Anders als die empirischen Wissenschaften, die Beobachtungen mit Experimenten verknüpfen, daraus ihre Theorien, jedoch keine Sinnzusammenhänge ableiten, ist die Ikonologie eine Kunst, in der Texte und Bilder einander wechselseitig erhellen. Um den Sinn des Ganzen zu verstehen, muss man den Sinn seiner Teile verstehen – und umgekehrt. Die Methode endet aber nicht in einem logischen Zirkel, einem Teufelskreis, aus dem man nie wieder herausfindet. Sie lässt sich mit einer Spirale vergleichen, die sich zu immer höheren Ebenen der Erkenntnis emporschraubt.
In seinem am vergangenen Sonntag auf Schloss Bruck vorgestellten Buch „Bildräume geistlicher Eliten“ lässt Leo Andergassen, Direktor des Südtiroler Landesmuseums und ehemaliger Landeskonservator, stilistisch-formale Analysen beiseite, um am Beispiel der monografisch erstmals erfassten romanischen Fresken der Frauenkirche und der Johanneskapelle im Brixner Dombezirk die Interaktionen von Raum und Bild, die „ohne Textbeigaben nicht funktionieren“, die theologischen Konzepte der Brixner Bischöfe des Hochmittelalters zu untersuchen.
Rückbau und Re-Konstruktion
Der Ursprung der Liebfrauenkirche im Kreuzgang reicht bis in die Anfänge des Brixner Münsterensembles zurück. Um 1200 wurde der einschiffige Saalraum mit halbrunder östlicher Apsis aufgehöht. Um eine Vorstellung von der originalen Baugestalt zu erhalten, müsste man die heutige Kirche zunächst von ihrer barocken Innenausstattung befreien: vom Hauptaltar mit den Bildern von Martin Teofil, dessen Beiname Polak in Brixen wohl als Hinweis auf seine Herkunft auf der zweiten Silbe betont wurde, von den Seitenaltären, den geschnitzten Figuren von Adam Baldauf und den 1734 gemalten Kreuzwegstationen, um so am Ende einen nackten gotischen Raum vorzufinden, der gegen Ende des 14. Jahrhunderts eingewölbt wurde.
Seit diesem Datum sind die romanischen Fresken den Blicken der Kirchenbesucher entzogen und nur jenen zugänglich, die sich in den engen Raum zwischen Gewölbe und Dachstuhl hinaufwagen. Dort aber lässt sich ein durch die späteren Einbauten zwar stark fragmentiertes, aber dank Andergassens minutiöser Erforschung komplexes und anspruchsvolles Bildprogramm rekonstruieren. In Auftrag gegeben und wohl auch erdacht wurde es von Bischof Konrad von Rodank, der 1216 vom Baugerüst stürzte und dabei ums Leben kam. Ausführender Künstler war sein Hofmaler Hugo.
So spannend kann Kunstwissenschaft sein
Entlang der Südwand sind sieben Tugenden dargestellt, in einer von West nach Ost ansteigenden Folge, der an der Nordwand abfallend sieben Laster gegenübergestellt werden, sodass sich links und rechts des Altarraums schließlich die höchste Tugend und das geringste Laster begegnen: Caritas, die Nächstenliebe, mit entblößten Brüsten, an denen sie in späteren Allegorien die ihr Anempfohlenen säugt, und die schon der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief als die größte der drei theologischen Tugenden neben Glaube und Hoffnung bezeichnet, und auf der anderen Seite die Völlerei, die offenbar unter der hohen Geistlichkeit des Mittelalters als die lässlichste aller Untugenden galt.
Im Westen war der Sakralraum durch einen Gang mit dem „Episkopium“ verbunden, der Wohnung des Bischofs, der von dort aus auch Zugang zur Domkirche sowie zu der als Baptisterium genutzten Johanneskapelle hatte und somit auch im räumlichen Sinn der erste Adressat des entsprechenden Bildprogramms war. Daher konnte man wohl auch auf erklärende Inschriften weitgehend verzichten, die das neun bis zwölf Meter tiefer sich aufhaltende Bodenpersonal ohnehin nicht ohne Weiteres entziffern hätte können.
Sind die denn alle besoffen?
Ein Meisterstück gelang Andergassen mit der Deutung des Freskos an der östlichen Triumphbogenwand, von dem der Gewölbeeinbau und ein neuzeitlicher Fensterausbruch kaum noch etwas übrig ließen. Eine Mariendarstellung anzunehmen, lag hinsichtlich des Patroziniums nahe – doch welche? Links und rechts des zentralen Bildfeldes lassen sich mit einigem guten Willen hellfarbige Strahlen ausnehmen, an die Arkaden mit Halbfiguren anschließen, deren Häupter unterschiedliche und höchst merkwürdige Bedeckungen zieren. Zwei von ihnen halten ein Schriftband in Händen. Als „Zuschauer des großen Welttheaters“, die auf ewig der Herrlichkeit Gottes applaudieren, wurden sie bisher gedeutet. Insgesamt siebzehn lassen sich aus der ursprünglich verfügbaren Bildfläche rekonstruieren.
Das verwaiste Inschriftenfragment „PON“ erwies sich als Schlüssel einer plausibleren Interpretation. Andergassen ergänzte es zu „PONTUM“, bettete es in die Aufzählung der Repräsentanten von siebzehn Völkern, die den Worten der um Maria gescharten Anhänger Jesu beim Pfingstwunder lauschten, und zu denen eben auch die Bewohner von Pontus in Kleinasien gehörten. „Quia musto pleni sunt isti“, „die sind wohl alle besoffen“, korrekt „voll des süßen Weins“, riefen einige von ihnen, nachdem sie jeden einzelnen Apostel in ihrer jeweils eigenen Sprache reden hörten.
Die beiden Schriftbänder lassen sich somit als Sprechblasen der direkten Rede verstehen. Wer die rhetorisch brillante Rede von Leo Andergassen nicht hören konnte oder noch tiefer in die Materie eindringen möchte, dem sei das Buch „Bildräume geistlicher Eliten – Die spätromanischen Wandmalereien im Brixner Dombezirk“, erschienen im März dieses Jahres im Athesia Verlag, wärmstens ans Herz gelegt.
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