Seit dem Ende des 18. Jahrhundert sei die Kunst der Moderne an einem „Verlust der Mitte“ erkrankt, den der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr u. a. an der Umgehung der Schwerkraft und mithin an der fehlenden Erdung der Bauten festmacht. So präzise seine Diagnose auch ausfiel, hätte der notorische Kulturpessimist wohl kaum geahnt, dass diese Symptome ein Dreivierteljahrhundert nach der Veröffentlichung seiner Streitschrift das Lebensgefühl einer ganzen Generation kennzeichnen würde. Der aus Schlanders gebürtige Künstler Max Brenner bringt es in seiner Ausstellung im Lienzer RLB-Atelier auf eigenwillige Weise zum Ausdruck.
In Brenners großformatigen Bildern wimmelt es nur so von Fahrgeschäften und fliegenden Bauten, verschlingen sich Achterbahnen, wirbeln Menschenmassen per Karussell durch die Luft und kaum jemand bekommt Boden unter die Füße. Lustvoll geht man daran, das Liniengewirr zu entflechten, und in jedem Detail steckt der Teufel. Es ist aber nicht nur das scheinbare Chaos der unzählbaren Motive, die den Betrachter zwischen Spaß und Beklemmung hin und her schwanken lassen, es sind auch der Stil und die Mittel, derer sich Brenner bedient: Zeichnung, Siebdruck und Holzschnitt.
Ein Holzschnitt wird, grob gesprochen, in drei Arbeitsschritten verfertigt, die in früheren Epochen nicht selten von verschiedenen Personen ausgeführt wurden: dem Zeichner, dem Holzschneider und dem Drucker bzw. Verleger, deren Autorschaft gleichrangig unter dem Ergebnis verzeichnet war. Unser modernes Verständnis neigt dazu, die Kunst allein dem Zeichner zuzugestehen, da seine Tätigkeit sich im Einzelstück niederschlägt. Brenners Siebdrucke sind allerdings auch Unikate und sein riesiger Holzschnitt „The gap“ verzichtet sogar auf den Druck, was zur Folge hat, dass er seitenverkehrt als gefrästes Relief an der Wand hängt.
Das Medium der Druckgrafik ist prinzipiell auf die Reproduzierbarkeit der künstlerischen Idee ausgerichtet. Wenn es aber stimmt, dass erst, wenn die Botschaft ihren Empfänger erreicht, das Artefakt auch zur Kunst wird, dann ist der Gedanke, dass dieses Ereignis an tausenden Orten der Welt mit ebenso vielen Personen gleichzeitig stattfinden könnte, einigermaßen verstörend. Selbstverständlich sind die Auflagen von Holzschnitten und Siebdrucken allein schon aus technischen Gründen begrenzt. Die Botschaften und Bilder im Netz, aus dem Max Brenner seine Vorlagen bezieht, sind es nicht.
„Doom Scrolling“, so der Titel der Schau, bezeichnet das maßlose Durchsuchen von Nachrichtenfeeds, das spätestens seit der Corona-Pandemie als Massenphänomen populär und mit negativem Content und Fake News assoziiert wurde. Die Wimmelbilder Max Brenners, moderne Verwandte von Pieter Bruegel oder Hieronymus Bosch, zeigen aber keine Kunst im Krisenmodus, sondern Strategien, wie man aus seinen Blasen wieder herausfinden könnte.
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