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In der Reha: Zwischen Kurschatten und Kraftkammer

Seit meiner Entlassung aus dem BKH Lienz hatte sich manches verändert. Zum Beispiel mein Körper.

„Haben wir gut geschlafen?“ Das war schon das dritte Mal innerhalb von drei Tagen, dass sich Frau Stöhr exakt mir gegenüber zum Frühstück gesetzt hatte, bei absolut freier Platzwahl, räumlich und zwischen 6.30 und 8.40 auch zeitlich, bei nicht mehr als drei bis vier anderen Gästen im Saal. Dass sie aus meiner vorletzten Randnotiz rezitierte, konnte zweierlei bedeuten: Entweder, sie wollte mit ihrem Bildungsschatz renommieren, oder es geschah in der Hoffnung, dass ich sie nächstens einladen würde, sich selbst von der Qualität meines Schlafes zu überzeugen.

Seit meiner Entlassung aus dem BKH Lienz hatte sich manches verändert. Was ich mir dort vor drei Monaten aufgebaut hatte – die gesunde Ernährung, verlässliche Strukturen im Alltag und wenig Bewegung – war weg, und was ich so mühevoll abgebaut hatte – schlechte Gewohnheiten, unnötige Kilos –, war wieder da. Deshalb wurde mir auch eine Reha bewilligt. „Rehabilitation“, so hieß es in der Ausschreibung, „ist die Wiederherstellung des Gesundheitszustandes vor dem medizinischen Akutereignis“. Aha. Und ich hatte gedacht, die Wiederherstellung des Gesundheitszustandes hätte im Krankenhaus stattgefunden. Vielleicht aber war das Krankenhaus ja das Akutereignis gewesen.

Zu Hause hatte man mir den Kurschatten schon an die Wand gemalt, aber mit keiner Silbe des Profils meiner neuen Bekanntschaft Erwähnung getan. Als sie sich mit ihrem Nachnamen vorstellte, war es das erste und einzige Mal, wo bei ihr Wort und Tat harmonierten: „Stööö(h)r.“ Den stummen Laut „h“ unterschlug sie, denn der hätte ihr wahres Wesen verhöhnt. Laut war sie, aber nicht stumm, und sie hatte die Angewohnheit, ihre lange, dünne Nase in alles und jedes zu stecken. Buchstäblich, versteht sich. Beim nächsten Ma(h)l würde ich ihr eiskalt den Rücken zukehren und darauf achten, dass sie bei der Gelegenheit wenigstens ihre Zunge im Zaum hält.

Die Bilder hinter mir stammen von einem renommierten Künstler und thematisieren die Träume von Frau Stöhr, die beim Reha-Frühstück partout an meinem Tisch Platz nehmen musste. Foto: privat

Das Mittagessen war rundum gesund und man hat gar nicht bemerkt, dass es obendrein auch geschmeckt hat. Nur das Grünzeug habe ich hin und wieder im wahrsten Sinne umschifft. Ich schob dann den Teller zu meinem Nachbarn hinüber, der war die reinste Spinatverbrennungsanlage. „Wohl zur See gefahren, mien Jung?“ hatte ich mich bei unserem ersten Zusammentreffen erkundigt, doch er schien mich erst zu verstehen, als ich mit Nachdruck auf die Tätowierung auf seinem Unterarm wies: Nein, seine Heimat sei nicht das Meer und seine Freunde auch nicht die Sterne. Seine Heimat sei Kufstein und Anker sein Name. Ich könne aber Paul zu ihm sagen.

Selbstverständlich war Paul Anker nicht sein richtiger Name, in Wirklichkeit hieß er Hans Castorp, aber das darf ich aus Datenschutzgründen hier nicht verraten. Er war schon das siebente Jahr hier auf Reha, und als ich ihn zum ersten Mal in der Kraftkammer erlebte, wusste ich auch, warum. Seine Oberarme waren gewaltig, und wenn er in seinem Tanktop durch die Manege stolzierte, waren verstauchte weibliche Halswirbel noch die glimpflichste Konsequenz. Dafür hatten seine Unterschenkel allerhand Luft nach oben. Wie zwei Streichhölzer, die versuchten, aus den Bermudashorts, in die sie sich aus irgendwelchen absurden Motiven verirrt hatten, zu fliehen.

Während Hans Castorp eisern seine Hanteln verteidigte, hielt ich in der Beinpresse die Stellung. Bis ich das XXL T-Shirt, das ich mir in der Hoffnung zugelegt hatte, nach meiner Reha mit einem gerade noch hinein passenden Bizeps Eindruck zu schinden, verkehrt herum, d.h. mit den Oberschenkeln Slim Fit durch die Ärmel, anziehen konnte. Schön langsam kamen mir Zweifel, ob ich nach Erreichung des Reha-Ziels im wirklichen Leben überhaupt noch Fuß zu fassen in der Lage sein würde. Als Reklamemodel für Inkontinenzprodukte vielleicht.

Am ersten Tag hat jeder Patient die gleiche Reha-Tasche ausgehändigt bekommen, nur die Trageweise war je nach Geschlecht und Alter verschieden. Man konnte sie lässig über die Schulter oder wie einen Koffer seitlich am Körper benutzen. Die jungen Männer banden sie sich vor den Bauch. Das wäre bei mir schon aus anatomischen Gründen unmöglich gewesen. „Legschdu obendrauf“, spottete einer von diesen Rotzlöffeln, die nicht einmal bei den Streifen auf ihren Trainingsanzügen bis drei zählen konnten. Ja, jetzt scheint euch die Welt zu gehören, aber auch eure Lebensuhr tickt. TikTok, TikTok... Und den ganzen Tag Schattenboxen. Vielleicht hätte ich sie auf Frau Stöhr ansetzen sollen.

Am Abend versammelten sich die besonders Ambitionierten zur rhythmischen Gymnastik mit den beiden Ernährungsberatern aus Hessen, die sich, passend zum Motto der Veranstaltung als „Wildecker Herzbuben“ vorgestellt hatten. Die von der kardiologischen Abteilung durften ihre Verrenkungen im Sitzen ausführen, die Fersen fest auf dem Boden, dabei im Takt die Füße anwinkeln und mit den Zehenspitzen die Schienbeine streicheln. „Herzilein, du musst nicht traurig sein...“ Ich war einigermaßen verblüfft, wie leicht die Übung gelang, viel leichter als in der Therapie. Nur die Zehennägel wollte ich mir fürs nächste Mal besser schneiden. Bis ich schließlich bemerkte, dass es gar nicht meine Zehennägel waren, die meinen Schienbeinen mit jeder Bewegung eine neue Schnittwunde zufügten. Wieder einmal war mein Schatten schneller gewesen als ich.

„Mein Körper wird schwer, gaaanz schweeer.“ So wird das nichts mit dem Abnehmen. Schon in der vorausgehenden Biofeedback-Sitzung hatte ich beschlossen, die Übung einem höheren Zweck zuzuführen. „Seine Beine werden waaarm, strömend waaarm“, variierte ich, auf der Couch liegend, die autogenen Befehle, während ich mir Hans Castorp in der Beinpresse ausmalte. Die Zündtemperatur von Streichhölzern liegt bei exakt 180 Grad, also in jenem Moment, wo er die Beine ganz durchstrecken würde. Als dann tatsächlich Rauch aus dem Fitnessraum drang und der Feueralarm heulte, hatte sich die Kraft meines Geistes gegen die seines Körpers endgültig durchgesetzt.

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

2 Postings

Bahner Bernd
vor 5 Monaten

Ich sag´s ja immer : Franz Schuh könnte neidisch werden.

 
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jacqueline
vor 5 Monaten

😅ein Genuss deine Randnotizen

 
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