Auch Franz von Defregger (1835 - 1921) hat eine Pandemie überlebt. Bereits als Sechsjähriger war er schwer an Typhus erkrankt, seine Mutter und zwei seiner Schwestern waren 1841 daran verstorben. Nachdem 1918/19 aber die Spanische Grippe ihre Todesopfer bevorzugt aus den Reihen der 15-30-jährigen forderte, hatte er, so war es am Tag nach seinem Ableben im „Allgemeinen Tiroler Anzeiger“ zu lesen, „die äußersten Grenzen menschlicher Lebensdauer erreicht“. Die „populärste Erscheinung der Tiroler Künstlerschaft“, die ihren Erfolg „der urgesunden, gemütstiefen Art einer veredelnden Kunst“ verdankt hatte, ein Anachronismus?
Für den 1835 auf dem Ederhof in Stronach geborenen Bauernsohn war die künstlerische Laufbahn nicht die erste, ja nicht einmal die zweite Option. Nach dem Tod seines Vaters musste er mit 23 Jahren den Hof übernehmen, den er aber schon zwei Jahre später verkaufte. Zwischenzeitliche Pläne, mit Gleichgesinnten nach Amerika auszuwandern, hatten sich ebenfalls zerschlagen. Die Stationen seiner Künstlerkarriere waren 1860 die Gewerbeschule des Bildhauers Michael Stolz in Innsbruck, Paris, wo er zwischen 1863 und 1865 sogar an der Ecole des Beaux Arts inskribierte, und schließlich München, wo er nach dem Studium bei Ferdinand von Piloty selbst mehr als 30 Jahre eine Professur bekleidete und 1883 in den Adelsstand aufstieg.
Defreggers Malerei hängt eine Koda an die Götterdämmerung einer Epoche, die optimistischeren Zeitgenossen durchaus noch zukunftsfähig schien, der Kunsthistoriker Hans Sedlmair aber mit dem Verschwinden des griechisch-römischen Olymps schon ein Jahrhundert früher für beendet hält. „Töte mich nicht! Du würdest hinfort es selber bereuen, wenn du den Sänger erschlügst, der Göttern und Menschen gesungen!“ Die Bitte aus Homers Odyssee artikuliert eine Dreiecksbeziehung, die seit Beginn der Neuzeit ihre Gültigkeit beansprucht: der Künstler als Günstling und als Künder des Transzendenten, der sein Leben der Einsicht (oder der Willkür) des Kunden verdankt. In Defreggers Schaffen aber hatte sich das Seitenverhältnis deutlich zugunsten des letzteren verschoben.
Defreggers Olymp ist zwar kein Zuhause für die Götter, an Halbgöttern und Heroen aber mangelt es dort nicht: Die Hofers, Speckbachers, Haspingers und Sigmairs oder auch der Schmied von Kochel, die er in so manchen längst zur Ikone gewordenen Bildschöpfungen auch dem kunstfernen Publikum in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat. Für die kaum 60, 70 Jahre zurückliegenden Ereignisse des Tiroler Freiheitskampfes konnte Defregger sich zwar auf Zeitzeugnisse in Bild und Text beziehen, doch war es erst an ihm, eine wenigstens für die kommenden Jahrzehnte tragfähige Ikonografie dafür zu etablieren. Das Historienbild verschafft den Helden ihre Bühne, der Historismus ihre Garderobe.
In der Tiroler Festtagstracht wird Kriegsrat abgehalten, ausgerückt und heimgekehrt, Abschied genommen und begrüßt, doch kaum gekämpft. Auch das Ensemble bleibt nicht selten anonym, und nur die wenigsten Abkömmlinge des Mars schreiben Geschichte. Deshalb bleiben sie auch offen für eine Gattung, die in Defreggers Gesamtwerk ungleich größeres Gewicht hat: Das Genre- oder Sittenbild hat seinen Ursprung bei den Niederländern des 17. Jahrhunderts, deren Planeten-, Jahreszeiten- oder Monatsallegorien die Patronanz der jeweiligen paganen Gottheit, aber auch des biblischen Geschehens, in einer Weise schwächten und das Transzendente gegen ein bürgerliches Wunschbild tauschten, die erst dem Schein des ganz profanen Alltags, genauer noch des Sonntags, sein Recht auf Kunst und Publikum erstritt.
Defreggers Sonntagskinder lesen Liebesbriefe, formulieren einen Heiratsantrag und vergnügen sich bei Tanz und Zitherspiel, in einem Realismus vorgetragen, der vorzüglich im unscheinbaren Einzelding nicht nur das malerische Können, sondern auch die Illusion als objektiv geschaut und wahr bestätigt. Seit Giotto, der die Dinge der Natur ihrem Urbild so ähnlich darzustellen verstand, dass sie „nicht als ein Abbild, sondern als die Sache selbst erschienen“, kennt die Kunstgeschichtsschreibung den Topos vom talentierten Hirtenjungen, der sich zum Zeitvertreib eifrig in der Nachahmung des Naturvorbilds übte. Defreggers Begabung wurde bemerkenswerter Weise nicht beim Zeichnen von Schafen, sondern beim „Fälschen“ von Banknoten entdeckt. Sein Vater hatte dem Minderjährigen Geldscheine zum Abzeichnen gegeben, deren täuschende Nachahmung sogar die Justiz auf den Plan rief.
Um die Kundschaft brauchte sich der Salontiroler nicht zu sorgen, um das Transzendente manchmal schon. Man kann nicht Gott und dem Mammon gleichzeitig dienen. „Die wahre Schwäche des Malers Defregger ist der Ökonom Defregger“, lautete das Urteil seines jüngeren Landsmannes Egger-Lienz, der konsequenter Weise das Altarbild, das Defregger der Pfarrkirche in Dölsach 1872 zum Geschenk gemacht hatte, als unumstrittenes Meisterstück und lupenreine Demonstration des Könnens seines Vorbilds würdigte: „Wer sein Bild ‚Heilige Familie‘ kennt, wird zugeben müssen, dass Defregger trotz des epigonenhaften Einschlages auch ein großer Maler war. Weit mehr ‚Maler‘ als viele der besten von heute, welche das rein Malerische für sich gepachtet haben.“
"In diesem lieblichen Bildnisse will ich die Himmlische und die Irdische verehren. Dieser heiligen Maria mit dem Kinde will ich die Lieder weihen, die ich edlen Frauen widme!" Die Worte, durch die der Ich-Erzähler in Peter Rosseggers Geschichte vom "heiligen Bildniß" das Altargemälde preist, holen die „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“, mit denen Wilhelm Heinrich Wackenroder einst die religiöse Kunst der Nazarener motivierte, auf den Boden des Profanen und damit in ein Spannungsfeld, auf dem sich Defregger und seine Rezeption mit wechselndem Erfolg bis in die Gegenwart bewegt.
Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, nachdem die Künstler der Romantik sie als ihr Privileg beansprucht hatten, galt göttliche Begeisterung grundsätzlich als heilbar und konnte in unermüdlicher Übung oder auch in bloße Routine umgetauscht werden. Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies landeten Paul Gauguin in der Südsee und Vincent van Gogh in der Anstalt. Genau dort aber wurde bereits die nächste Generation fündig: Ohne die Transfusionen aus fremden, „unzivilisierten“ Kulturen und ohne das unverdorbene Potenzial gesellschaftlicher Außenseiter hätte Europas Kunst kaum überlebt. Ohne Defreggers Tirolertum wahrscheinlich schon.
Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker, Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt und Autor. Während des Lockdowns im Frühjahr hielt uns sein Corona-Tagebuch bei Laune, doch mittlerweile kritzelt Rudi seine Notizen einfach an den Rand der Ereignisse, also dorthin, wo die offizielle Berichterstattung ein Ende hat. Wir präsentieren in unregelmäßigen Abständen „Rudis Randnotiz“.
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