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Der Kampf ums Anderssein ist ein uraltes Thema

Für die Wahrnehmung von Schönheit lassen sich auch heute keine allgemeinen Kriterien benennen.

„Es war einmal ein Leutenant, sein Auge sandte Blitze.“ So beginnt das Gedicht von Fritz Grünbaum über „Fein-Elschen“, die sich in je einen Vorzug von vier verschiedenen Männern verliebte. Sich für einen von ihnen entscheiden konnte sie nicht, und ehelicht so einen fünften, dessen Merkmale jenen der anderen diametral widersprechen: „Der hatte eine Glatze groß und Augen, schrecklich simpel, und Füße wie ein Elefant, das Hirn von einem Gimpel.“ Der gemeinsame Sohn aber erblüht wie durch ein Wunder zum Traumbild der Mutter:
Die Augen vom Herrn Leutenant,
Die Füße vom Herrn Adjutant,
Die Haare vom Herrn Intendant
Und Koberls Verstand.

Ganz anders beschreibt der englische Schriftsteller Mathew Gregory Lewis die Macht der physischen Schönheit, den eine fremde Besucherin der Kapuzinerkirche in Madrid auf den spanischen Edelmann Don Lorenzo ausübt: „Welch ein Seraphenkopf bot sich seiner Bewunderung dar! Doch er war eher betörend als schön, reizvoll nicht so sehr durch das Ebenmaß der Gesichtszüge als durch die Anmut und die Empfindsamkeit ihres Ausdrucks. Die verschiedenen Teile ihres Antlitzes waren für sich betrachtet alles andere als hübsch. Ihre Haut war wohl rein, aber nicht ganz ohne Sommersprossen; weder waren ihre Augen sehr groß noch ihre Wimpern besonders lang.

Aber zusammen betrachtet, war das Ganze anbetungswürdig. Im Auge, oder im Geist des Betrachters liegt eben die Schönheit, und was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall. Das wusste schon David Hume. Was aber begründet den Maßstab des individuellen Geschmacks? In Lewis Roman „Der Mönch“ ist es ohne Zweifel die Liebe, in der Don Lorenzo zu Antonia entbrennt und damit die moralische Schranke des sakralen Ambientes durchbricht.

Für die Wahrnehmung von Schönheit lassen sich keine allgemeinen Kriterien benennen. Computergestützte Experimente jedoch legen nahe, dass ein aus sehr vielen einzelnen Gesichtern zusammengesetztes Durchschnittsgesicht die attraktivste Wirkung ausübt. Allerdings kann man sich dieses schwer merken, weshalb eine abweichende Einzelheit die Anziehungskraft eines Antlitzes steigert. Die Augen des Herrn Leutenant entsprachen – ebenso wie die Füße des Herrn Adju- und die Haare des Herrn Intendant – wohl eher dem Durchschnitt. Sonst wäre Fein Elschens Sohn ja zu einem Sammelsurium der seltsamsten Aberrationen geraten.

„Ist ja auch der Mensch ein größeres Wunder als irgendeines, das durch ihn gewirkt wird.“ Petrus Gonsalvus und seine Frau Katherina, um 1575 porträtiert von Joris Hoefnagel. National Gallery of Art/Public Domain

Was aber, wenn eine einzige Abweichung alle übrigen Eigenschaften verschlingt? Pedro Gonsalvus litt an einer seltenen Form von Hypertrichose, nach seinem ganzfigurigen Bildnis in der Sammlung Erzherzog Ferdinand II: „Ambras-Syndrom“ genannt. Er war am ganzen Körper und über das ganze Gesicht von dicht wuchernden Haaren bedeckt. Von spanischen Eroberern auf Teneriffa gefangen wurde der 10-Jährige dem französischen König Heinrich II. von Frankreich geschenkt und später mit einer Hofdame seiner Gattin Catarina de Medici vermählt. Die skrupellose Regentin versprach sich durch die Nachkommenschaft weitere „Wolfs- oder Affenmenschen“, die das Ansehen des Herrscherhauses mehrten.

Mit Erfolg: Drei der insgesamt sieben Kinder hatten die Anomalie von ihrem Vater geerbt. Dass die Verbindung die erhofften Früchte trug, war aber weniger erstaunlich als die Tatsache, dass sie vierzig Jahre lang hielt. Es gibt ein Portrait des ungewöhnlichen Paares, ein am kaiserlichen Hof in Prag angefertigtes Aquarell, dessen Bildunterschrift die beiden als Geschöpfe Gottes ausweist: „Ist ja auch der Mensch ein größeres Wunder als irgendeines, das durch ihn gewirkt wird.“

Dieses Wunder heißt Liebe. Nicht Nächstenliebe, Mitgefühl oder gar Mitleid, sondern Eros, in dem Don Lorenzo und Mutter Teresa sich eins sind: „Wie groß war doch ihr Erstaunen! Das Thier war verschwunden, und sie sah nur einen Prinzen, schöner als die Liebe, zu ihren Füßen, welcher ihr dankete, daß sie seine Bezauberung geendiget hätte.“ (Jeanne-Marie Leprince de Beaumont, Die Schöne und das Biest).

Spätestens durch die skandalisierten Boxkämpfe von Imane Khelif bei den Olympischen Spielen wurden wir schmerzlich daran erinnert, dass der Kampf ums Anderssein unter der Gürtellinie kaum zu gewinnen ist. Noch bis morgen, Sonntag, werden im Schloss Ambras in Innsbruck unter dem Motto „Schauen erlaubt?“ neue Fragen an ein uraltes Thema gestellt.

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

Ein Posting

isnitwahr
vor 2 Monaten

Wie schön, danke. Leider zählt heute (angetrieben durch TV Sendungen, Werbung, TikTok, Facebook & Co.) überwiegend nur mehr das Äußere, sodass sich schon 18 Jährige zur Matura eine Schönheitsoperation wünschen, sich Frauen und auch immer mehr Männer meiner Generation ohne Botoxinjektionen nicht mehr auf die Straße getrauen. Serien wie "ein Leben für die Schönheit" tragen ihr übriges bei. Die Menschen verkennen, dass wirkliche Schönheit von Innen kommt - letztendlich zählt die Ausstrahlung und die positive Einstellung zum Leben. Was nützt mir mit 60 ein makelloses Gesicht, wenn ich Angst vor dem Altern habe und das auch ausstrahle. Übrigens, zum Ehepaar Gonsalvus gab es vor längerer Zeit eine Doku, die Beiden liebten sich tatsächlich innig.

 
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