Gletscher trotz schneereicher Winter auf dem Rückzug
Pessimistischer Bericht des Alpenvereins. Schlatenkees zog sich im Vorjahr 50 Meter zurück.
Das Gletschermessteam des Alpenvereins hat im vergangenen Sommer 92 Gletscher österreichweit neu vermessen. 85 davon (92,4 %) haben sich im Beobachtungszeitraum 2019/2020 weiter zurückgezogen, nur sieben (7,6 %) sind mit einer Längenänderung von weniger als einem Meter stationär geblieben. Mit einem durchschnittlichen Rückgang von 15 Metern hält sich der Gletscherschwund auch in der aktuellen Statistik auf einem langfristig hohen Niveau.
Obwohl die Winterniederschläge 2019/20 in den meisten Gebieten die langjährigen Mittel übertrafen und große Teile der Gletscher bis Juli von Schnee bedeckt waren, war im August und September mit bis zu +2° Celsius über der Durchschnittstemperatur eine starke Abschmelzung zu verzeichnen. „Das vergangene Beobachtungsjahr ist ein weiteres in einer Periode drastischen Gletscherschwundes, die wohl noch lange andauern wird“, stellen die Leiter des Alpenvereins-Gletschermessdienstes, Gerhard Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer vom Institut für Geographie und Raumforschung an der Universität Graz, fest.
Zusätzlich zu den bloßen Längenänderungen haben die Gletschermesser in ganz Österreich markante optische Veränderungen registriert, die zwar in Zahlen nicht erfassbar sind, aber den Gletscherschwund untrüglich belegen: Etwa eisfrei werdende Felsbereiche, die Zerteilung von Gletschern, großflächiger Eiszerfall, ausdünnendes Eis, Bildung von Einsturztrichtern, Anreicherung von Schutt an den Gletscheroberflächen und die Bildung neuer Seen.
Die größte Längenänderung wurde 2020 am Hornkees in den Zillertaler Alpen (Tirol) gemessen. Dieser Gletscher hat sich in nur einem Jahr um 104 Meter verkürzt. Vier weitere Gletscher zogen sich um mindestens 50 Meter zurück: Der Alpeinerferner (Stubaier Alpen) mit 67,2 m, die Pasterze (Glocknergruppe) mit 52,5 m, der Gepatschferner (Ötztaler Alpen) mit 51,5 m und das Schlatenkees (Venedigergruppe) mit 50,0 m.
Die Gletscherzunge der Pasterze ist weiterhin flächig in Zerfall, da der Eisnachschub aus den höher gelegenen Gletscherteilen immer geringer wird. Die Pasterze ist einer der Gletscher, an dem auch regelmäßig die Dicke des Eises und die Gletscherbewegung gemessen wird. Im Vergleich zum Vorjahr ist die gesamte Gletscherzunge der Pasterze um durchschnittlich 6,1 Meter eingesunken – etwas mehr als in der Messperiode 2018/2019.
„Dass der Rückgang der Gletscher eine Folge steigender Temperaturen ist, lässt sich nicht abstreiten. Diese Entwicklung ist auch kaum mehr aufzuhalten, dafür sind das System zu träge und die Naturräume zu sensibel. Unsere Gletscher machen diesen langsamen, aber stetigen Wandel auf traurige Weise begreifbar. Als stille Mahnmale der klimatischen Veränderungen werden sie in ein paar Jahrzehnten wohl nicht mehr wiederzuerkennen sein“, gibt Ingrid Hayek, Vizepräsidentin des Österreichischen Alpenvereins, zu bedenken.
Ein Grund mehr für den Alpenverein, nicht nur auf den Gletscherschutz, sondern auch auf den Schutz der umliegenden hochalpinen Regionen zu pochen. Besonders kritisiert wird die Aufweichung des Gletscherschutzes im Tiroler Naturschutzgesetz. Nachdem 1991 der absolute Schutz der Gletscher, der Gletschervorfelder und der Moränen in Tirol gesetzlich verankert und damit jede skitechnische Erschließung von Gletschern und ihren Einzugsgebieten verboten worden war, wurde der umfassende Schutzstatus 2004 wieder aufgehoben. Im Jahr 2006 folgte ein „Raumordnungsprogramm über den Schutz der Gletscher“. Dieses nimmt jedoch bewusst Areale von skitouristischem Interesse vom Schutzstatus aus – etwa jenes zwischen den Gletscherskigebieten Ötztal und Pitztal, oder aktuell jenes im Kaunertal.
„Es braucht einen Gletscherschutz ohne Wenn und Aber. Einen Schutz, der auch die aktuellen Veränderungen im Hochgebirge berücksichtigt. Nicht nur die Gletscher selbst, auch die von der Abschmelzung betroffenen Flächen geraten zunehmend in Bedrängnis. Im landesrechtlichen Kontext werden diese oft als ‚alpines Ödland‘ bezeichnet. ‚Öd‘ ist dieser Boden aber ganz und gar nicht. Er entpuppt sich als Nährboden mit unermesslichem Entwicklungspotential. Der Gletscherschutz muss daher auch in diesem Kontext neu definiert und der breiter gefasste Begriff des Gletschers im Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz berücksichtigt werden“, so Hayek.
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