Geboren und aufgewachsen ist Victoria Kirchmair in Innsbruck. Seit einigen Jahren ist Osttirol ihre Wahlheimat. Ich will etwas über ihr Leben, über ihren Alltag als Gehörlose erfahren. Wir sitzen am Balkon ihrer kleinen Wohnung in Lienz, mit tollem Panoramablick auf die Berge. „Klein aber fein“, lacht sie.
Eine eigens angereiste Dolmetscherin übersetzt Victorias Gesten für mich. Routiniert und fließend wird sie ab dem ersten Blickkontakt zur Stimme meiner Interviewpartnerin. Schon nach kurzer Zeit ist es ein ganz normales Gespräch bei Kaffee und Kuchen. Dass die übersetzende Stimme von der Seite kommt und auch ich die Hilfe der Dolmetscherin brauche, um mich mitzuteilen, wird schneller nebensächlich als erwartet.
„Meine Oma hatte immer schon so ein Gefühl, als ich ein Kleinkind war. Wenn sie mich zum Essen rief, zeigte ich keine Reaktion,“ erinnert sich Victoria Kirchmair. Plötzlich stand das Thema Gehörlosigkeit im Raum. Ärzte wurden konsultiert, Untersuchungen durchgeführt. Man vermutete, dass Victoria kurz nach ihrer Geburt bereits gehörlos wurde. Den Grund dafür hat man ihr nie genau erklärt – bis heute nicht. Sie kann nur raten. „Ich war eine Frühgeburt, vielleicht ist es das und die damals notwendigen Behandlungen sind dafür verantwortlich.“
Für Victorias Familie war die Diagnose zunächst ein Schock. Niemand in ihrer Familie war gehörlos oder hatte Berührungspunkte damit. Viktorias Mutter unterstützte sie, wo sie konnte. „Anfangs war ich immer bei einer Logopädin. Man versuchte mir dort mit bestimmten Übungen beizubringen, mit Lauten zu sprechen,“ erzählt die junge Frau. Gehörlose hören sich nicht, also ist es für sie unnatürlich, zu sprechen. Nur wenigen gelingt das. So entstand der Irrglaube, Gehörlose seien auch stumm – taubstumm – was nicht stimmt. „Der Begriff Taubstumm ist für uns eine Beleidigung und wird nicht gerne gehört. Wir sind ja schließlich nicht stumm,“ erklärt mir Victoria im Laufe unseres Gesprächs.
Die Gebärdensprache ist die bevorzugte Art, sich unter Gehörlosen mitzuteilen. Schnelle Handbewegungen, wie man sie als Hörender wahrnimmt, sind nur ein Teil dieser Sprache. Erst durch die Mimik und das Mitbewegen der Lippen ist es möglich, richtig zu kommunizieren. Durch diese Kombination ist die Gebärdensprache sehr individuell und ausdrucksstark. Victoria erlernte ihre Sprache am Zentrum für Hör- und Sprechpädagogik in Mils, einer besonderen Schule, die auf Hören und Sehen spezialisiert ist. Es war sehr „ungewohnt und eigenartig“ als sie das erste Mal Kinder in ihrem Alter am Schulhof „gebärden“ sah. Doch schnell begriff sie, dass dies ab sofort ihre „Muttersprache“ war, in der sie sich frei und mit ihren Worten ausdrücken konnte.
Barrieren blieben dennoch bestehen. Victoria wollte Pflegerin werden, ihr erklärter Traumberuf. Aber die Ausbildungswege für Gehörlose sind steinig und die junge Frau musste viele Zurückweisungen wegstecken, bevor sie am Ziel war und eine Ausbildung zur Pflegerin in einem Wohn- und Pflegeheim antreten durfte. Und siehe da: „Man traute es mir zunächst nicht zu, mich ohne Gehör um KlientInnen zu kümmern. Am Ende habe ich sie alle überzeugt,“ berichtet Victoria Kirchmair stolz aus ihrem Arbeitsalltag. Plötzlich war ihre Art der bewussten Kommunikation, gestützt auf Beobachtung, auf Mimik und Gesten sogar eine Chance, etwa bei der Verständigung mit dementen älteren Menschen.
Doch dann kam Corona und mit dem Virus die Maske. Für Victoria bedeutete das das Aus in der Pflege. Wie sollte sie unter Masken Gesichtsausdrücke deuten, geschweige denn von den Lippen lesen? Aktuell ist Victoria im Bildungshaus Osttirol als Gebärdensprachenlehrerin beschäftigt und freut sich darüber: „Durch diesen Beruf kann ich meine Muttersprache auch an Hörende bringen und mehr Bewusstsein dafür schaffen.“
Gebärdensprache ist mit keiner anderen Sprache vergleichbar, hat ihre ganz eigene Grammatik und ist anders aufgebaut als etwa die deutsche gesprochene Sprache. Deshalb sind Untertitel bei Fernsehdebatten nicht immer die ideale Lösung. Bei komplexen Themen hilft es sehr, wenn DolmetscherInnen für Gebärdensprache eingeblendet werden, versichert uns Victoria. Nur so seien essenzielle Nachrichten auch für Gehörlose barrierefrei zugänglich.
Ihren Alltag meistert die junge Osttirolerin ohne fremde Hilfe. Sie vernetzt sich in sozialen Medien. „Über das Internet kann ich auch spontan Freunde erreichen,“ erzählt sie. Einkäufe erledigt sie meist in Geschäften, in denen man sie kennt. Bei kurzen und einfacheren Alltagsgesprächen liest Victoria von den Lippen. Bei komplizierten Themen und Dialekten kann das knifflig werden. Videocalls mit Freunden funktionieren dagegen gut. „Viele denken, dass ich noch bei meiner Mutter lebe und auf Hilfe angewiesen bin,“ sagt Victoria Kirchmair lachend und verweist darauf, dass man mit Kreativität viele Barrieren überwinden kann.
Wir machen gleich die Probe auf´s Exempel und bitten Victoria, uns ein paar einfache Sätze in ihrer Sprache beizubringen.
„Meine Erfahrungen mit OsttirolerInnen, ob hörend oder im Gehörlosenverein, sind sehr positiv. Ich fühle mich sehr gut aufgenommen und jeder gibt sich Mühe, sich mit mir zu verständigen,“ plaudert Victoria über ihren Alltag, in dem der Gehörlosenverein Osttirol eine wichtige Rolle spielt. In dieser Gemeinschaft sind die Sprachbarrieren kein Thema, einfach weil sie wegfallen. Man unterhält sich bestens in der gemeinsamen Sprache und hält auch zusammen, organisiert Aktivitäten und Ausflüge. „Wenn ich mit Mitgliedern aus dem Verein unterwegs bin, ist es manchmal wie in einer Parallelwelt,“ erzählt Victoria und zeigt uns noch einige praktische Hilfsmittel die ihren Alltag erleichtern.
Im Haushalt gehörloser Menschen klingelt der Wecker nicht, sondern sendet Lichtsignale, ebenso wie die Türklingel. Die ist mit dem Smartphone verbunden, das aufleuchtet und vibriert, wenn jemand vor der Haustüre steht. Für Notfallsituationen gibt es eigene Apps, über die man eine Nachricht absenden kann. Da es in Osttirol keine eigenen DolmetscherInnen für Gebärdensprache gibt, sind Notfälle, in denen eine Übersetzung wichtig wäre, allerdings generell nicht leicht zu bewältigen. DolmetscherInnen müssen aus Nordtirol anreisen.
Es bestehe Nachholbedarf bei der Ausbildung zu DolmetscherInnen für Gebärdensprache, sagt Victoria. Auf dieses Defizit will sie aufmerksam machen: „Vielleicht finden sich ja Osttiroler und Osttirolerinnen, die gerne Dolmetscher werden würden?" Victoria Kirchmair leitet Sprachkurse für Gebärdensprache im Bildungshaus Osttirol. Für Interessierte gibt es ab Herbst wieder die Möglichkeit in einen Anfängerkurs einzusteigen.
Ein Artikel von Raphaela Heinricher
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