Wer die Klosterkirche der Franziskaner in Lienz durch die Tür neben dem linken Seitenaltar in Richtung Kreuzgang verlässt, bekommt das Fragment eines Freskos in seinen Blick, auf dem ein rätselhaftes Tier dargestellt ist: ein Vierbeiner, dessen Klauen ihn eindeutig als Paarhufer ausweisen, mit kegelförmigem Kopf, spitz zulaufenden Ohren und Ringelschwanz. Sein in der Mitte weniger pigmentierter Körper ist nahezu vollständig mit langen, stachelartigen Borsten, die sich entlang des Rückens zu einem Kamm sträuben, bewachsen.
Im Volksmund wie in der Fachliteratur wird das Tier wohl auch deshalb als „Stachelschwein“ klassifiziert. Wer aber seine Nomenklaturen bloß auf den Augenschein, auf äußerlich sichtbare Merkmale baut, ohne Zeit und Milieu der Geschöpfe des himmlischen wie des irdischen Künstlers mit auf die Rechnung zu setzen, darf sich nicht wundern, wenn ein Seepferd nicht wiehert oder ein Flughund nicht bellt.
Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen. Als in den ersten Nachkriegsjahren die gotischen Fresken der Kirche freigelegt wurden, knüpfte man neue alte Hoffnungen an sie: „Es ist nur zu wünschen, dass dieser verinnerlichte mystische Geist des herrlichen Gotteshauses langsam auch auf die Gläubigen übergehe und damit eine neue bessere Zeit einleite.“ Der Verfasser des kunstgeschichtlichen Beitrags in der zum 700jährigen Jubiläum des 1349 als Karmel gestifteten Klosters erschienenen Festschrift geht davon aus, dass die insgesamt acht mehr oder weniger vollständig erhaltenen Heiligenfiguren im Ursprung einem Zyklus von 14 Nothelfern vor dem Chor angehörten, „um mit den Gläubigen möglichst nahe dem Altare zu stehen und so an die Bittsteller mehr Gnaden verteilen zu können“, und weiter: „Der Freskentorso des Antonius Einsiedler mit dem Wildschwein lässt darauf schließen.“
Über dem Tier sind mit einiger Fantasie tatsächlich noch ein Schuh und der Gewandsaum einer Heiligenfigur zu erkennen, darunter aber eine Inschrift, die uns die Zeit der Entstehung der Fresken und deren Schöpfer verrät: Nikolaus Kenntner hat sie 1440 – „(M)illesimo Quadringentesimo Quadrage(si)mo (anno)“ – gemalt. Kenntner war der herausragende Lienzer Meister des zweiten Viertels des 15. Jahrhunderts, ein später Vertreter des „Weichen Stils“, der sich in sanft fließenden Gewandfalten ausdrückte, die weniger der Körperbewegung und der natürlichen Schwerkraft als einem kalligrafischen Formwillen folgten und so zum internationalen Figurenideal weniger Jahrzehnte vor und nach 1400 gerieten. Im naturalistischen Detail aber konnte sich ein Künstler nicht auf ein erprobtes Schema verlassen, und man darf annehmen, dort auch den Niederschlag seiner eigenen Naturbeobachtung zu treffen.
Schwein oder Wildschwein, das ist hier die Frage!
Was hätte der von München bis Wien liebevoll als „Sau-“ und bei uns in Tirol als „Fackentoni“ apostrophierte Heilige (hörenswert dazu der Podcast mit Pater Martin!) wohl mit einem Nagetier, als welches ein Stachelschwein ordnungsgemäß nun einmal gilt, anfangen sollen? Aber ist es möglich, dass ein Schwein oder auch ein Wildschwein im Jahr 1440 tatsächlich so aussah, wie es Nikolaus Kenntners Gemälde uns vorstellt? Ungeachtet der Tatsache, dass jede noch so objektiv erscheinende visuelle Wahrnehmung nur durch entsprechende bildliche Äquivalente, die dem zeitlichen und stilistischen Wandel unterworfen sind, ausgedrückt und kommuniziert werden kann, sind die Unterschiede im Leibesumfang, in der Behaarung und in der Färbung, die wir von unseren heutigen Fleischlieferanten gewohnt sind, erheblich. Ja, natürlich!
Das Studium der Natur wird man sich schon sehr früh dort erwarten, wo es darauf ankam, etwa Pflanzen und Tiere aufgrund ihres Aussehens zu identifizieren. Die British Library in London verwahrt eine 1440 illustrierte Version des „Tractatus de Herbis“, eines in der Lombardei gefertigten Handbuchs der Kräuterheilkunde für Ärzte und Apotheker. Dort wird auf Blatt 77 eine Pappel mit der Zeichnung eines Tieres assoziiert, das jenem auf dem Fresko der Klosterkirche – im wahrsten Sinne des Wortes – auf das Haar gleicht. „Porcina caro – Schweinefleisch“ lautet die lateinische Inschrift dazu.
Auf Blatt 5 ist ein sehr ähnliches Tier mit „Aper sive verrus“ bezeichnet, was, da die deutsche Sprache nur ein einziges Wort dafür kennt, soviel wie „Wildschwein oder Wildschwein“ bedeutet. In jedem Fall aber scheint das Fehlen des hellen Streifens um die Körpermitte so ziemlich das einzige Merkmal gewesen zu sein, welches das Tier um 1440 von seiner domestizierten Verwandtschaft zu unterscheiden erlaubte.
Antonius war der erste jener früchristlichen Anachoreten, die sich gegen Ende des 3. Jahrhunderts in die ägyptische Wüste zurückzogen, und das Schwein wird auch als Symbol der teuflischen Versuchungen, denen er dort vielfach ausgesetzt war, gedeutet. Die nach ihm benannte Laienbruderschaft der Antoniter wurde 1247 als Hospitalorden bestätigt, der sich auf die Behandlung des „Antoniusfeuers“ spezialisierte. Diese im Mittelalter äußerst gefürchtete Krankheit wurde durch den Verzehr von Mutterkorn ausgelöst, einem Pilz, der sich bevorzugt an Roggenähren festsetzte und beim Mahlen leicht übersehen wurde. Sein Gift verursachte Kreislaufstörungen, Atemlähmungen, sogar Nekrosen bis hin zum Absterben von Fingern und Zehen. Es war in den Dorfgemeinschaften üblich, dem Bettelorden Schweine zu überlassen, die dann mit einem Glöckchen um ihren Hals gekennzeichnet wurden, um nicht versehentlich mit den Schweinen der Bauern geschlachtet zu werden.
„Oh Heil’ger Antonius von Padua, du kennst uns ja!“
Antonius der Abt, wie er auch genannt wird, hat selbst niemals ein Kloster gegründet und stand auch nie einem vor. Das griechische Wort „Abbas“ bezeichnete um 360, als Athanasius von Alexandrien die Biografie des Mönchsvaters niederschrieb, einen in langjähriger Askese geübten älteren Mann und ein Vorbild für jeden, der das auch werden wollte. Etliche weitere Beinamen, Antonius der Einsiedler, Antonius der Große oder Antonius von Koma – einem antiken Dorf in Mittelägypten – sollten aber nicht nur an seine Herkunft, seine Verdienste und seine Lebensweise erinnern, sondern ihn auch vor Verwechslungen mit einem fast tausend Jahre jüngeren, dafür aber inzwischen weit populäreren Namensvetter, dem hl. Antonius von Padua, schützen – mit durchwachsenem Erfolg allerdings.
In seiner Bildergeschichte „Der heilige Antonius von Padua“ hat Wilhelm Busch, exakt zu Beginn des preußischen Kulturkampfes, gleich mehrere katholische Heiligenviten miteinander vermischt. Immerhin aber glaubt der streng protestantisch erzogene Dichter zu wissen, wie der Himmel den Eremiten, der nach etlichen erfolgreich überstandenen Anfechtungen beschloss, den verbleibenden Rest seines Lebens betend und fastend in Einsamkeit zu verbringen, am Ende doch noch mit einem treuen Gefährten belohnte:
„Und siehe da! – Aus Waldes Mitten
Ein Wildschwein kommt dahergeschritten,
Das wühlet emsig an der Stelle
Ein Brünnlein auf, gar rein und helle,
Und wühlt mit Schnauben und mit Schnüffeln
Dazu hervor ein Häuflein Trüffeln.“
Zum Schluss sei, nach all den Deutungsversuchen, doch noch erwähnt, dass Hermann Wiesflecker, der die neu aufgedeckten Fresken als erster einer geschichtlichen Würdigung unterzog, das Ganze für einen Schabernack hielt – des Malers oder eines späteren Rivalen: „Das Bild selber ist verschwunden und daher unserem Urteil entzogen; der kleine Scherz aber hat die Jahrhunderte herauf überdauert und manch fröhliches Schmunzeln ausgelöst. Wenn ich das lustige Signum recht verstehe, möchte ich mir denken, dass es prächtige Menschen gewesen sein müssen, die Meister, die also schalkhafte Späße trieben und wohl auch am eigenen Leib gelassen litten; nicht minder die Kirchherrn, die an solch neckischem Spiel an geistigem Ort nichts Arges fanden.“
Den Heiligen Antonius, dessen Gedenktag der 17. Januar ist, zog Osttirols berühmtester Historiker nicht in Erwägung.
In unserer Serie künstlerischer Meisterwerke schärft der Kunsthistoriker Rudolf Ingruber – Dolomitenstadt-Leser und -Leserinnen kennen ihn auch als launigen Randnotizen-Schreiber – den Blick auf insgesamt 20 bedeutende Kunstwerke im öffentlichen Raum Osttirols. Denn schließlich gilt: Man sieht nur, was man weiß. Als Fotograf begleitet Helmut Niederwieser diese Kunstdokumentation von dolomitenstadt.at.
3 Postings
In vielen mittelalterlichen Darstellungen(zB im Stundenbuch von Duc de Berry) ähneln die damaligen Hausschweine mehr oder weniger schlanken Wildschweinen.
Dolomitenstadt bürgt offenbar - wie auch schon bei der Deutung der Fresken in der Kriegergedächtniskapelle - für Meinungsvielfalt. Bei Fragen der Speziesbestimmung scheint der Kunsthistoriker auch gebildeter zu sein als der Geistliche. Großes Lob an Hrn. Ingruber für den gelungenen Artikel.
Super
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