„Pflegexit“? So steht es um die Pflege in Osttirol
Der Bezirk entpuppt sich als Fels in der Brandung, doch die Zukunft wird herausfordernd.
„Es ist fünf nach zwölf“ – Die Tiroler Landesspitze des Gewerkschaftsbundes zeichnete bei einem Medientermin am Donnerstag in Lienz ein düsteres Bild für den Pflegebereich. Ungerechte Entlohnung, fehlende Wertschätzung, Personalmangel und die hohe Belastung würden die Situation auch in Tirol zunehmend verschärfen.
ÖGB-Landesvorsitzender Philip Wohlgemuth, Landessekretär Benjamin Praxmarer und der Osttiroler Regionalvorsitzende Willi Lackner sehen einen „akuten Bedarf an Mitarbeitern“. Das Trio legt Zahlen vor: Laut Statistik Austria wird die Zahl der Über-80-Jährigen in Tirol bis 2040 um rund 111 Prozent zunehmen. Expert:innen gehen bis zum Jahr 2030 von einem österreichweiten Mehrbedarf an Pflege- und Betreuungskräften von rund 76.000 Personen aus. „20,4 Prozent der Osttiroler Bevölkerung sind bereits 65 oder älter. Es ist daher allerhöchste Zeit, die Weichen für eine gute soziale Infrastruktur zu stellen“, warnt Lackner.
Spricht man vor Ort mit Entscheidungsträgern aus dem Berufsfeld, erscheint Osttirol als sprichwörtlicher Fels in der Brandung. Im Pflegebereich dürfte der Bezirk wesentlich besser aufgestellt sein als viele andere Regionen. So sieht etwa Franz Webhofer, der Leiter der vier Pflegeheime in Lienz, Matrei, Sillian und Nußdorf-Debant, „keineswegs einen Pflegenotstand. Im Gegensatz zu anderen Regionen Tirols und Österreichs haben wir im Bezirk Lienz eine relativ günstige Situation. Einen Überschuss an Pfleger:innen haben wir aber auch nicht.“
323 Pflegekräfte arbeiten in den vier Heimen, in denen derzeit 450 Betten belegt sind. 2016 kamen am neuen Standort in Nußdorf-Debant 90 Betten dazu. „Wir haben damals 66 neue Arbeitskräfte gebraucht und gefunden. Da haben wir den Markt quasi selbst leergeräumt und es ist uns gelungen, Personal aufzubauen“, erinnert sich Webhofer.
Derzeit sind in Osttirols Altenheimen nur sieben Stellen vakant, einzig in Sillian drückt der Schuh. Dort ist die Schlagkraft um vier Pfleger:innen gesunken, die restlichen Mitarbeiter:innen mussten vorübergehend ihr Pensum steigern. „Das ist aber keine Dauerlösung, deshalb haben wir sechs Betten gestrichen. Die füllen wir wieder auf, wenn wir die Stellen nachbesetzt haben“, so Webhofer. Für ein Bett in einem der vier Pflegeheime stehen die Leute Schlange: „Wir haben lange Wartelisten“. Deshalb sei es wichtig, ständig neue Kräfte zu akquirieren.
Und Nachschub ist in Sicht. In Lienz gibt es mit dem „Zentrum für Gesundheitsberufe“ eine schlagkräftige Ausbildungsstätte, die die Betriebe im Bezirk mit Personal versorgt und eine zentrale Rolle im Osttiroler Pflegesystem spielt. Nach der Novellierung des Gesundheitsgesetzes im Jahr 2016 wurde die Ausbildung umgekrempelt. Neben der einjährigen Ausbildung zur Pflegeassistenz und dem zweijährigen Lehrgang „Pflegefachassistenz“ wird hier seit 2019 ein Bachelor-Studiengang für angehende Pfleger:innen angeboten. Im Herbst 2022 schließt der erste Jahrgang das dreijährige Studium ab.
Die Zahl der Bewerber:innen zeigt, dass sich in Osttirol viele junge Menschen bewusst für eine Karriere in der Pflege entscheiden. Das war schon so, als Corona noch ein mexikanisches Bier war. Derzeit befinden sich am Standort Lienz etwa 110 Personen in Ausbildung, das Studium nehmen pro Jahr zwischen 22 und 26 Menschen auf. Angeboten werden 32 Plätze, die auf einer Bedarfserhebung des Landes beruhen.
„Wir sind mit der Bewerbersituation sehr zufrieden. Die Zahlen werden auch dem Bedarf im Bezirk gerecht. Ob das in fünf oder zehn Jahren auch noch so ist, ist eine andere Geschichte. Mehr wünscht man sich natürlich immer und das würden wir auch meistern“, betont Standortleiter Stefan Ebner. Auch in den umliegenden Regionen wird das Angebot angenommen, derzeit studieren beispielsweise zehn Südtiroler:innen in Lienz. Im kommenden Frühjahr startet eine neue Teilzeit-Ausbildung, ehe der Campus in einen Neubau neben dem Krankenhaus übersiedelt.
Zurück in den Berufsalltag. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie wird landesweit von „Aussteigern“ berichtet, die sich vom Pflegebereich abwenden. „Die Drop-Out-Quote im Pflegebereich ist überdurchschnittlich hoch“, warnt Lackner. Seinen Eindruck bestätigt eine Studie von Krankenschwester Alexandra Gferer und Soziologin Natali Gferer. Während der dritten Corona-Welle führten die beiden eine repräsentative Online-Befragung unter 2.470 Krankenpfleger:innen in österreichischen Krankenhäusern durch. Das Ergebnis: 45 Prozent der Pflegepersonen im Akutbereich denken an einen Berufsausstieg.
Auch diese Entwicklung beobachtet Webhofer „in Osttirol eigentlich überhaupt nicht“. In den Pflegeheimen habe nur eine Person wegen der zusätzlichen Belastungen durch die Pandemie die Segel gestrichen. Ebner, der selbst ausgebildeter Krankenpfleger ist, weiß, „dass die Situation durch die Pandemie verschärft wurde. Ein Ausstieg ist für mich aber kaum vorstellbar, dieser Beruf ist ja eng mit einer sozialen Einstellung verbunden. Die gibt man nicht einfach auf.“
Die nächsten Jahrzehnte werden in Sachen Bedarf und Personal aber eine echte Challenge. Darin sind sich Webhofer, Ebner und die Gewerkschafter einig. „Man muss die demographischen Entwicklungen berücksichtigen. Die Jahrgänge werden zahlenmäßig schwächer, die Babyboomer-Generation wird alt“, so Ebner. Weil Osttirol aber gut aufgestellt ist, könne der Bezirk diese Herausforderung meistern – „wenn man es richtig angeht.“
Die Gewerkschafter wollen mit einem Maßnahmenpaket, das an die Landesregierung übermittelt wurde, „vernünftige Rahmenbedingungen für Beschäftigte und pflegende Angehörige schaffen.“ Letztere sind Lackner besonders wichtig, „weil der überwiegende Teil der Pflege zu Hause passiert.“ Das Papier des ÖGB wurde im Austausch mit Betroffenen erstellt und umfasst 41 Punkte, darunter eine 35-Stunden-Woche, eine sechste Urlaubswoche, faire Entlohnung, Anstellung pflegender Angehöriger beim Land und eine Obergrenze für Überstunden.
Weil die Situation in vielen Regionen Österreichs wesentlich prekärer als in Osttirol ist, werden die Rufe nach einer Pflegereform immer lauter. Auch Stefan Ebner denkt, dass es eine Reform braucht. Er schlägt ein einheitliches Gehaltsschema und mehr Wertschätzung vor. Auch Webhofer sieht darin eine Chance, auf den künftigen Bedarf zu reagieren. „Wichtig ist aber, dass man es richtig angeht“, so der Heimleiter.
Für Osttirol berge eine Reform die Gefahr, das derzeit „ extrem hohe Niveau in den Heimen zu verlieren. Gibt es eine Vereinheitlichung, bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder die besseren Regionen passen sich den schwächeren Bundesländern an oder umgekehrt.“ Unabhängig davon ist Webhofer zuversichtlich, „dass wir im Bezirk auch die kommenden Aufgaben gut meistern werden.“
16 Postings
Wo bleibt die Pflege-Reform, welche uns die Bundesregierung heuer versprochen hat? Ach ja, die Regierungskriese, da wird sie wohl erst im nächsten Jahr kommen. Letztes Jahr war Corona Schuld daran, was wohl Schuld ist, dass sie im 2022 Jahr nicht kommt? In der Tiroler Landesregierung wurde bei der letzten Klausursitzung der Regierung dazu kein Wort erwähnt. Ach der Corona-Bonus, von der Bundesregierung ist immer noch nicht ausbezahlt worden, so schaut Wertschätzung aus! Na ja, Pflegenotstand gibt es ja nicht!!! Nur weiter so!
Gerade eine Studie gelesen, 4 von 10 Pflegekräfte denken intensiv an einen Jobwechsel nach. Viele sagen das sie aus Solidaritätsgründen die Zeit der Pandemi noch durchhalten werden und dann hinschmeißen. Liebe Verantwortliche, das gilt auch für Osttirol, nur bei uns kommt halt alles ein wenig später.
Pflegepersonal wird nicht angestellt, der Pflegeschlüssel jahrelang nicht erhöht, das Tagesprofil auf das Minimum reduziert, die Anforderungen an die Pflege steigen. Massive Überstunden, Krankenstände, Ausgebranntsein sind die Folge. Durch Erhöhung des Gehaltes wird sich nichts ändern. Zufriedene Mitarbeiter bekommt man durch familienfreundliche Arbeitszeiten, keine Überstunden, Wertschätzung, sowie Zeit für die Patienten.
ich kenne Ebner Stefan, er ist sicher nicht jemand der alles schön redet, dafür war er zu lange selber am Patienten und hat zu viel Weitblick. Und jetzt kommt mein aber: die Leute auszubilden, ist das eine. Dann aber die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Pfleger und Pflegerinnen auch bleiben, ist das andere. Und da hat ausschließlich die Politik dafür zu sorgen, sonst wird es auch für sie einmal niemanden mehr geben, um sie zu pflegen. Das Thema Pflegenotstand gibts jetzt doch schon seit 2Jahrzehnten, aber kein Gesundheitsmnister hat etwas wirkliches dagegen getan. Und was macht eigentlich der Krankenpflegeverband? ist der nicht die Vetretung dieses Berufszweiges?
Hr. Webhofer sollte wirklich einmal mit seinem Personal und Hr. Ebner mit seinen früheren Kollegen sprechen, bevor sie die Situation der Pflege so märchenhaft beschreiben. Schlechte, seit Jahren nicht evaluierte Personalschlüssel, massive Überbelastung, keine Wertschätzung, fehlender Tag- Nachtrhythmus, deutlicher Anstieg von Klienten mit dementiellen Erkrankungen .... hinterlassen bei jedem mit der Zeit seine Spuren, meist körperlich und seelisch. Soziale Einstellung könnten auch die verantwortlichen im Pflegebereich einmal zeigen und endlich eine Pflegereform starten und nicht nur diskutieren.
Die drei Herren machen positive Stimmung, wogegen erst einmal mal nichts zu sagen ist. Der Grund ihrer Motivation allerdings scheint mir hauptsächlich darin zu liegen, sich selbst für die "Oberen" gut dar zu stellen und das finde ich unfair, den vielen fleissigen Menschen gegenüber in den Pflegeberufen.
hmmm, die drei ögb funktionäre sind reine populistische kasperln, wenn ihnen etwas an dem wichtigen thema liegen würde, hätten sie den bereich der mobilen pflege und derer vielen mitarbeiter auch einbinden müssen.
Herr Webhofer, Leiter der 4 Senioren-Wohnheime, zeichnet im Artikel weitgehend ein erfreuliches Stimmungsbild in seinen Pflegeheimen. Wie nah ist Herr Webhofer an der Basis des Pflegepersonals?
Die Stimmungslage aus meinem Bekanntenkreis ist eine andere und bei weiten nicht so positiv. Ich höre, dass die Pflegerinnen aus ihrer Sicht durchaus einen schönen Beruf erlernt haben. Die Situation im Berufsalltag des Pflegebereichs sei aber stressig, darüber psychisch und physisch sehr belastend. Das Ansehen in der Öffentlichkeit sei schon in Ordnung, jedoch im eigenen Bereich komme gerade die Anerkennung meist zu kurz. Vielfach stehe das Pflegepersonal unter sehr hohen Arbeitsdruck, dafür sei der Lohn bestimmt nicht überbezahlt. Das Pflegepersonal gesteht sich kaum ein, wie erschöpfend ihre Arbeit sie tagtäglich fordert. Die Corona-Pandemie hat zudem das Ganze verstärkt. Es zeichne sich ein Bild, dass viele aus den Pflegeberufen nach Jahren Vollzeitarbeit ausgelaugt sind. Anerkennung, mehr Arbeitskräfte und Arbeitszeitkürzung stehen jedoch meist an oberster Stelle des Stimmungsbildes, welches sich die PflegerInnen wünschen.
Die Online-Befragung unter 2.470 KrankenpflegerInnen, dass 45% des Pflegepersonals an einen Berufsumstieg denkt, wird wohl in Osttirol sohin auch zutreffend sein.
Wenn sechs Betten leer stehen weil kein Personal zu bekommen ist ist das für mich sehr beunruhigend! Wenn man von den Verantwortlichen im Pflegeheim Auskunft bekommt, dass man mit einer Wartezeit von bis zu 1 Jahr rechnen muss beunruhigt mich das noch viel mehr! Wenn wir jetzt schon diese Probleme haben, was machen wir dann bei den zu erwartenden Steigerungen?
Die Menschen hinter dem Schreibtischstuhl sehen die Welt offenbar häufig anderst, als jene die vor dem Krankenbett stehen.
Wie nennt man das? Im Pflegeheim stehen Betten leer, weil Personal fehlt! In den Sprengeln gibt es Wartelisten, weil Personal fehlt! Bei Stellenausschreibungen gibt es keine Bewerbungen, weil kein ausgebildetes Personl vorhanden ist! Bestehendes Personal muss daher über ihr gewünschtes Beschäftigungsausmaß arbeiten, weil kein ......vorhanden ist!
Wie nennt man das ?
wie nennst du es?
Ich nenne es "Personalnotstand in der Pflege"! Das hat zur Folge, dass eine ausreichende Betreuung nicht möglich ist! Im Landhaus würde man sagen: "Es ist alles richtig gemacht worden!"
@alles gut: nicht im Landhaus, sondern nach dem Stimmungsbild des Herrn Webhofer ist weitgehendst alles richtig gemacht worden.
allerdings ist die formulierung im interview recht interessant:
"In den Pflegeheimen habe nur eine Person wegen der zusätzlichen Belastungen durch die Pandemie die Segel gestrichen".
pandemie oder rauher wind?
Osttirol als Fels in der Brandung,kein Pflegenotstand .....leider wird wieder mal Vieles schön geredet im Bezirk. Vielleicht sollten die Verantwortlichen mal mit Menschen sprechen, die in Osttirol in der Pflege arbeiten oder mit Angehörigen von Pflegebedürftigen.
Für Osttirol berge eine Reform die Gefahr, das derzeit „ extrem hohe Niveau in den Heimen zu verlieren.
Soll das heißen, man soll Pflegeberufe nicht attraktiver machen, weil dann anscheinend Menschen, die sich nicht komplett ausnutzen lassen wollen, in den Bereich kommen?
Sie müssen angemeldet sein, um ein Posting zu verfassen.
Anmelden oder Registrieren