Im August 2020 lud dolomitenstadt.at eine Gruppe von Berliner Fotografinnen und Fotografen – allesamt ausgebildet an der renommierten Ostkreuzschule für Fotografie – zu einem einwöchigen Artist in Residence Aufenthalt nach Osttirol ein. Die Teilnehmer:innen hatten sich im Vorfeld mit konkreten Konzeptideen beworben, aus denen ein Ansatz herausstach.
Lena Maria Loose hatte das wohl surrealste Buch aus dem Regal geholt, das je über Osttirol geschrieben wurde. Die blaue Leiter von Christoph Zanon. Heuer im März wäre der 1997 verstorbene Autor 70 Jahre alt geworden. Die blaue Leiter, erschienen 1988 im Haymon Verlag, ist ein Panoptikum der wilden Träume eines Eingekesselten, der erst beim Ausbruch in die Natur Befreiung findet. Zwischen diesen beiden Polen pendelt nicht nur das Buch, sondern auch Looses fotografische Hommage an Zanon.
Die Wahl-Berlinerin, die aus dem Ruhgebiet stammt, erliegt dabei nicht der Versuchung, literarische Szenen fotografisch nachzustellen, sondern reflektiert Zanons Sprachbilder collageartig in einer Serie sorgfältig komponierter visueller Stimmungsskizzen. Die Blaue Leiter – und nicht nur dieses Buch Zanons – kreist um das Lebensgefühl in einer traditionalistisch-konservativ geprägten Randregion, wie der Bezirk Lienz in den achtziger Jahren eine war.
Wie Zanons literarischer Fluchtversuch gewinnt auch die Fotoserie ihre Spannung aus radikalen Brüchen. Hier beklemmende Enge, verwirrend, rauschhaft trüb, ein Labyrinth aus Begegnungen, dunklen Traumbildern, erotischen und auch mystischen Denk- und Bildfragmenten, dort plötzlich ein Ausgang in die Klarheit, ein vorgezeichneter Weg, hinauf und hinaus über die Berge in langer Wanderung zu einem weit entfernten Ort.
Zanons nächtliches Irren durch ein Labyrinth aus Gängen und Zimmern mag streckenweise an Kafka erinnern, doch ihm gelingt die Befreiung. „Ich war ja erst einen Tag unterwegs und hatte noch keinen Begriff bekommen von der Größe der Welt! Manchmal wurde mein Gehirn taub von der Müdigkeit, die Melodie der Sprache klang friedlich in meinen Ohren: aufwachend suchte ich nach der Bedeutung der Wörter.“ Wie Jahre später in Schattenkampf wählt Zanon in Die blaue Leiter das Bild von Nacht und Tag, gezeichnet als ein Durchwandern von exzess- und rauschhafter Dunkelheit hinein in die lichte Befreiung des Morgens. Eng ist ihm die Kleinstadt mit ihren bürgerlichen Zwängen, die seinen widerständigen Geist erschöpfen. Er will sich in der Welt spüren, sucht nach einem Draht zu den Menschen, denen er begegnet, in Gesprächen, die immer wieder ins Philosophische abgleiten.
Suchend befreit sich auch Lena Loose Schritt für Schritt mit ihrer Kamera von Zanons literarischer Vorlage, lässt sich schließlich nur noch von seiner Stimmung anstecken und kreiert ihr eigenes Osttirol-Bild, als Collage einer Seelenlandschaft, die mit der des Autor verwandt ist. „So explizit einer Fiktion entlang zu arbeiten, das hab ich so noch nie gemacht“, erzählt die Fotografin, „aber es hat mich gereizt und wurde zu einem Experiment. Die Bilder sind so abstrakt wie die Sprachbilder im Buch. Was bleibt ist eine Idee, ein Gefühl.“ Hier einige weitere Bilder aus der Serie in einer Slideshow:
Lena Maria Loose stammt aus dem Ruhrgebiet. Sie studierte in Berlin Kunstdidaktik und Medienwissenschaft bevor sie an die Ostkreuzschule für Fotografie kam und dort die Klasse von Ludwig Rauch abschloss. Sie arbeitet beruflich an der Universität der Künste Berlin und ist als Fotografin vor allem sozialdokumentarisch unterwegs, meist vor der eigenen Haustüre, etwa in der Rummelsberger Bucht in Berlin, wo ihre bisher bekannteste Bildserie „Bucht“ über schwindende Freiräume und städtischen Wandel entstand.
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