So, jetzt sind wir wieder so weit. Was will man da machen? Diesmal hab ich kein Klopapier eingekauft, weil ich dachte, ich hätte vom letzten Mal noch was übrig. Das war ein Irrtum, den ich erst bemerkt habe, als es zu spät war. Jedoch: Not, im wahrsten Sinne des Wortes, macht bekanntlich erfinderisch, und Kreativität ist ohnehin das einzige, das einem in Zeiten wie diesen noch bleibt. Neben Bildung und guter Erziehung. Alle drei aber kann man auch sinnvoll miteinander verbinden.
Wenn du ein Klopapier zehn Mal faltest, wie viel ersparst du dir jedes Mal? Richtig, neun Blatt! Bezogen auf meine letzte Rolle, die oben noch im Regal steht, sind das neun Rollen pro Rolle oder 1350 Blatt Einsparungspotenzial. 150 Blatt hat so eine Rolle im Durchschnitt. Damit sollte man gut durch den Lockdown kommen. Meine Mutter war immer sehr ökonomisch veranlagt und hat das so an uns Kinder weitergegeben. Um den didaktischen Effekt noch zu steigern, hat uns der Vater an diesem Beispiel das exponentielle Wachstum erläutert. Und das geht so:
Ein Blatt Klopapier, vierlagig, versteht sich, misst ungefähr 12 mal 10 Zentimeter. Seine Stärke beträgt, großzügig geschätzt, bei Klopapier darfst du nicht kleinlich sein, 0,05 Zentimeter. Das falte ich nun genau in der Mitte und im rechten Winkel zur längeren Seite. Jetzt ist seine Stärke schon 0,1 Zentimeter. Das klingt vielleicht wenig, aber beim zweiten Mal sind es schon zwei, beim dritten Mal vier und beim vierten Mal acht Millimeter. Gleichzeitig wirst du bemerken, dass sich die Reibefläche verkleinert. Nach vier Durchgängen sind es noch 2,5 mal 3 Zentimeter.
Du hast aber noch sechs Durchgänge vor dir. Jetzt macht sich schön langsam das Teuflische am exponentiellen Wachstum bemerkbar: Das Falten wird immer schwerer! Beim vorletzten Mal nimmst du am besten ein Stanley-Messer zu Hilfe. So, ein letztes Mal noch, und du kommst aus dem Staunen nicht mehr heraus: Die Reibefläche ist auf 3,75 mal 3,125 Millimeter geschrumpft. Von Fläche kann da eigentlich keine Rede mehr sein. Dafür ist das Ding jetzt 51,2 cm lang, das ist mehr als ein halber Meter! Und es sieht aus wie so ein PCR-Test.
Den schiebst du dir jetzt in die Nase, nicht den ganzen natürlich, aber mindestens zu zwei Dritteln. Kommt ganz darauf an, wie groß dein Gehirn ist. Schön langsam und vorsichtig, bis du einen Widerstand spürst. Oder die erste Träne aus deinem Augenwinkel quillt. Wenn du jetzt plötzlich zum Fluchen anfängst, das kommt nicht vom Schmerz, sondern du hast deinen Frontallappen durchstochen. Der ist, oder vielmehr war, der Sitz deiner guten Manieren. Aber weh tut es auch, und zwar ordentlich!
Um die unmittelbare Gefahr abzuwenden, bin ich laut schreiend vors Haus gerannt und wäre dort um ein Haar mit meiner Nachbarin zusammengestoßen. Du weißt schon, die mit dem Nerz. Heute trug sie allerdings einen weißen Pyjama, eine Gesichtsmaske und so einen aufblasbaren Plastiksack auf dem Kopf. Sie war auf der Suche nach ihrem Fifi, der Hund hatte sich vorsichtshalber hinter dem Müllcontainer versteckt. Dort hat er schon wieder so eigenartig vibriert. Sie konnte ihn aber nicht sehen, wegen der beiden Gurkenscheiben auf ihren Augen. Mich hat sie, Gottseidank, auch nicht gesehen!
Wäre in diesem Augenblick die Polizei um die Ecke gebogen, die hätten geglaubt, versehentlich auf die Teststraße geraten zu sein und hätten postwendend den Rückwärtsgang eingelegt. Aber wenn nicht? Wie hätte ich dann mein unerlaubtes Verlassen der Wohnung erklärt? Gut, die Verordnung listet für diesen Fall eine ganze Palette an Ausreden auf. Die „Deckung notwendiger Grundbedürfnisse“ wäre in meinem Fall aber schwer zu argumentieren gewesen, denn das Grundbedürfnis, um das es hier ging, sollte man nicht im Freien bedienen. Und der „körperlichen oder psychischen Erholung“ diente das Ganze auch nicht gerade.
Also musste ich mich wohl oder übel auf die „Hilfestellung für unterstützungsbedürftige Personen“ einlassen. Wie ich mich zu dem Hund hinabbeugte, um ihm zu helfen, schnappte der plötzlich nach dem Klopapier in meiner Nase und ließ nicht mehr los. In meiner Verzweiflung drehte ich mich mit hoher Geschwindigkeit ein paarmal um die eigene Achse, es folgte ein schmerzhafter Ruck und der Hund segelte samt PCR-Test über den Gartenzaun auf ein fremdes Grundstück. Dort kann jetzt die Nachbarin ihren getrennt von ihr lebenden Liebling täglich besuchen. Laut Verordnung darf sie das ja.
Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker, Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt und Autor. Während des Lockdowns im Frühjahr hielt uns sein Corona-Tagebuch bei Laune, doch mittlerweile kritzelt Rudi seine Notizen einfach an den Rand der Ereignisse, also dorthin, wo die offizielle Berichterstattung ein Ende hat. Wir präsentieren in unregelmäßigen Abständen „Rudis Randnotiz“.
11 Postings
@herrn Ingruber<<. Sie haben schon besser geschrieben!
@anton2009, geben sie uns eine Geschmackprobe ihres Schreibens preis.
@bergfex: Lesen Sie meine Postings; und übrigens schreibt man "Sie" (Höflichkeitsform) groß!
@anton2009
Wenig beeindruckend.
Gratulation zu deinem handwerklichen Geschick! Ich musste nach dem sechstenmal Falten w.o. geben. Aber in der THEORIE funktioniert dein Ansatz natürlich - so wie die meisten veröffentlichten Studien zu unserem aktuellen Lieblingsthema auch
Während im ersten Lockdown gebacken und gewerkelt wurde, wird jetzt auf die Möglichkeit auch sonntags einzukaufen gegeiert. Wann sollten mathematisch Unbegabte sonst zu Klopapier kommen??
Wozu backen, wenn heuer eh keine Weihnachten stattfinden sollen. Alternativ kann man aber auch die Fa. Loacker unterstützen.
Bauernmarktkekse seien mit Abstand am besten...
Sie meinen vom Stadtmarkt und ohne Abstand?
Danke, jetzt hab ich's auch verstanden. Durch zig-maliges Falten wurde das Virus so lang und vor allem so unsichtbar, dass es unbemerkt von Wuhan bis nach Ischgl und von dort nach ganz Europa gelangen konnte. Und in weiterer Folge bis in die Pflegeheime, obwohl man dort schon seit März besonders genau hinschaut.
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