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Tabuthema Suizid: „Gib dem Leben eine Chance!“

Es macht sprachlos – deshalb reden wir darüber mit BKH-Primar Martin Huber und Barbara Kunzer von der Selbsthilfe.

„Auf einmal war es da. Das sowas mir passiert! Allen anderen ja, aber mir! Ich bin so froh noch am Leben zu sein.“ Im Jahr 2022 starben in Österreich 1.276 Menschen durch Suizid, davon 117 Menschen in Tirol. Das sind dreimal so viele wie im Straßenverkehr.  Und doch ist Suizid die am meisten tabuisierte Todesursache. An- und Zugehörige erleiden eine der schmerzvollsten Erfahrungen, die Menschen überhaupt machen können. Die Zahl der Suizidversuche übersteigt die tatsächlich durch Suizid verstorbenen Personen um ein Zehn- bis Dreißigfaches. Jede Äußerung diesbezüglich muss ernst genommen und als Hilferuf verstanden werden. Denn die meisten Menschen kündigen ihre Suizidabsichten an, direkt oder indirekt.

„Ich fragte mich: Was hat das Leben überhaupt für einen Sinn? Ich wollte mit niemanden darüber sprechen, ich habe mich zu sehr geschämt.“

Nicht aber Andreas L. (Name von der Redaktion geändert): „Ich habe mich doch so auf die Pension gefreut und mir ging es gut. Aber dann, während den Gartenumbauarbeiten, wurde mir alles plötzlich zu viel. Ängste überfielen mich und ich konnte nicht mehr schlafen. Alles war so mühsam, die Zeitung hat mich nicht mehr interessiert und sogar die Zigarette schmeckte nicht mehr. Ich fragte mich: Was hat das Leben überhaupt für einen Sinn? Ich wollte mit niemanden darüber sprechen, ich habe mich zu sehr geschämt. Ich befürchtete, alle könnten meinen, ich sei deppert im Kopf. Sowas wird bei uns ja nicht als Krankheit angesehen. Jeder kennt mich doch als jemanden, der immer einen Spaß auf Lager hat. Ich habe alles überspielt und mich immer mehr zurückgezogen. Ich wollte einfach meine Ruhe, hätte mir auch von niemand helfen lassen. Ich hielt das Leben nicht mehr aus.“ 

„Es ist die Aufgabe von uns allen. Wenn es jemandem nicht gut geht und er oder sie sich zurückzieht, dann liegt es an uns, das anzusprechen und Hilfe anzubieten,“ sagt Dr. Martin Huber, Psychiater und Primar der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin im BKH Lienz im Podcastgespräch.

„Es ist die Aufgabe von uns allen. Wenn es jemandem nicht gut geht und er oder sie sich zurückzieht, dann liegt es an uns, das anzusprechen und Hilfe anzubieten.“

Psychiater Martin Huber, Primar am BKH Lienz

Wie spricht man nun aber über etwas, das uns sprachlos macht? Als erste Hilfestellung für eine suizidgefährdete Person ist die Bereitschaft, ihr zuzuhören und Verständnis für ihre persönliche Not zu zeigen. „Man kann die Person ruhig fragen, ob es Suizidgedanken gibt,“ sagt Martin Huber. Das Ansprechen könne sehr entlastend sein und führe auf keinen Fall dazu, dass dadurch jemand erst auf Suizidgedanken komme.

Nennen wir es beim richtigen Namen: Suizid! Zu komplex ist das Thema, als dass wir es mit dem schuldbeladenen Begriff Selbstmord entwerten sollten. Und mit „Freitod“, mit einer freien Entscheidung, hat Suizid gar nichts zu tun. Niemand will freiwillig sterben, aber wenn das Leben so unerträglich schmerzt, scheint es zu töten die einzige Lösung zu sein. Aber das ist ein fataler Irrtum! Auch wenn es für Betroffene schwer vorstellbar ist: Die Ursachen, die zu einem Suizid führen, sind tatsächlich gut behandelbar.

„Irgendwann ist gar nichts mehr gegangen und ich habe meinen Suizid geplant“, erzählt Andreas L. weiter. „Ich habe gewartet bis meine Frau zum Arbeiten das Haus verließ, habe einen Abschiedsbrief geschrieben, ein Bier getrunken und eine Zigarette geraucht. Ich war mir sicher, dass es die letzte Zigarette in meinem Leben ist. Nachdem der Versuch, mir das Leben zu nehmen, überraschenderweise misslang, habe ich schnell alles weggeräumt, damit niemand etwas merkt. Am selben Tag noch habe ich dem Schwiegersohn geholfen und weitergemacht wie bisher. Einige Tage später kam der totale Zusammenbruch und ich habe richtig geweint. Meiner Frau habe ich endlich gesagt, dass ich nicht mehr kann und ihr von meinem Versuch, mich selbst zu töten, erzählt. Ich war so erleichtert endlich darüber zu reden. Ich hätte schon ganz am Anfang darüber sprechen sollen, weil auch mein Umfeld hat dann sehr positiv darauf reagiert, aber damals war da so eine Sperre.“

Über Suizidgedanken zu sprechen ist nicht leicht. Offen darüber zu sprechen kann sehr entlastend sein, egal ob mit Angehörigen, Freunden, Selbsthilfegruppe, Psychiater oder Therapeut. Das Psychosoziale Zentrum Osttirol (PSZ) kennt das vielfältige und großteils kostenlose Angebot im Bezirk. In vertraulichen Gesprächen werden Betroffene – dazu zählen auch Angehörige – beraten und wenn gewünscht an die passenden Stellen vermittelt.

Andreas L. hatte Glück im Unglück: „Meine Frau hat mich ins Krankenhaus gebracht. Es hat mir sehr gut getan und nach einer Woche drängte ich nach Hause. Der nächste Zusammenbruch ließ nicht lange auf sich warten und ich landete wieder in der Psychiatrie, freiwillig. Und wieder glaubte ich, wenige Tage seien genug. Die nächsten zwei Monate zu Hause waren eine Qual. Ich war immer müde, lustlos und wollte nur schlafen, kam vom Bett fast nicht mehr raus. Ich war nur auf mich bezogen, richtig egoistisch. Dann wollte ich mir wieder das Leben nehmen. Unvorstellbar, was ich meiner Familie damit angetan hätte!“

Das Leben schmeckt mir wieder. Ich hoffe es bleibt so.

„Meine Frau erkannte die Warnsignale und reagierte. Diesmal verbrachte ich mehrere Wochen im Krankenhaus. Sie sind alle nett oben, sehr bemüht, und ich würde jedem raten, die Hilfe schon viel früher anzunehmen. Inzwischen habe ich sogar wieder Freude am Sport, verreise gerne und habe viel Spaß mit meinem Enkel. Das Leben schmeckt mir wieder! Ich hoffe es bleibt so. Und wenn nicht, dann weiß ich ja wo ich hingehen muss, damit es wieder aufwärts geht!“ Andreas L. hat sich für das Leben entschieden. Er teilt mit uns auf dolomitenstadt.at die Geschichte über seinen Weg zurück in ein gutes Leben, weil er sich wünscht, daß ihn auch andere gehen. „Es ist kein leichter Weg, aber er lohnt sich!“

Ein Suizid gilt in der Trauerbegleitung als „earth quake“, als Erdbeben, weil es eine der erschütterndsten Leiderfahrungen des Menschen ist. „Wir müssen aktiv auf Trauernde zugehen, sie sind oft nicht fähig selbst Hilfe einzufordern. Vergessen wir Ratschläge, die sind für Trauernde oft wie Schläge. Es geht hauptsächlich ums für sie Da-Sein und ums Zuhören,“ sagt Barbara Kunzer. Sie ist Leiterin der Selbsthilfegruppe „Suizid-Zurückgelassen?! Hilfe für Hinterbliebene“ und ist im Kriseninterventionsteam tätig. Als selbst Betroffene kennt Barbara den tiefen Trauerschmerz und die quälenden Fragen rund um das Unfassbare. Zurzeit finden keine Selbsthilfegruppentreffen statt, aber ein vertrauliches Gespräch am Telefon oder bei einem Spaziergang unter vier Augen können für Trauernde eine wertvolle Stütze sein.

Geschichten wie die des Andreas L. gibt es viele. Der Titel dieses Artikels stammt von einer Frau, die uns in den Vorgesprächen für diesen Artikel und den Podcast auch ihr Vertrauen schenkte. Herzlichen Dank dafür!


Psychosozialer Krisendienst des Landes Tirol: 0800 400 120, täglich 08-20 Uhr
Psychosoziales Zentrum Lienz: 050 500 200, Mo-Fr 09-14 Uhr
Telefonseelsorge Tel.:  142 (Notruf), täglich 0-24 Uhr
Rettung: 144
Krisendienst der Psychiatrischen Abteilung am BKH-Lienz: 04852 606 0
Selbsthilfegruppe „HPE - Verein der Angehörigen und Freunde psychisch Kranker“: Sabine Buchberger 0660 / 656 85 76
Selbsthilfegruppe „SUIZID - Zurückgelassen?! Hilfe für Hinterbliebene“, Barbara Kunzer 0650/950 60 60


In der Serie „Reden hilft“ stellen Evelin Gander und Sabine Buchberger die unterschiedlichen Angebote und Gruppierungen der Selbsthilfe Osttirol vor, die mit mehr als 40 aktiven Gruppen ein breites Auffangnetz für all jene anbietet, die sich mit einem Problem, einer Krankheit oder einem sozialen Anliegen alleine oder auch allein gelassen fühlen.

Evelin Gander ist nicht nur Stadtführerin und Biobäuerin, sondern auch Ideenlieferantin und Geschichtenerzählerin mit viel Einfühlungsvermögen. Thema ihrer Reportagen und Podcasts ist das Leben in all seinen Facetten.

4 Postings

Tintifax
vor 9 Monaten

Wie groß wäre der Aufschrei, würden Diabetiker oder Herz-/Kreislauferkrankte ihre Medikamente und Therapien selbst zahlen müssen. Viele psychische Erkrankungen sind ohne adäquate Behandlung EBENFALLS TÖDLICH!!! Ein Problem ist, ist man psychisch erkrankt, hat man zumeist auch Geldsorgen und einem Termin hinterher zu laufen fällt auch nicht besonders leicht. Ebenfalls besonders förderlich sind Aussagen, da wird nur simuliert, um nicht arbeiten zu müssen oder in Pension geschickt zu werden. Aber ich bin überzeugt, keiner geht dafür in eine Psychiatrie noch nimmt man die entsprechende Medikamente ein. Den so gut sie für diejenigen sind, die sie brauchen, sind es wahrlich keine Zuckerl!!!

 
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defregger
vor 9 Monaten

So ist es: darüber wird viel zu wenig gesprochen. Es kann jeden treffen, wohlgemerkt jeden, egal welchlen Status der Betroffene hat. Zuviele sehen noch weg, die Politik schläft, die Verwandschaft kann damit nicht umgehen u.v.m. schafft viel zu wenige Rahmenbedingungen. ZB. Psychologen müssen anteilmäßig oder fast ganz die Kosten selbst tragen, wenn man Glück hat bekommt man einen Termin in 1/2 - 3/4 Jahr da ist es oft schon zu spät. Eine zeitnahe Hilfe und eine von der Karankenkasse geleistete 100% Kostenübernahme retten viele Leben.

Welche Arroganz, Unwissenheit in diesen Köpfen der Politik vor sich geht, entzieht sich meiner Kenntnis.

Es ist sowas von beschämend, dass dieses Thema viel zu weit links liegen gelassen wird in der Hoffnung es betrifft mich schon NICHT. Ohne professionelle Hilfe evt. stationären Aufenthalt gibt es von alleine kein Entrinnen.

Noch einiges mehr könnte ich hier aufzählen, viel mehr, von Anästhesisten, Sportartikelhändler, Steuerberaten, Kinderärzte, Otto Normalo, Bürgermeister usw. die stationäre Hilfe benötigten. Freue mich immer wieder wenn ich stabilen Menschen begegne die es geschafft haben diesen "Zauber" des Gehirns zu entrinnen. Eine rassche Genesung allen Betroffenen und herzlichen Dank an die vielen helfenden Hände die im Hintergrund tätig sind.

 
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    wolf_C
    vor 9 Monaten

    vor Generationen definierte Erwin Ringel die 'österr Seele' ua unter diesem Aspekt ... im Moment gibt es einen argen backlash da, und es wird schlimmer

     
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    unholdenbank
    vor 9 Monaten

    Das Thema wird nicht "links", sondern "rechts" liegen gelassen. Dort will man für "so etwas" kein Geld ausgeben, weil dieses muss ja in die Förderungen für die Würrrtschaft und die Landwürrrtschaft fließen, anstatt in das Gesundheitswesen. Man darf doch die eigene Klientel nicht verprellen.

     
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