Heterotopien sind „andere Räume“, die es im Unterschied zu den Utopien, den „Nicht-Orten“ oder dem „Nirgendwo“, tatsächlich gibt. Für den französischen Philosophen Michel Foucault setzen sie unvereinbar scheinende Orte zueinander in Beziehung und manchmal verkehren sie den Raum außerhalb ihrer selbst in ihr Gegenteil. Im besten Fall repräsentieren sie eine Ordnung, die der verwirrende Alltag nicht hergibt. Sie sind Orte der – biografischen, soziologischen usw. – Entscheidung, deren Betretung bestimmter Riten bedarf. Auch die katholische Pfarrei, der Pfarrsprengel, der Seelsorgeraum, sind Heterotypien. Der Zutritt ist seit Jahrhunderten durch die Sakramente geregelt. Die Siedlungsgebiete, in denen sie stattfinden, und deren Gesellschaft haben sich aber im Lauf der Geschichte gewandelt.
Waren Orte im Mittelalter – die Burg, die Abtei, die Stadt und das Dorf, die geschützte und die wehrlose Ortschaft – entsprechend der Herrschaftspyramide geordnet, so ist für die von Foucault 1967 untersuchte Gegenwart eine durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten oder Elementen definierte „Lagerung“ charakteristisch. „Beim Problem der Menschenunterbringung geht es nicht bloß um die Frage, ob es in der Welt genug Platz für den Menschen gibt, es geht auch darum zu wissen, welche Nachbarschaftsbeziehungen, welche Stapelungen, welche Umläufe, welche Markierungen und Klassierungen für die Menschenelemente in bestimmten Lagen und zu bestimmten Zwecken gewahrt werden sollen.“
„lm Mai dieses Jahres, in einer Zeit, da die Heere Großdeutschlands eben zu der größten Vernichtungsschlacht aller Zeiten angesetzt hatten, als unsere Divisionen siegreich durch die Maginot-Linie stürmten und als sich im Artois mehr und mehr der »siegreiche Rückzug« der Briten abzeichnete, da wurde im deutschen Dolomitenstädtlein Lienz der Grundstein zu einer großzügigen Siedlungsaktion gelegt. Nichts könnte die Stärke Großdeutschlands mehr dokumentieren als die Tatsache, daß wir im Kriege verhältnismäßig mehr Wohnungen bauen als jemals zuvor.“ Anlass zu diesem in der Lienzer Zeitung vom 21. September 1940 kolportierten Jubel gab das Richtfest für 196 Wohnungseinheiten am Mühlanger, der Südtiroler Siedlung in Lienz. Die Grödner Holzschnitzer, die sich aufgrund eines Abkommens zwischen Hitler und Mussolini hier niederließen, waren schon bald mit der Herstellung von Arm- und Beinprothesen für Großdeutschlands Kriegsversehrte beschäftigt.
Fünf Jahre später hatte sich die Utopie des Tausendjährigen Reiches als Dystopie ausgezeitigt und dem „Dolomitenstädtlein“ ganz andere Unorte vererbt. Die Barackenlager an der Lienzer Peripherie, im Grafenanger und in der Peggetz, sind in diesem Sinn weniger Räume zur Unterbringung von Menschen, das Verhältnis zu ihren Bewohnern – Zuwanderern, Gefangenen oder Flüchtlingen – definierte vielmehr die Beziehung zu anderen Staaten und mithin auch die Identität, das Selbstbild der autochthonen Gesellschaft. Jedenfalls aber war aufgrund dieser Problemlage die Lienzer Bevölkerung seit 1938 um mehr als ein Viertel gewachsen. Anfang der Fünfzigerjahre begann man daher mit der Schaffung von neuem Wohnraum, der südlich an die Südtirolersiedlung unmittelbar anschließenden Friedensiedlung.
Die triumphale Geste von Walcheggers Fresken an den beiden Häusern in der Wolkensteinerstraße, die zwar nicht zur Südtirolersiedlung gehören, aber gleichsam Auftakt und Eintritt zur nationalsozialistischen Wohnbaupolitik in Lienz symbolisieren, ist im Fassadenschmuck der ersten Häuser der Friedensiedlung bescheidenen Tönen gewichen: In Sepp Defreggers Wandbild von 1956 sind Hakenkreuzfahne und Hitlergruß durch das mit „Hollandspende“ betitelte niederländische Wappen ersetzt und eine letztlich den gesamten Ort prägende Ikonografie wird etabliert, der ein Jahr später auch Franz Walchegger folgt – das Thema der alle Lebensalter umfassenden Familie, das auch ein ab 1960 realisiertes Bauvorhaben von Beginn an grundierte: die im Schnittpunkt der beiden Siedlungen von den Architekten Otto Gruber und Hans Buchrainer erbaute Pfarrkirche zur Heiligen Familie.
Dem am 9. September 1963 geweihten Gebäude wurde gelegentlich seine Modernität abgesprochen, da es, noch vor dem Abschluss des Zweiten Vatikanums vollendet, architektonisch noch die alte Messordnung bedient. Die Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ jedoch hat für Kirchenbauten, außer der dringenden Empfehlung, „sorgfältig darauf zu achten, dass sie für die liturgischen Feiern und für die tätige Teilnahme der Gläubigen geeignet sind“, keine genauen Richtlinien formuliert, im Gegenteil: Sie bekennt sich ausdrücklich zur „Sonderart eines jeden Zeitalters“ und zur Freiheit der Kunst, „sofern sie nur den Gotteshäusern und den heiligen Riten mit der gebührenden Ehrfurcht und Ehrerbietung dient.“
Auch der Funktionalismus des neuen Bauens ist bei genauem Hinsehen nicht neu: Kirchengebäude dienten schon immer einer bestimmten Funktion, nämlich der in der jeweiligen historischen Epoche gültigen Abhaltung des Gottesdienstes. Liturgie ist aber nichts Starres, Unveränderliches, sondern einem steten Wandel unterworfen. Selbst die 1570 von Pius V. geforderte „Missa perennis“, die angeblich auf die Apostel zurückzuführende „Messe aller Zeiten“ wurde bis zur Liturgiereform um 1970 mehrmals erneuert. Das Erscheinungsbild einer Kirche ist daher niemals nur Ausdruck des Zeitgeschmacks, und der beste Beweis dafür in den geschmacklichen Entgleisungen zu finden, welche die Anpassung an veränderte Funktionen nicht selten nach sich zieht.
Als nicht verhandelbar galten bis dahin jedoch das Latein und die vom Priester mit dem Rücken zum Publikum angeführte Gebetsrichtung „in orientem“, nach Osten. Die schon von Pius X. 1903 geforderte „Partizipatio actuosa“, die „tätige Teilnahme der Gläubigen an den hochheiligen Mysterien“ beschränkte sich weitgehend auf den Volksgesang und das Beten des Rosenkranzes. Hingegen ist seit der Liturgiereform, nach welcher der Priester sich dem Kirchenvolk zuwendet, um es in seiner Muttersprache zu adressieren, zwischen Frontalunterricht und Fishbowl-Methode allerhand möglich. Allerdings ist der Sesselkreis mit dem Volksaltar in der Mitte auch keine echte Alternative zur alten Ordnung, da er notwendigerweise auch Perspektiven anbietet, die erneut auf die Rückenansicht des Zelebranten abzielen.
Der weiträumige Saal der Kirche zur Heiligen Familie verzichtet auf die traditionelle Gliederung des Langhauses, lediglich vier Rundpfeiler und die ab diesem Bereich bis zur nördlichen Trauflinie ansteigende Decke sondern ein linkes Seitenschiff mit eigenem Altar aus, das sich jenseits der Raumgrenze unter dem weit vorkragenden Dach wiederholt. Hier, im Außenbereich – pro fanum, vor dem Heiligtum – werden zur Hauptsache von der Gemeinde, abseits des Messopfers getragene Feierlichkeiten abgehalten: Agapen, das Pfarrfest, der Erntedank, sogar Tiersegnungen finden hier statt. Die mittleren drei der fünf Pfeiler, welche die Last des Gebäudes an der Nordseite tragen, bilden durch ihre Querverstrebungen mit den eingestellten Mauersegmenten eine Gruppe von Kreuzen, die eine Deutung – außen wie innen– als Golgota nahelegt.
Die spätere Verdoppelung und in jüngster Zeit sogar die Verdreifachung der Leidensgeschichte im Kircheninneren sind aus diesem Blickwinkel redundant. Nicht der Bildschmuck erschließt das ursprüngliche Raumkonzept, sondern das Tageslicht, das den Saal durch die schmalen Fensterbänder im Norden und durch die vier Plexiglaskuppeln an der Decke erhellt. Die Neigung der Decke gegen Osten in Richtung Apsis, beschleunigt die Raumflucht, die dadurch länger erscheint, als sie ist. Durch den Kontrast mit dem aus einem breiten, über dem Presbyterium gelegenen Fenster an der Westseite des Turmes einströmenden Licht wird sie zu jenem dunklen, „merkwürdigen viereckigen Saal“, als den Foucault die Heterotypie des Kinos beschreibt. Nur, dass hier an die Stelle der dreidimensionalen Raumprojektion auf der Kinoleinwand das Mysterium des Messopfers tritt.
Sakralräume sind, neuplatonisch gesprochen, Abbilder einer Idee – oder auch nur einer Idealisierung. Knapp vor dem ersten Bericht über das Bauvorhaben veröffentlichte der Osttiroler Bote den „Versuch einer Inhaltsangabe eines geistvollen Vortragsabends“ zum Thema „Eros und Sexus im Film“. Der sozialen Entwicklung der Nachkriegszeit wird das „Aufkommen eines neuen Matriarchates“ bescheinigt und eine „empfindliche Abwertung der männlichen Autorität“. Zum Schluss wird für den katholischen Standpunkt auch noch Gertrud von le Fort strapaziert, die die „ewige Sendung der Frau, die Dämonen der Zeit durch den Schmerz des permanenten Unterliegens zu läutern“ im absoluten Kontrast zum filmischen Rollenbild glaubt erkennen zu müssen.
Den Ausweg aus diesen unvereinbaren und aus heutiger Sicht geradezu unappetitlichen Extremen hat Jos (damals noch Josè) Pirkner in seinem monumentalen Betonglasfenster im Eingangsbereich formuliert: Stilistisch zwischen ottonischer Buchkunst und hochgotischer Glasmalerei oszillierend, stellt er in leuchtenden Farben aus den spärlichen biblischen Angaben, im Kontext von Hirtenanbetung und Huldigung durch die Drei Weisen, eine Heilige Familie zusammen, die, nicht perspektivisch, sondern hierarchisch geordnet, das Kleinkind zum ranghöchsten Mitglied erklärt.
Wird dem Besucher untertags dieses Ideal beim Verlassen der Kirche vor Augen gestellt, so schlägt der Effekt in der Dunkelheit, namentlich bei der Christmette, um: Durch den künstlich erleuchteten Innenraum strahlt das gläserne Mosaik nun nach außen und erzählt, flankiert von Pirkners Portalskulpturen – Verkündigung und Flucht nach Ägypten – anlassbezogen die ganze Geschichte.
In unserer Serie künstlerischer Meisterwerke schärft der Kunsthistoriker Rudolf Ingruber – Dolomitenstadt-Leser und -Leserinnen kennen ihn auch als launigen Randnotizen-Schreiber – den Blick auf insgesamt 20 bedeutende Kunstwerke im öffentlichen Raum Osttirols. Denn schließlich gilt: Man sieht nur, was man weiß. Als Fotograf begleiten Helmut Niederwieser und Wolfgang C. Retter diese Kunstdokumentation von dolomitenstadt.at.
7 Postings
Fernab von jeglicher Kleinkrämerei über Bergbahnen, Rodelwege, Wolf und gerissenen Geißlein etc. gehören die Beiträge von Rudolf Ingruber zum Besten, was dolomitenstadt.at zu bieten hat. Eine Tatsache, die dieses Medium über alle anderen signifikant emporhebt! Vielen Dank dafür!
@aenda: dem ist nichts hinzuzufügen
Vielleicht auch als Plädoyer für einen pfleglicheren Umgang mit den Bauten dieses Architektenduos in Lienz zu lesen, welche entweder längst geschliffen und durch gesichtslose Einheitsarchitektur ersetzt wurden oder in ignoranten Händen einem ähnlichen Schicksal entgegen sehen.
@aenda: was sind/waren diese anderen Bauten in Lienz? (und nix für ungut: geschleift)
Kino Wanner, z.B.
Finanzamt, Bezirkshauptmannschaft, GYM-Lienz, "alte" Infektionsstation" BKH - heute Haus Nord, Nordschule, Gemeindeforum Debant, - alle schönen Gebäude halt.
kino wanner war noch ein kino.
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