Sieben von hundert Menschen leiden an seltenen Krankheiten
Bei Anita Wieser wurde das Loeys-Dietz-Syndrom rechtzeitig entdeckt: „Es grenzt an ein Wunder.“
Expertinnen der Universitätsklinik in Innsbruck schilderten bei einem Mediengespräch am 25. Februar am Beispiel eines außergewöhnlichen Einzelfalls, warum „Seltene Erkrankungen“ in Summe gar nicht selten und gerade deshalb so gefährlich sind. Erkannt werden diese Krankheiten meist nur durch interdisziplinäres Zusammenwirken unterschiedlichster Fachleute, weshalb in Innsbruck ein Zentrum für Seltene Krankheiten (ZSKI) als Anlaufstelle für Betroffene eingerichtet wurde.
Zu diesen Betroffenen, die an einer absolut außergewöhnlichen Krankheit leiden, zählt Anita Wieser. „Es grenzt an ein Wunder, dass bei Frau Wieser eine lebensbedrohliche Gefäßerweiterung der absteigenden Aorta rechtzeitig erkannt wurde und auch die Ursache dafür gefunden werden konnte“, erzählen Daniela Karall, stellvertretende Direktorin der Innsbrucker Kinderklinik und Gründungsmitglied des ZSKI, Sabine Rudnik, leitende Oberärztin am Zentrum für Medizinische Genetik in Innsbruck und Julia Dumfarth, Oberärztin für Herzchirurgie.
Dumfarth führte die lebensrettende Operation bei Anita Wieser durch, anschließend wurde die Patientin, deren Symptome und Auffälligkeiten keinem bekannten Krankheitsbild zuordenbar waren, genetisch untersucht. So war es möglich, das Loeys-Dietz-Syndrom als Ursache zu finden, eine Krankheit, von der weltweit keine hundert Fälle bekannt sind. Die erblich bedingte Bindegewebsstörung führt zu Auffälligkeiten des Skeletts und des Herz-Kreislauf-Systems.
Personen mit LDS haben oft einen deformierten Brustkorb, Fußfehlstellungen und Wirbelsäulenverkrümmungen. Medizinisch sind Gefäßerweiterungen und eine hohe Neigung zu Aneurysmen – Ausbuchtungen eines Blutgefäßes aufgrund einer Schwäche in der Gefäßwand – besonders gefährlich. Ein gerissenes Aneurysma ist ein akuter und lebensbedrohlicher Notfall. Frau Wieser, in deren Familie es keine weiteren Betroffenen gibt, hatte Glück.
„Wir sind hier in Innsbruck Gott sei Dank sehr gut interdisziplinär vernetzt und können mit dem Zentrum der Seltenen Krankheiten auf einen exzellenten Expert:innenpool zurückgreifen“, erklärt Sabine Rudnik. Das ZSKI sei mittlerweile über die Landesgrenzen hinaus bekannt und bekomme Zuweisungen aus ganz Westösterreich und Südtirol.
Das interdisziplinäre Team trifft sich einmal im Monat, um sich über schwer diagnostizierbare Fälle auszutauschen und dabei auch über den medizinischen Tellerrand zu blicken. Die Erkenntnisse über die Ursachen der zu 80 Prozent genetisch bedingten Erkrankungen sind ein wichtiger Schritt für die Verbesserung von Therapiemöglichkeiten und Prognosen: „Für Menschen, die eine seltene Krankheit haben, kommt zu der häufig erheblichen Belastung durch die Grunderkrankung das Fehlen von Spezialwissen über Krankheitsverläufe und Therapiemöglichkeiten“, unterstreicht Daniela Karall.
Die Bedeutung dieses Zugangs lässt sich vor dem Hintergrund absoluter Fallzahlen ermessen. Ein Krankheitsbild gilt dann als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Einwohner:innen an dieser Krankheit leiden. Hinter dem Begriff „Seltene Erkrankungen“ verbergen sich ca. 7.000 unterschiedliche Krankheiten, die in ihrer Gesamtheit etwa sieben Prozent der Bevölkerung betreffen. In Österreich ist also von rund 500.000 Patient:innen auszugehen. Aufgrund der Seltenheit der Krankheitsbilder sind Betroffene und ihre Angehörigen häufig mit besonderen Problemlagen konfrontiert. Der Nationale Aktionsplan für Seltene Erkrankungen (NAP.se) soll für die Betroffenen eine bessere Versorgung ermöglichen. Am 28. Februar ist der „Tag der Seltenen Erkrankungen“, an dem auf diese Problematik aufmerksam gemacht wird.
Anita Wieser ist seit dem lebensrettenden Eingriff wieder fit auf den Beinen und in engmaschiger Kontrolle, um erneute Gefäßerweiterungen rechtzeitig zu erkennen. Sie hat eine erwachsene Tochter, die bisher keine Merkmale der Krankheit zeigt. „In meiner Kindheit habe ich immer schon die Knie nach hinten gestreckt“, erzählt sie. „Mein früherer Hausarzt hat dann immer gesagt: Ja, das ist halt so.“ Nun hat die Patientin der Universitätsklinik Innsbruck nicht nur eine Erklärung, sondern auch eine Perspektive.
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