Die barocke Pfarrkirche St. Martin in Dölsach war am 29. August 1853 vollständig abgebrannt. Als die Pfarrgemeinde 1869 an Franz von Defregger den Wunsch nach einem Altarbild für den fünf Jahre zuvor geweihten Neubau herantrug, kommentierte dieser seine Zusage mit der nicht ganz ernst gemeinten Befürchtung, er werde auf diese Weise noch Heiligenmaler. Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts um religiöse Erneuerung bemühte, am Vorbild der Renaissance ausgerichtete Kunst der „Nazarener“ gehörte längst nicht mehr zum bevorzugten Metier der tonangebenden Künstler.
Ein zeitgenössischer Kritiker, der das Altarbild in noch halb fertigem Zustand und Defreggers Mühe mit dem sakralen Thema beschreibt, weiß sich im Besitz einer Erklärung: „Diese Art religiöser Bilder zu malen hat auch darin sein Übel, daß die Modelle, welche ein Genremaler braucht, nicht viel weniger kosten, als der Preis beträgt, den ein religiöser Historienmaler fordert. Denn daß diese geweihte Künstlerkaste gerade so glänzend wie Dorfschullehrer bezahlt werden, ist seit einiger Zeit eine unbestrittene Tatsache.“
Defregger berichtet in seinen Lebenserinnerungen, dass er die Arbeit noch im selben Jahr aufnahm. Aufgrund eines Gelenksrheumatismus, der ihn infolge einer Verkühlung befallen und zeitweise sogar an den Rollstuhl gefesselt hatte, sowie durch Übersiedelungen zu diversen Kuraufenthalten zog sich aber die Fertigstellung des Bildes bis 1872 hin. Obwohl das Thema der „Heiligen Familie“ dem in der Historien- und Genremalerei bereits erfolgreichen Defregger eine Reihe von szenischen Gestaltungsmöglichkeiten bot, griff er auf den nazarenischen Typus der "Sacra Conversazione" zurück, der die Andacht nicht auf eine Erzählung, sondern ganz auf die heiligen Personen konzentriert. Gerade dieser Aspekt aber gab, als die historische Distanz zur frühen Begeisterung über Defreggers Werk genug Raum für dessen nüchterne Betrachtung geschaffen hatte, den konkretesten Anlass sowohl für Lob und Kritik.
Wie der Verfasser einer Würdigung zum 70. Geburtstag des Künstlers feststellt, sei dieser, obwohl für das religiöse Bild durch „ein naives, gottesfürchtiges Gemüt“ prädestiniert, „nicht imstande gewesen, diesen ruhig und bieder erfassten Figuren den Stempel besonderer Eigenart aufzudrücken.“ Er stünde hier „im Banne der einzelnen Figur und des Althergebrachten“ und könne sich „nicht recht erwärmen, die heiligen Figuren nicht recht beleben.“ Die von Defreggers bekanntesten und charakteristischsten Werken genährte Erwartung, eine breite Skala psychischer Regungen vermittelst der Vielfalt an milieutypischen Interaktionen des Bildpersonals geschildert zu bekommen, wurde offenbar weniger durch die Figuren selbst als durch ihre Zusammenschau im Typus der Sacra Conversazione und damit in einer weitgehend neutralen Umgebung enttäuscht.
Ganz anders erkannte Albin Egger-Lienz, der das Gemälde schon als Dreizehnjähriger zu kopieren und noch 1892 im Sinne einer Genreszene zu interpretieren versucht hatte, die Vorzüge von Defreggers Altarbild: „So ein Bild muß auf den ersten Blick allein durch die Verteilung des Raumes, den Zug der Linien und durch den Stil der Farbe die Ebenbürtigkeit von Gegenstand und Maler offenbaren. Die Eindringung in das ‚Reinmenschliche‘, losgelöst vom Milieu, allein gewährt den Weg zur monumentalen Form“, und weiter: „Wer sein Bild ‚Heilige Familie‘ kennt, wird zugeben müssen, dass Defregger trotz des epigonenhaften Einschlages auch ein großer Maler war.“
Um das Altarbild angemessen zu würdigen, ist es notwendig, die ursprünglichen Rezeptionsvorgaben in die Betrachtung mit aufzunehmen. Defreggers Briefverkehr mit dem Bildhauer Dominikus Stadler spricht dafür, dass er das Bild als Teil der von diesem entworfenen Altararchitektur konzipiert hat. Ursprünglich nämlich umschloss eine neuromanischen Rundbogenädikula das Altarblatt, weniger wie ein Rahmen als vielmehr wie ein dreidimensionales Gehäuse, dessen – zugegeben recht geringe – Tiefe im Gemälde fortgesetzt und geschlossen war. Die Verteilung des Helldunkels gibt zu erkennen, dass es darüber hinaus eine Lichtquelle annimmt, die sich außerhalb des Bildes, genauer noch links vor diesem befindet. Damit aber fällt sie mit dem nördlichen Fenster des dritten Joches zusammen, welches das Innere der Kirche naturgemäß schwächer, dafür aber auch gleichmäßiger erhellt als sein südseitiges Gegenüber.
Um diese Konstanz auch für den Illusionsraum des Bildes zu sichern, ist dessen seitliche Abschirmung durch das Altargehäuse von entscheidender Bedeutung. Durch den schmalen Bodenstreifen und den Schatten, den die Gottesmutter auf die Rückwand wirft, wird angezeigt, dass dieser Raum gerade Platz für die Figurengruppe bietet, und kein Hinweis veranlasst uns anzunehmen, dass er sich über die Begrenzung der Ädikula hinaus dehnt. Legt man den rotmarmornen Füllungen am Thron der Madonna ein quadratisches Format, das von den sichtbaren Daten nicht zwingend ableitbar ist, zugrunde, sind sie sich nicht mehr, wie vom ersten, flüchtigen Blick nahegelegt, als Zufallsausschnitt einer beliebig fortsetzbaren Reihung zu lesen. Ihre Dreizahl legt vielmehr die Abmessungen der Sockelfront fest und erweist sich – minimal aus der mittleren Längsachse des Bildes verschoben – als Teil einer symmetrischen Gesamtstruktur, die mit einem Betrachterstandpunkt rechts vor dem Altar kalkuliert. Von dort erhält auch die Neigung des Hauptes der Gottesmutter, hin zum Betrachter, ihr spezielles Motiv.
Mit der Feststellung, es sei durchaus von Interesse, „zu wissen, wie ein Bild, dem vier- oder fünfmal der Kopf weiter gerückt oder neu aufgesetzt wurde, sich mit den Jahren ausmachen wird“, gibt der oben zitierte Beobachter, der das unvollendete Bild in Defreggers Atelier beschreibt, zu, dass er den Kontext, für den es bestimmt war, nicht kennt. Was er als Unzulänglichkeiten des Genremalers gegenüber dem Nazarener bemängelt, „das Nachmalen der Gewandung nach der Gliederpuppe bis auf jedes Fältchen und jeden Schmutzflecken, ohne das schöne, gefällige Motiv des Wurfes auswendig zu wissen“, lässt sich gerade in diesem Zusammenhang als das Bemühen des Realisten um Präsenz und um Lebensnähe bewerten.
Ein Nazarener, und erst recht einer der dritten Generation, musste sich das Naturvorbild nicht mehr mühsam erarbeiten, er konnte auf das zurückgreifen, was die Renaissance in dieser Hinsicht geleistet hatte. Der Idealismus der Nazarener war diesbezüglich betont retrospektiv und sein Programm längst durch die Tradition sanktioniert. Dagegen musste ein Maler realistischer Observanz, wenn er sich schon auf einen kirchlichen Auftrag einzulassen bereit war, das Vorbild am unmittelbaren Sehangebot prüfen, auch auf die Gefahr, ein Ideal zu verletzen und den sakralen Stoff zu entweihen. Defregger meisterte diese Gratwanderung mit Bravour, und die Zeitgenossen, zumal jene, die das Altarbild vor Ort gesehen hatten, wussten dies sämtlich zu schätzen.
1868 hatte Defregger zusammen mit Ferdinand von Piloty und einigen Studienkollegen Venedig bereist, und die Altarbilder der Serenissima mussten ihm noch in lebhafter Erinnerung sein, als er bald darauf die Arbeit an der Hl. Familie aufnahm. Im Gegensatz zu den Nazarenern, welche die Linie als Ausdrucksträger favorisierten, kamen die Farb- und Lichtregie der venezianischen Meister und deren virtuose Wiedergabe stofflicher Reize seinen realistischen Interessen entgegen. Es ist sicher kein Zufall, dass als einzige Vorarbeit zum Altarbild sich eine kleine Holztafel erhalten hat, auf der Defregger seine später noch mehrmals korrigierte Bildidee mit breiten Pinselzügen farbig skizziert hat.
Die Art, in der hier der hl. Josef noch nicht ganz so würdevoll wie in der endgültigen Fassung sich an den Thronsockel anlehnt, erinnert sehr an den hl. Petrus in Tizians „Madonna des Hauses Pesaro“. Das in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts für das linke Seitenschiff der Frari-Kirche gemalte Altarbild lässt die symmetrische Formenstrenge der Renaissance weit hinter sich. Seine asymmetrische, auf den Barock voraus weisende Komposition ist jedoch kein Selbstzweck: Auch sie ist im Zusammenhang mit der Architektur des Altars und des gesamten Innenraums als dessen illusionistische Erweiterung zu verstehen, entfaltet diese Wirkung aber nicht in der Frontalansicht, sondern in der seitlichen Betrachtung vom Kirchenschiff aus.
Der Kunsthistoriker Rudolf Ingruber – Dolomitenstadt-Leser und -Leserinnen kennen ihn auch als launigen Randnotizen-Schreiber – wird in unserer neuen Serie künstlerische Meisterwerke aus dem Bezirk nicht nur vorstellen, sondern auch erläutern und so den Blick auf eine ganze Reihe bedeutender Werke schärfen. Denn schließlich gilt: Man sieht nur, was man weiß. Als Fotograf begleitet Helmut Niederwieser diese Kunstdokumentation von dolomitenstat.at.
2 Postings
schöne Serie! Vieles ist man so gewöhnt, dass es einem gar nicht mehr auffällt, weil es einfach da ist.
Super Beitrag und großartige Idee. Freu mich auf weitere kunsthistorische Nachhilfe.
Sie müssen angemeldet sein, um ein Posting zu verfassen.
Anmelden oder Registrieren