose politische Kommandozentrale. Opposition? Kann sie nicht.
Die FPÖ, mittlerweile größte Partei des Landes, ist meilenweit von dieser Machtfülle entfernt. Schauen wir vor die Haustüre. In Osttirol hat die ÖVP rund 40 Prozent, die FPÖ rund 30 Prozent der im Bezirk abgegebenen Stimmen bei der jüngsten Wahl erhalten. Eine durchaus vergleichbare Größenordnung. Die realpolitische Bedeutung der FPÖ in Osttirol ist jedoch gleich Null. Die Bezirksliste für den Nationalrat spricht Bände. Während uns auf der Suche nach Köpfen bei den Blauen nur Schwurbler Hauser einfällt, kann die ÖVP eine politische Fußballmannschaft auflaufen lassen, samt Minister und Ersatzbank. Die ÖVP schaltet und waltet im Bezirk ohne Gegner.
Auch wenn die blauen Führer, allen voran Möchtegern-Volkskanzler Herbert Kickl von der Macht träumen und ihrem Gefolge vermitteln, diese Macht sei bereits so gut wie in ihren Händen: Es bleibt ein Traum, dessen Verwirklichung die Freiheitlichen eben nicht in der Hand haben. Sie können nur mächtig werden durch die Gnade der ÖVP. Die bundesweit meisten Wählerstimmen und Nationalratssitze sind ein Faustpfand, das nicht zu unterschätzen ist. Kontrolle über die Bierzelte und simple Volkstümelei mag Stimmen und Euro-Millionen bringen. Reale, täglich einsetzbare und abrufbare Macht ist das – noch – nicht.
Die wahren Machtzentren sind über Jahrzehnte gewachsen, wie ein unsichtbares Pilzmyzel. Sie sind nicht offen sichtbar. Die Mächtigen sitzen in Bauern- und Wirtschaftskreisen, Banken und Versicherungen, in den Kammern, Beamtenburgen, Cartellverbänden, Stiftungen, Serviceclubs, Gemeindeverbänden und Adlerrunden. Sie sind, was sie immer waren: wertkonservativ, hoch effizient im Erhalt und Ausbau ihrer Pfründe, taktisch brillant im Spiel um die Macht und genau deshalb auch selbstwirksam. Und so schlägt auch diesmal wieder – obwohl die Wählerohrfeige noch nachhallt – die Stunde der ÖVP. Niemand sonst bestimmt, wie die nächste Regierung zusammengesetzt sein wird. Nur wenn die Schwarzen wollen, werden die Blauen mächtig.
Keine Postings
Sie müssen angemeldet sein, um ein Posting zu verfassen.
Anmelden oder Registrieren