Nach zwölf Stunden Busfahrt erreichen wir Anfang August Boliviens Verwaltungshauptstadt La Paz. Sofort bei Ankunft sehen wir die Gondeln der berühmten Seilbahn über die Stadt schweben. Wir treffen Steve zum Frühstück, tauschen Neuigkeiten aus und erkunden La Paz mit der Seilbahn von oben. Mit der von der österreichischen Firma Doppelmayr erbauten Teleferico erleben wir eine Stadtrundfahrt ganz besonderer Art. Über dicht besiedeltes Gebiet schweben wir fast geräuschlos hinauf nach El Alto, das früher zu La Paz gehörte, inzwischen eigenständig ist und auf 4100 Metern ein paar hundert Höhenmeter über La Paz liegt.
In El Alto ist heute Markttag. Hier gibt es nichts, was es nicht gibt. Haufenweise gebrauchte Autoteile, diverseste Gummiteile in jeglichen Größen und Formen, alte Radios, Fahrräder und natürlich jede Menge Essbares. Der Markt erstreckt sich kilometerweit über mehrere Straßen und Seilbahnstationen. Es dauert eine Weile bis die blauen Planendächer der Marktstände unter uns verschwinden und wir die Ausläufer der Stadt erreichen.
Beim Schlendern durch die steilen engen Gassen von La Paz kommen wir schnell außer Atem. Die Stadt liegt auf gut 3600 Metern. Wie so oft in Südamerika befinden sich alle Geschäfte einer Art am gleichen Ort. So gibt es die Straße der Elektrohändler, die der Installateure, die der Frisöre, die der Autowerkstätten, die der Schuster und nicht zu vergessen die Straße der Hexenmärkte, wo Wundermittel und Opfergaben feilgeboten werden. Im Vorbeigehen fällt uns dabei allerlei Kurioses ins Auge und viele Dinge sind uns gänzlich unbekannt.
Oben an den Markisen der kleinen Stände hängen getrocknete Föten von Lamas in verschiedenen Größen. Diese spielen eine wichtige Rolle bei Opferritualen und werden traditionell beim Neubau eines Gebäudes im Fundament vergraben, um das Haus zu schützen und für eine schnelle Fertigstellung zu sorgen. Glück bringen nur auf natürlichem Wege gestorbene Lamaföten. In Anbetracht der Menge, die allein in dieser Gasse verkauft werden, sind wir etwas skeptisch, ob dies in der Realität auch wirklich der Fall ist. Opfergaben spielen immer noch eine große Rolle im Leben der Bolivianer:innen, die Pachamama will bei Laune gehalten werden.
Seit Sucre sind wir nicht mehr geradelt und haben insgesamt drei Wochen Pause gemacht. Kein leichter Start, als wir nun von La Paz stetig aufwärts bis hinauf auf 4600 Meter strampeln müssen. Nicht nur die Höhenluft, auch die vielen Abgase der Autos und Busse rauben uns den Atem. Kurz vor dem Pass beginnt es zu schneien und so ziehen wir uns schnell ein paar Lagen mehr über, bevor es abwärts geht. Vor uns liegt eine unglaubliche Abfahrt. Von 4600 auf 1200 Meter hinunter. Von schneebedeckten Bergen in den heißen Dschungel.
Die berühmt-berüchtigte Death Road rollen wir im Konvoi mit sechs anderen Radreisenden hinunter. Diese enge Straße durch die Nebelwälder Boliviens war früher die Hauptstraße nach La Paz. Aufgrund des schonungslosen Fahrstils der Bolivianer:innen sind hunderte Fahrzeuge die steilen, unzugänglichen Abgründe hinuntergestürzt, völlig überbelegte Reisebusse inklusive. Mittlerweile gibt es eine neue, breitere Straße und die Death Road wird nur mehr von Anrainer:innen und Radler:innen benutzt.
Wir sind nicht die einzigen. Unzählige geführte Touristengruppen stürzen sich auf dem Rad ins Abenteuer, um nachher mit einem T-Shirt „I survived the Death Road" herumzulaufen. Gefährlich ist die Straße für uns nicht, es sei denn man fährt viel zu schnell und unbedacht um eine Kurve.
Alles ist dicht bewachsen, grün und feucht. An manchen Stellen rinnen kleine Wasserfälle von oben herab und sorgen für Erfrischung.
Nach einer Nacht unten in den Yungas, dem Dschungel, radeln wir tags darauf in der Mittagshitze hinauf nach Coroico und finden einen Campingplatz mit paradiesischer Aussicht.
Die Nebelschwaden hängen in den Gebirgsketten vor uns. Neben unserem Zelt wachsen Bananen, Kaffee- und Kakaobohnen, Mandarinen, Avocados und vieles mehr. Erstaunlich, wie schnell sich Klima und Vegetation so sehr verändern können. Vögel zwitschern um uns herum. Wärme und Tiefenluft tun uns gut. Wir können uns kaum losreißen. Das einzig Unangenehme sind die vielen Sandfliegen, die mit ihren kleinen juckenden Stichen für Unmut sorgen.
Um uns die vielen Höhenmeter zurück nach La Paz zu ersparen, nehmen wir eines der Collectivos, ein Sammeltaxi, in dem dicht gedrängt 18 Menschen auf 15 Sitzen Platz finden. Die Räder werden am Dach festgezurrt und los geht die kurvige Fahrt. Wir kauen fleißig Kokablätter und hoffen, dadurch den schnellen Aufstieg in die große Höhe gut zu vertragen. Nach einer weiteren Nacht in La Paz nehmen wir den ersten Bus frühmorgens zum nahegelegenen Titicacasee. Der viele Verkehr auf dem Weg aus der Stadt bestätigt unsere Entscheidung, diese Strecke nicht mit dem Fahrrad zurückzulegen.
Copacabana liegt am südlichen Ufer des Titicacasees und ist voller Tourist:innen. Diesen Besuch hätten wir uns sparen können. Aber manche Orte haben allein durch die Bekanntheit ihres Namens einen gewissen Reiz. So einer war für mich der Titicacasee. Man kennt den Namen, weiß aber nicht viel darüber. Nach einer kurzen Recherche erfahre ich, dass es der größte Süßwassersee Südamerikas ist, beinahe so groß wie Korsika. Der östliche Teil gehört zu Bolivien, der westliche zu Peru.
Spannend sind die vielen Legenden und Mythen, die sich um den See ranken. Hier soll der Sonnengott Inti seine Kinder, die ersten Inka, aus den Tiefen des Sees emporgeholt haben. Die Isla del Sol, die kleine von Tourist:innen überlaufene Sonneninsel unweit von Copacabana gilt als Geburtsort des Inkavolkes. Dies ist allerdings nur eine der vielen Entstehungsgeschichten. Da es keinerlei Schriften der Inka selbst gibt, werden wir auf viele Fragen zu ihrer Geschichte nie eine genaue Antwort finden.
Von einem Aussichtshügel aus beobachten wir das Zurückkehren der vielen Ausflugsboote. Wenn abends die Wellen gegen das Ufer schlagen und ich den Blick hinaus auf den großen See werfe, fühlt es sich beinahe an wie am Meer. Ich kann verstehen, warum das für viele Menschen ein Sehnsuchtsort ist. Das Rauschen der Wellen übt immer eine sehr beruhigende Wirkung auf mich aus, es lässt mich die Umwelt für einen Moment vergessen und trägt alles Schwierige von mir fort. Wir schauen der Sonne beim Untergehen zu und schmieden neue Reisepläne.
So viele Pläne haben wir in den letzten Tagen gemacht und bald darauf wieder verworfen. Wir merken beide, dass wir eine Auszeit brauchen und es so nicht mehr weitergehen kann. Zu viele Diskussionen und Streitigkeiten. Wir können das Schöne nicht mehr genießen und wissen nicht, in welcher Form wir diese Reise fortsetzen können. Schließlich entscheiden wir uns wieder für einen Bus, der uns ein ganzes Stück nach Norden und in ein neues Land bringt.
Peru ist unser viertes Land in Südamerika und Cusco Ziel unserer Busfahrt. Leider war der Buschauffeur dieses Mal sehr uneinsichtig und gar nicht begeistert von unseren Fahrrädern im Gepäckraum. Ohne Rücksicht quetscht er die Räder irgendwie zwischen die Koffer und Taschen der anderen Reisenden. Wie bei jeder Busfahrt hoffen wir einfach nur, dass alles heil ankommt. Diesmal haben wir leider nicht so viel Glück. Mein rechter Bremshebel ist durch den sorglosen Umgang des Fahrers total verbogen und nicht mehr zu gebrauchen. Ferdi findet am Markt einen günstigen vorübergehenden Ersatz, während ein netter Mechaniker meinen kaputten Bremshebel perfekt schweißt.
Cusco war einst die Hauptstadt der Inka und bietet unzählige Sehenswürdigkeiten. Machu Picchu ist weltweit bekannt und dementsprechend gut besucht oder wohl eher überlaufen. Obwohl mich die alten Mauern und die Lebensweise der Inka sehr interessieren, entscheide ich mich auch gegen einen Besuch der Inkastätte. Ferdi wollte sich den Touristenrummel sowieso nie antun. Doch auch wenn wir auf die menschengemachten Sehenswürdigkeiten verzichten, so wollen wir uns die Naturspektakel nicht entgehen lassen. Wir wollen den Ausangate, einen der heiligsten Berge der Inka umrunden.
Wegen seiner imposanten Erscheinung und wohl auch der Nähe zu Cusco, wird dem Ausangate eine besondere Stellung zugewiesen. Noch heute besitzt er eine wichtige Funktion für die Indigenen. Jährlich wird ein großes Opferfest am Fuße des Berges gefeiert um den Apu, eine Art von Berggott, den es für jeden heiligen Berg gibt, zu besänftigen.
Heinrich Harrer war Teil der Expedition, die im Jahr 1953 den mit 6384 Metern fünfthöchsten Berg Perus erstbestiegen hat. Wie eine Erstbesteigung kommt mir auch unser Vorhaben vor. Den Ausangate Circuit, einen Rundwanderweg um den heiligen Berg, wollen wir mit unseren Rädern bezwingen. Um Gewicht zu sparen, lassen wir alles Unwichtige im Hostel in Cusco zurück und radeln bis zum Start des Treks. Dort treffen wir Steve, mit dem wir bereits schwierige Routen gemacht haben und Juan, einen spanischen Radler, der uns auf der Death Road begleitet hat. Unser Proviant ist für fünf Tage kalkuliert und muss gut eingeteilt werden.
Der erste Tag hat es bereits in sich. Nach der Anfahrt über Feldwege, bei der wir den Blick auf imposante vergletscherte Giganten genießen, schieben wir wie in Zeitlupe unsere bepackten Räder auf den ersten 5100 Meter (!) hohen Pass. Der Steig ist steinig und schmal, kurz vor der höchsten Stelle setzt Schneefall ein. Gut eingepackt in unsere Daunenjacken brettern wir mit unseren bepackten Rädern schmale Fußpfade hinunter. Dazwischen heißt es immer wieder schieben. Da staunen wir nicht schlecht, als plötzlich eine indigene Frau am Wegesrand sitzt und ihre selbstgestrickten Souvenirs anpreist. Im Nebel hätten wir sie fast übersehen. Was macht sie bloß hier heroben bei diesem Sauwetter?
Außer uns ist weit und breit kein Mensch unterwegs. Etwas später stoßen wir auf eine alte Hirtin, die von sehr weit unten Brennholz zu ihrer einsamen Hütte hinaufschleppt. Was für ein Leben, hier oben in den unwirtlichen Bergen auf weit über 4000 Metern. Ein solches Leben führt auch Tatonka, ein gebürtiger US-Amerikaner, der seit einigen Jahren in Peru lebt und vor zwei Jahren hierher in die Berge gezogen ist. In einem kleinen runden Steinhaus hat er sich eine gemütliche Bleibe errichtet. Aufgrund des Brennstoffmangels heizt er den Holzofen nur sehr selten an. Er hat sich an die Kälte gewöhnt. Seine To-do-Liste: Quechua lernen, Yoga, Gitarre spielen. Das sieht mir nach einem entspannten und achtsamen Dasein aus.
Außerdem stellt er richtig leckere Schoko-Energiekugeln aus vierzehn wertvollen Zutaten her, die er an die wandernden Tourist:innen verkauft und mit deren Erlös er den Englischunterricht im nächsten Dorf finanziert. Genau diese Begegnungen in den hintersten Winkeln der Welt sind es, die unsere Reise so besonders machen und unseren Blick auf die Welt verändern. Immer wieder frage ich mich, wohin es mich eines Tages wohl verschlagen wird. Je länger ich unterwegs bin, desto mehr festigt sich in mir der Wunsch nach einem Leben in und mit der Natur. Mit möglichst wenig Besitz und maximaler Freiheit.
Tatonka bietet uns die Scheune seines Nachbarn als Übernachtungsplatz an. Während wir unser Nachtlager aufschlagen und kochen, zucken im Abstand weniger Sekunden Blitze über die entfernten Bergketten. Der Himmel erhellt sich fast durchgehend. Tatonka erklärt, dass es die Gewitter im Dschungel dahinter sind und er dieses Naturspektakel fast täglich beobachten kann. In der Früh wasche ich mich im eiskalten Gebirgsbach und kann vor lauter Kälte meine Füße kaum noch spüren. Herrlich erfrischend! Bevor wir den nächsten Anstieg wagen, decken wir uns mit Tatonkas Energietalern ein und werden ein Stück von ihm begleitet. Während er leichten Fußes den Berg emporläuft, kommen wir mit unseren schweren Fahrrädern nur langsam voran.
Der Kontakt zu den wenigen Menschen, die hier heroben leben, wird uns ordentlich vermiest. Jeder will Geld von uns. Ohne Begrüßung werden wir zum Kauf eines Tickets aufgefordert. Es interessiert niemanden, dass wir bereits ein Ticket gekauft haben. Das nervt und fühlt sich nach Abzocke an. Für uns ist es in Ordnung zu zahlen, wenn es eine klare Regelung gibt und man mit einem Ticket durch den Trek kommt. Aber alle paar Kilometer auf jemanden zu treffen, der Geld haben möchte, macht richtig schlechte Stimmung.
Noch dazu wird das Geld offensichtlich nicht für die Errichtung und Erhaltung eines Weges, den Bau von Toiletten oder zur Unterstützung der lokalen Bevölkerung, sondern viel mehr für den Kauf von Alkohol und Kokablättern ausgegeben. Abends, als wir unsere Zelte aufbauen, grüßt uns jemand im Vorbeigehen. Morgens steht er dann vor dem Zelt und will Geld fürs Campieren. Ein betrunkener alter Mann klaut Juan sogar die Regenjacke vom Fahrrad und will sie erst zurückgeben, wenn er ein Ticket kauft.
Gerade als wir das Frühstück beenden und zusammenpacken wollen, beginnt es zu stürmen und schneien. Gut, dass die Zelte noch aufgebaut sind und wir uns hineinflüchten können. Nach einer halben Stunde ist der Spuk vorbei und die Landschaft weiß überzogen. Nicht wirklich eine Erleichterung für die heutige Etappe. Die ersten Stunden schieben wir die Räder durch Schneematsch an Alpaka Herden vorbei.
Wie oft habe ich mir in den letzten Tagen gewünscht, ein Alpaka zu sein oder zumindest mein Fahrrad gegen ein Pferd tauschen zu können. Mit einem Rucksack auf dem Rücken würde dieser Weg auf jeden Fall mehr Spaß machen. Trotzdem möchte ich die Erfahrung auf keinen Fall missen und erfreue mich an den wunderschönen Ausblicken. Der Apu scheint uns wohlgesonnen und lässt am Nachmittag die Sonne scheinen. Von all seinen Seiten strahlt der mächtige Ausangate eine unheimliche Kraft aus. Schöner kann ein Berg kaum sein.
Kraft und Motivation scheinen bei Steve und Juan zu schwinden und so entscheiden sie sich, nach der Umrundung des Ausangate zurück nach Cusco zu fahren. Ich bin ebenfalls unschlüssig, ob meine Kräfte für weitere zwei Tage und weitere Pässe ausreichen, möchte aber noch nicht aufgeben und entschließe mich, zusammen mit Ferdi unsere geplante Tour fortzusetzen. Immer wieder können wir kurze Abschnitte radeln und uns bei tollen Singletrailabfahrten austoben. Das macht Spaß und sorgt für die nötige Abwechslung zu den sehr anstrengenden Schiebepassagen. Für die Nacht finden wir einen netten kleinen Unterschlupf, wir nennen ihn unsere Räuberhöhle. Wir überprüfen unsere Essensvorräte und teilen sie so ein, dass es für morgen noch ausreicht. Immerhin steht uns ein weiterer 5000-Meter-Pass bevor.
Umgeben von einer einzigartigen Bergkulisse und mit den ersten Sonnenstrahlen im Gesicht genießen wir unser Frühstück. Dann beginnt auch schon der steile Anstieg. Ich bin erstaunt, dass meine Arme noch immer mit Kraftreserven herhalten können. Noch erstaunter bin ich wieder einmal über Ferdis schier endlose Kräfte. Wenn es besonders steil und anstrengend ist, schiebt er zuerst sein Fahrrad hinauf und kommt dann zurück, um mir zu helfen. Gemeinsam schaffen wir das richtig gut. Kurz den Ausblick genießen und durchatmen, um dann festzustellen, dass wir noch einmal ein gutes Stück runter und auf der anderen Seite wieder hinauf müssen. Der Rainbow Mountain liegt immerhin schon in Sichtweite.
Kaum erreichen wir den Berg, der wegen seiner verschiedenfarbigen Gesteinsschichten den touristischen Namen Rainbow Mountain trägt, kommt auch schon ein junger Mann auf uns zu, um uns ein Ticket zu verkaufen. Keine Zeit, anzukommen und zu verschnaufen. Das Ticket hat Vorrang. Wie wir erwartet haben, ist der Berg nicht besonders spektakulär. Die Farben sind in der Realität weit weniger intensiv als auf den Ansichtskarten oder Fotos im Internet. Also halten wir uns nicht lange auf und schieben an dem Touristentrubel vorbei weiter zum Valle Rojo, dem Roten Tal.
Wieder werden wir zum Zahlen aufgefordert. Wir verhandeln und bekommen zwei Tickets zum Preis von einem. Auf einem schmalen Pfad schieben wir den nächsten steilen Hügel hinauf. Keine fünf Minuten sind vergangen und vor Ferdi steht ein weiterer Ticketverkäufer. Ferdi macht ihn darauf aufmerksam, dass er an einem extrem steilen Abhang steht, beide Hände an den Bremsen hat und das Ticket so nicht bezahlen kann. Ob der Mann doch bitte einen Schritt zur Seite machen könne, dann könne er das Fahrrad oben abstellen und das dritte Ticket innerhalb von zehn Minuten kaufen.
Das Valle Rojo bezaubert mit seinen roten Felsen, die im wunderschönen Kontrast zu den grünen Polsterpflanzen stehen. So eine Landschaft habe ich noch nie gesehen und es fasziniert mich immer wieder, wie schnell sich die Umgebung um uns herum ändern kann. Leider ist das mit den tollen Downhills nicht ganz so wie erwartet. Die Steige sind sehr schmal und steil, sodass das Radeln oft zu gefährlich ist. Wir müssen ziemlich viel schieben und auch das erfordert höchste Konzentration an den vielen engen Stellen. Heute ist sogar Ferdi erschöpft und wir hoffen beide, dass wir bald wieder einen fahrbaren Weg erreichen.
Am Ende des Tages zelten wir auf einer kleinen Anhöhe mit einem letzten grandiosen Ausblick auf den Ausangate. Das letzte Licht des Tages scheint direkt auf die massiven Schneewände des heiligen Berges und lässt sie inmitten der roten Landschaft erstrahlen. Ein schöner letzter Abend auf 4800 Metern bevor es am nächsten Tag fast nur mehr abwärts und auf gut fahrbarer Straße zurück in die Zivilisation geht.
In der Früh sehen wir von Weitem einen Hirten auf uns zukommen. Wir befürchten schon den nächsten Ticketverkäufer und haben überhaupt keine Lust mehr, auf Einheimische zu treffen. Das macht uns richtig traurig und auch wütend. Der Tourismus scheint hier alle zu überfordern. Doch der Hirte zieht grüßend an uns vorbei. Glück gehabt! Nach einer schnellen Abfahrt ohne weitere Ticketkäufe finden wir einen Pick-up, der uns zurück nach Cusco bringt und checken erneut in das nette Hostel ein, in dem wir einen Großteil unserer Ausrüstung zurückgelassen haben.
Eine meiner großen Leidenschaften neben dem Radfahren sind Textilien. Vor allem, wenn sie per Hand und mit traditionellen Verfahren hergestellt werden. Schon in Bolivien war ich fasziniert von den schönen Webereien und den vielen strickenden Frauen. Zu Hause stricke und nähe ich meine Kleidung am liebsten selbst und ich merke, dass mir diese entspannende Tätigkeit auf Reisen oft abgeht. Also habe ich mir in Cusco einen Wunsch erfüllt und mich zu einem dreitägigen Webkurs angemeldet.
Eine indigene Frau aus einem umliegenden Dorf lehrt mich in Einzelunterricht ihre Webkunst. Ich lerne schnell und kann schon bald schön gemusterte Bänder weben. Das Tolle dabei ist, dass dafür kein riesiger Webstuhl benötigt wird, sondern nur zwei Holzstäbe zwischen denen die Fäden gespannt werden. Einen Tag verbringe ich in einer der indigenen Communities eineinhalb Fahrstunden von Cusco entfernt und lerne dort das Spinnen mit einer Handspindel. Gar nicht so einfach, wie es aussieht. Immer wieder reißt der Faden der feinen Alpakawolle und es dauert, bis ich den Dreh raus habe.
Am Rückweg von der Bushaltestelle zum Hostel wird mir dann leider mein Handy geklaut. Es ist einer dieser fiesen Tricks, mit denen Taschendiebe gern arbeiten. Plötzlich bin ich umringt von Menschen und kann weder vor noch zurück. Ich bin komplett umzingelt und werde bedrängt. Das löst eine kleine Panik in mir aus und ich möchte so schnell wie möglich raus aus dem Gedränge. Dann spritzt jemand etwas auf meinen Kopf, sodass ich aus Reflex meine Hand aus der Hosentasche mit dem Handy nehme und mir auf den Kopf greife. In dem Moment war mir sofort klar, dass das ein Trick ist und mir gerade mein Handy gestohlen wurde. Ich fühle mich allein und verfolgt und gehe schnellen Schrittes Richtung Hostel zu Ferdi. Blöd gelaufen, aber zum Glück ist sonst nichts passiert. Eine Anzeige bei der Polizei machen wir pro forma und klappern in den nächsten Tagen alle möglichen Läden mit Gebrauchthandys ab, um eventuell meines wiederzufinden.
Schon vor dem Handydiebstahl habe ich die schwierige Entscheidung getroffen und einen Flug nach Wien gebucht. Tags darauf bereue ich meinen Entschluss sofort und möchte einfach nur gemeinsam mit Ferdi durch Peru radeln. Aber irgendwie wissen wir beide, dass es eine Veränderung braucht. Die Ausangate Umrundung hat mir gezeigt, dass wir als Team super funktionieren und gerade bei sehr herausfordernden Unternehmungen uns gut unterstützen.
Doch es ist nicht leicht, jeden Tag 24 Stunden beisammenzusein, alles zu teilen und alles gemeinsam zu erleben. Die letzten Jahre waren sehr intensiv. Die erste lange Radreise in den Iran, dann die Heimkehr während Covid und nun fast ein Jahr durch Südamerika. Jeden Tag zusammen, oft im kleinen Zelt, die physische Anstrengung, die vielen kleinen Entscheidungen, die wir täglich gemeinsam treffen müssen. Manchmal ist mir die Frage, was wir am Abend essen wollen, schon zu viel. Ich bin müde, vielleicht auch ein bisschen reisemüde. Wenn man so lange unterwegs ist, kann es passieren, dass einem die Begeisterung abhandenkommt. Das Staunen über die schöne Landschaft in den Anden wird mit den Monaten, die man hier verbringt, schwächer. Es wird irgendwann zur Normalität.
Nach den vielen Jahren, in denen wir unseren Weg gemeinsam beschreiten und beradeln, habe ich ein wenig Sorge, mich selbst zu verlieren. Ich treffe keine eigenen Entscheidungen, ich mache kaum etwas allein. Bin ich überhaupt noch fähig, allein zu leben und selbstständig Entscheidungen zu treffen? Wo will ich hin? Wie stelle ich mir mein Leben vor? Ist Ferdi der richtige Partner? Immer wieder kreisen diese Fragen in meinem Kopf herum und ich finde keine Antworten darauf. Mir fehlt der Abstand. Ich brauche Zeit für mich, um einige Dinge klarer zu sehen, um einmal wieder nur Ich sein zu können und nicht immer nur Wir. Und auch wenn mir diese Entscheidung unglaublich schwerfällt, weiß ich insgeheim, dass sie richtig ist und uns beiden gut tun wird.
Die Vorstellung schon bald wieder daheim zu sein, macht mich traurig. So habe ich mir das Ende der Reise nicht vorgestellt. Wie schon bei der letzten Fahrradreise in den Osten, damals wegen der Pandemie, muss ich vorzeitig abbrechen. Doch ich weiß bereits jetzt, dass es kein Ende der Reise wird. Ich komme nicht nach Hause, um zu bleiben. Viel mehr ist es eine Pause vom Unterwegssein, eine Pause von Ferdi und ein Wiedersehen mit Familie und Freund:innen. Um dann nach einer Weile und neuer Energie wieder aufzubrechen in das nächste Abenteuer. Für Ferdi war immer klar, dass er bleiben will. Ihn zieht es weiter auf dem langen Weg nach Norden. Auch wenn er schon einmal allein auf Radreise war, wird es eine große Umstellung für ihn werden.
Die letzten gemeinsamen Tage vergehen rasch. Fast täglich besuche ich die große Markthalle um frisches Obst und Gemüse zu kaufen. Nachmittags gibt es Paraden zu hören und sehen. In Bolivien und Peru findet sich immer einen Anlass, um mit Pauken, Trompeten und bunt kostümierten Tänzer:innen durch die Straßen zu ziehen. Danach bringen sich die Verkäuferinnen in Stellung, die in ihren kleinen Wagen frisches Popcorn zu günstigsten Preisen anbieten. Wo sonst, wenn nicht in Südamerika gibt es die perfekten Maissorten für gutes Popcorn.
Wir verpacken mein Fahrrad. Ferdi übernimmt den Großteil unserer gemeinsamen Ausrüstung, um seinen Weg fortsetzen zu können. Viele Tränen begleiten diese letzten Vorbereitungen. Immer wieder frage ich mich, ob es die richtige Entscheidung war. Ich weiß, dass nun eine große Veränderung bevorsteht. Es ist immer leichter, so weiterzumachen, wie bisher. Veränderungen erfordern Mut. Und genau dieser Gedanke bestärkt mich in meinem Tun. Schon öfter in meinem Leben habe ich den schwierigen Weg gewählt, bin bewusst aus dem Gewohnten ausgebrochen und habe alles Bekannte hinter mir gelassen. Ich weiß, dass ich auch dieses Mal meinen Weg finden werde. Durchhaltevermögen und Ausdauer habe ich hier in den Anden genug bewiesen, darauf kann ich mich verlassen.
Es ist der dritte Oktober und nach einem letzten gemeinsamen Mittagessen steht auch schon das Taxi vor der Tür, das uns zum Flughafen bringt. Der Abschied ist sehr emotional. Wir sind beide traurig und wissen nicht, wann und wo wir uns wiedersehen werden. Es ist wahnsinnig schwierig, nach so vielen Jahren gemeinsamer Zeit und nach unseren beiden Radreisen nun so weit voneinander getrennt zu sein. Sobald ich in das Flugzeug steige, liegt ein ganzer Ozean zwischen uns. Sechs Stunden Zeitverschiebung, eine andere Jahreszeit. Ich werde die Märkte vermissen, das einfache Leben, das Draußen sein, die Natur und wunderschönen Landschaften, die freundlichen Begegnungen, die intensiven Gespräche mit anderen Reisenden. Bei all meinen Reisen war der Aufbruch und der Abschied von Familie und Freund:innen schwierig, aber ich habe immer gewusst, dass das Heimkommen nicht weniger schwierig wird.
2 Postings
Fantastisch ! Da werden wieder alte Erinnerungen und Sehnsüchte geweckt.
Wunderschöne Landschaften und eine berührende Geschichte! Danke!
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