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Anna Hehle vor ihren Fotografien „Handzeichen“. Bis Ende August sind sie in der Kunstwerkstatt ausgestellt. Foto: Elena Einhauer

Anna Hehle vor ihren Fotografien „Handzeichen“. Bis Ende August sind sie in der Kunstwerkstatt ausgestellt. Foto: Elena Einhauer

„Ich vertraue darauf, dass das Leben überrascht.“

Wir sprechen mit Anna Hehle über Authentizität, das Potenzial des Alltags und wieso Kunst auch Teilen bedeutet.

Mir gegenüber sitzt Anna Hehle, im dunkelgrauen Shirt, die Haare nach hinten gebunden. Sie lacht mir entgegen. Ihren Oberkörper sehe ich ein wenig weiter als bis zu den Schlüsselbeinen. Ob man vom Sich-Gegenübersitzen sprechen kann, weiß ich nicht so recht, wir treffen uns digital. Im Digitalen findet auch ein Großteil ihrer Arbeit statt. Auf den Plattformen Instagram und YouTube teilt Anna, die Kommunikationsdesign studiert, Alltägliches und zufällige, manchmal, wie es scheinen mag, kontextlose Eindrücke, die ihr Auge hinter der Linse entdeckt.

Doch zurück zum Anfang: Anna kommt aus Mieming in Tirol. Einen Großteil ihrer Schulzeit verbrachte sie hinter der Nähmaschine, sie absolvierte die Modeschule in Innsbruck. „Ich habe mich verstanden gefühlt. Ich hatte viel künstlerische Freiheit, vielleicht auch ein wenig zu viel für das Alter, in dem ich war“, blickt Anna zurück und erzählt mir schmunzelnd von ihrem Abschlussprojekt: einem Anzug aus Wettex. 

Das Sich-Ausleben, das „freie Denken“, sei schon immer wichtig für sie gewesen, meint Anna. Ihr Papa, der Koch ist, hat es ihr vorgelebt. „Durch ihn habe ich gesehen, dass man sich nicht nur durch Mode, sondern auch mit Lebensmitteln ausdrücken kann.“ Anna wollte nach der Oberstufe eine Lehre in einer Konditorei absolvieren, fand aber doch in den Vorlesungssaal und blieb vorerst bei Lebensmitteln, beim Studiengang Food & Design in St. Pölten.

In den drei Semestern, die sie an dieser Universität verbringt, erkennt Anna, dass sie weiter studieren und tiefer in das Thema Design eintauchen möchte. So kommt sie vom Mode- zum Lebensmittel- und schließlich zum Kommunikationsdesign und verlegt ihren Lebensmittelpunkt bis 2023 nach Wien. Dort hat es, „Klick“ gemacht sagt die Künstlerin, die mittlerweile in München lebt. „Ich habe eine Zeit lang extrem viel gepostet, viel gezeigt. Und da sind Leute immer wieder auf mich zugekommen und haben mir gesagt, ihre Sicht habe sich dadurch verändert.“ 

„Wer seine Sicht teilt, bringt auch einen Teil von sich nach außen. Man macht sich vulnerabel und angreifbar, man zeigt sein Inneres.“

Anna Hehle

Anna realisierte in Wien, dass sie mit ihren Arbeiten den Blick anderer öffnet, dass sie Menschen helfen kann, die Welt mit anderen Augen zu betrachten. „Wenn man sich fokussiert auf etwas, dann sieht man auf einmal überall die Farbe oder den Gegenstand beispielsweise.“ Ich frage sie, welches Potenzial Kunst für die Gesellschaft hat und bekomme als Antwort: „Das Teilen“. Anna führt aus: „Wer seine Sicht teilt, bringt auch einen Teil von sich nach außen. Man macht sich vulnerabel und angreifbar, man zeigt sein Inneres.“ Kunst transportiere oft Intimes. Damit vermittle man anderen: „Ihr könnt das auch. Ihr müsst euch nur trauen“. Die Entscheidung, etwas zu teilen und sich damit auch verletzlich zu machen, geschieht dabei bewusst, sagt Anna. 

In gewisser Weise setzt die junge Künstlerin damit einen Kontrapunkt zu den Plattformen, die sie selbst zum Publizieren nutzt und auf denen nahezu nichts mehr der Realität zu entsprechen scheint. Ich bitte sie, mir ihre Arbeiten zu beschreiben. „Ich arbeite recht unterschiedlich“, antwortet sie. „Das Medium ist jedoch oft die Fotografie, genauer gesagt die Alltagsfotografie und kürzlich habe ich auch angefangen zu filmen.“

Auf den Sozialen Netzwerken überschlagen sich Videos und Bilder, eines interessanter, ästhetischer, actionreicher als das andere. Rezipiert man Annas monatlich erscheinende Kurzvideos auf YouTube, dann merkt man: Es passiert auffallend wenig. „Ich arbeite viel mit dem Zufall. Ungeplante Sachen, die ich im Vorhinein nicht absehen kann. Man kann wenig erzwingen.“ Mir drängt sich die Frage auf: „Machst du das als Gegenbewegung zu den bald nicht mehr wegzudenkenden Reels und TikTok's?“. Anna schmunzelt, „Ja. Könnte man vielleicht so sagen“.

Die junge Künstlerin, die regelmäßig den Versuch unternimmt, Fortuna am Schopf zu packen, erzählt mir, sie arbeite überwiegend archivierend. „Oft weiß ich erst im Nachhinein, weshalb ich etwas gemacht habe“. Auch die ausgestellten Bilder in der Kunstwerkstatt waren ursprünglich unzusammenhängend und zufällig, nicht im selben Kontext entstanden. „Erst im Nachhinein habe ich die Ähnlichkeiten gesehen.“ Anna arbeitet viel in Serien. „Es nimmt mir ein wenig die Angst, wenn ich in Serien arbeite“. Wenn sie zeichnet, zum Beispiel. Der Fokus liegt dann nicht auf einem bestimmten Aspekt, das Große und Ganze zählt. Oft gefällt ihr auch nur ein kleines Detail einer Serie. 

Ich frage sie, ob man Kunst in Gut und Schlecht einteilen kann. „Mich inspiriert sehr, wenn die Leute ihr Ding machen. Ob mir das gefällt oder nicht, ist egal. Hauptsache, die Person macht ihr Ding.“ Oft käme die Inspiration von den falschen Dingen. Dieses Thema sei auch ein großer Punkt in ihrem jetzigen Kommunikationsdesign-Studium in München. „Es ist wichtig, dass die Ideen von einem selbst kommen. Natürlich kann man sich inspirieren lassen, die Frage ist nur, ob von fertigen Sachen oder von Prozessen, Ideenanstößen.“

Die junge Künstlerin berichtet, dass sie sich durch das Betrachten anderer Werke und Künstler:innen oft eingeschränkt fühle. Sie findet vor allem Inspiration im Draußen, in Alltagssituationen, der Natur oder aber auch bei Kindern. „Die wissen noch nicht so viel. Also dieses Nichtwissen hilft mir dann oft auch.“ Dennoch müsse man sich in gewisser Weise informieren, was auch „die anderen um einen herum so machen“. Dann kann es vorkommen, dass man im Nachhinein Ähnlichkeiten zwischen Werken verschiedener Künstler:innen sieht, ohne das Werk der jeweils anderen Person zuvor gesehen zu haben. „Dann sieht man die Ähnlichkeit und denkt sich, oha, das habe ich nicht gewusst. Das finde ich dann schön. Man merkt dann: Menschen denken auch gleich.“ Es sei unglaublich wichtig, niemanden zu kopieren, sagt die junge Künstlerin.

„Wenn ich jemanden erreichen kann, dann ist das okay für mich. Dann bin ich zufrieden“.

Anna Hehle

Authentizität ist ein Grundsatz von Annas Arbeit. „Man muss auch mal die traurige Wahrheit sehen.“ Auf Instagram hat Anna bald bemerkt, dass sie sich von anderen differenziert. Sie sehnt sich danach, mehr Echtes zu sehen. „Ich habe zum Beispiel auch gepostet, dass es bei der Aufnahmeprüfung für die Universität nicht gereicht hat. Ich will zeigen, dass das Leben nicht immer easy ist.“ Sie teilt viel Unscheinbares und macht sich oft über sich selbst lustig. Humor sei auch in der Kunst wichtig. Manche ihrer Arbeiten würden Betrachtende zum Schmunzeln oder gar zum Lachen bringen. „Das ist zwischen der doch manchmal ernsten Kunst wichtig.“

„Wenn ich jemanden erreichen kann, dann ist das okay für mich. Dann bin ich zufrieden. Es geht mir nicht um Likes, ich lege da nicht viel Wert drauf. Ich mache es ungestresst, nur für mich eigentlich.“ Dadurch hat sie keinen Druck, eine große Menschenmasse beeindrucken zu müssen. Denn Anna hat lange gebraucht, um ihre Werke nach außen zu tragen. „Das Anfangen ist das Schwierigste“. Die Künstlerin geht meistens ohne Konzept in ein Projekt und überrascht sich immer wieder selbst. „Es macht manchmal einfach Sinn“. 

„Ich muss mich in meiner Arbeit sehen. Ich muss erkennen, dass es meine ist.“ 

Anna Hehle

Nach all den Gesprächen über ihre Werke und Kunstformen frage ich, wer sie nun ist, diese Künstlerin Anna Hehle. Mein Gegenüber lacht. „Ich weiß gar nicht, ob man mich als Künstlerin oder überhaupt als so etwas bezeichnen kann. Ich glaube, es ist eine ständige Suche und ich weiß nicht, ob ich das jemals herausfinden werde. Ich glaube, das bleibt so und das ist auch gut so.“ Anna Hehle ist also eine Suchende. Man könne meinen, sie sucht in und mit ihrer Kunst.

Anna beschreibt sich als relativ unbeeinflusst. „Ich glaube, das ist ein Teil des Kapitals, das ich habe. Deshalb habe ich auch teilweise ein wenig Angst davor, mich zu sehr zu bilden.“ Anna weiß, wie sonderbar es klingt, wenn sie sagt, sie habe Angst vor dem „Zu-viel-wissen“. „Natürlich muss man über Sachen Bescheid wissen, aber ich glaube, diese unbeeinflusste Art, dieses ,Nicht-Wissen‘ kann auch unglaublich produktiv sein.“ Dennoch hat Anna Quellen der Anregung. Sie nennt den Fotografen und Künstler Wolfgang Tillmans. Ich erinnere mich an eine Ausstellung von Tillmans‘ Bildern und erkenne die Spontaneität und Ehrlichkeit hinter seinen und Annas Fotografien. „Ich habe auf jeden Fall Inspirationen, ich nehme mir die Inspiration auch aus der Musik zum Beispiel oder von Modemarken. Aus allen verschiedenen Richtungen.“ Dennoch macht Anna ihr eigenes Ding, sie kann gar nicht anders, erzählt sie mir. „Ich muss mich in meiner Arbeit sehen. Ich muss erkennen, dass es meine ist.“ 

Anna Hehle, Urteil

Man muss in der Kunst oftmals zeigen, wie viel Zeit man mit einem Werk verbracht hat, bemängelt Anna. Auch an ihrer Universität ist es gang und gäbe, dass man „zeigen muss, dass man viel Zeit damit verbracht hat, das jeweilige Werk zu erstellen“. Erst dann, wenn viel Zeit investiert wurde, sei eine Arbeit gut und habe einen Wert. Der Wertfaktor der Zeit in der Kunst interessiert Anna. „Oft sehe ich gerne Sachen, die ohne Angst gemacht worden sind“. Sie nennt mir als Beispiel eine Leinwand, auf der nur ein Strich zu sehen ist. „Man sieht das am Strich, ob da Angst dabei war. Man sieht vielleicht auch, dass es schnell gegangen ist“, so Anna. „Ich sehne mich nach jemandem, der das angstlos macht und rausbringt. Und das macht es ja nicht besser oder schlechter.“ Wir sprechen über moderne Kunst. „Mir geht es immer um den Kern. In meinem Studium geht es oft um das Aussehen. Sieht es gut aus? Vielleicht. Aber ist da was dahinter?“, fragt Anna sich. „Teilweise nichts. Dann denke ich, was ist besser? Aussehen oder Inhalt?“

Anna erzählt mir von der Zeit, die sie benötigt, um manche Arbeiten zusammen- und fertigzustellen und vom universitären Kunstbetrieb, der einem diese Zeit oft nicht gibt. Häufig würden Personen mit viel, auch technischer, Vorbildung von dieser Tatsache profitieren. „Ich finde man kann unterscheiden zwischen Sachen, die man lernen kann mit der Zeit und Sachen, die man nicht lernen kann. Die muss man haben“, denkt die junge Künstlerin, die sich wünscht, der Kunstbetrieb würde mehr Bewusstsein für den Schaffungsprozess haben als nur für den Output. „Ich finde oft wird nur auf das reduziert, was rauskommt. Es kann aber auch interessant sein, wie man zum Endprodukt gekommen ist.“ Vice versa findet sie auch „den Prozess selbst als Endprodukt“ interessant und von Belang. Diese Botschaft möchte sie auch mit ihrer Kunst vermitteln. 

Am Ende unseres Gesprächs angekommen, frage ich Anna, was sie der (Kunst-)Welt noch gerne mitteilen würde. Anna ist ein großer Fan der Überraschung. In ihrer Arbeit spielen Fortuna und Unvorhergesehenes immer wieder eine wesentliche Rolle: „Ich glaube, dass man darauf vertrauen kann, dass das Leben überrascht.“


Die Arbeiten von Anna Hehle und anderen jungen Künstler:innen sind noch bis zum 29. August in der Kunstwerkstatt Lienz, Mühlgasse 8a im Rahmen der Ausstellung „Nähen"zu sehen.

Lea-Sophie Franz studiert und arbeitet in Wien. Nach dem Abschluss in Germanistik studiert die Lienzerin derzeit Publizistik und Kommunikationswissenschaft. Sie schreibt für das Magazin Allerlei und für dolomitenstadt.at.

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Ein Posting

r.ingruber
vor 2 Monaten

Liebe Anna, die Gelegenheit wird kommen, da Fortuna d i c h beim Schopf packt. Kairos nannten das die Griechen.

 
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