Natürlich. Sie kennen die Mona Lisa! Syntaktisch braucht es nicht viel, um die Semantik der Sätze ins Gegenteil zu verkehren. Die Vertauschung der Anfangsworte genügt, um aus einer Frage, die wohl die wenigsten in Verlegenheit bringt, zu einer gewagten Behauptung zu machen. Beide aber haben es in sich, denn wer ist, oder wer war Mona Lisa? Und war Mona Lisa überhaupt wer?
Wir haben uns angewöhnt, die Mona Lisa mit Leonardo da Vincis berühmten Gemälde zu identifizieren. Dass sie ein Abbild, ein ikonisches Zeichen für die Gemahlin des Florentiner Kaufmanns Giocondo ist, schien bis in die jüngste Vergangenheit offenkundig, doch kaum von Bedeutung. Das Gemälde wurde unzählige Male reproduziert, paraphrasiert, sogar persifliert und auf diese Weise unauslöschlich in unser Gedächtnis geschrieben. Jedoch das Beharren einiger Spezialisten auf dem Modell, dem Urbild des Abbilds, ließ Zweifel aufkommen – mit dem Ergebnis, dass jetzt mindestens drei Versionen um das Vorrecht des Originals konkurrieren. Also, wer war diese Frau, und ist sie tatsächlich in dem Halbfigurenportrait im Louvre verewigt? Und wie wäre diesem noch ein Alleinstellungsmerkmal zu sichern?
So ganz nebenbei ist in den begrenzten Lichtkegel der Forschung auch das komplexe Problem des Urheberrechtes gedrungen. Das „Recht am eigenen Bild“ liegt beim Portraitierten, der es dem Portraitisten abtreten kann, und man darf davon ausgehen, dass der Konsens darüber der Portraitsitzung vorausgeht, an deren Ende aber auch einseitig aufgekündigt werden kann. Das Bildnis der Mona Lisa hat seinen Adressaten jedenfalls nie erreicht und verblieb zeitlebens im Eigentum Leonardos. Danach wurde es in verschiedenen Sammlungen aufbewahrt, und erst seine dauerhafte Ausstellung im Louvre hat es zu dem gemacht, was es ist: die Mona Lisa, deren Eigenname auf das berühmteste Portrait der Welt überging.
Die Frauenportraits, die in den Sammlungen und Museen veröffentlicht sind, bilden jedoch nur die winzige Spitze jenes gewaltigen Berges, der in Archiven unterschiedlichster Art gleichsam unter der Erdoberfläche verborgen ist. „Aus Thurgauer Archiven“ nennt sie ihre 2018/19 entstandene Werkserie, in der sie vor allem Frauenbildern aus ihrem Heimatkanton nachspürt. Der Zahn der Zeit hat diesen nicht nur in materieller Hinsicht stark zugesetzt, auch stilistisch künden sie von doch schon länger vergangenen Tagen. Weder die Fotografien noch ihre Modelle haben vorerst den Rang von modernen Ikonen erreicht, wie Marylin Monroe oder Madonna.
Oder kennen Sie Marie Liechti, die Gemeindehebamme von Hugelshofen? Ursula Brunner, die Gründerin der Bananenfrauen-Bewegung? Vermutlich nicht! Immerhin kommen in Villigers feministisch grundierter Recherche auch zwei Thurgauer Künstlerinnen zu Wort, die exakt zur selben Zeit lebten, deren Karrieren allerdings kaum miteinander vergleichbar sind. Helen Dahm (1878 – 1968) wurde in München früh vom deutschen Expressionismus berührt, doch reichen ihre malerischen Experimente bis zu Tachismus und lyrischer Abstraktion. 1954 erhielt sie als erste Frau den Kunstpreis der Stadt Zürich und 2019 wurde ihr Andenken wurde mit einer Retrospektive im Kunstmuseum Thurgau erneuert. Margrit Roesch-Tanner (1880 – 1969) genoss eine solide Ausbildung u. a. an der École des Beaux-Arts in Genf und etwa gleichzeitig mit Helen Dahm auch in München und war der international aktiven Werkbund-Bewegung verpflichtet.
Während sich Dahm in den 1930-er Jahren von ihrer langjährigen Lebenspartnerin trennte, um sich der Observanz eines indischen Weisen anzuvertrauen, stellte Margrit Roesch-Tanner sich ganz in den Dienst der künstlerischen Karriere ihres Gatten Carl Roesch. Aus der Carl und Margrit Roesch-Stiftung stammt eine ganzfigurige Fotografie, die Judit Villiger auf jene klassische Form des Damenbildnisses der Renaissance zurechtschneidet, das mit Leonardo und seinen Nachfolgern auch Personen von weniger hohem sozialen Rang Präsenz und Würde verleiht. Allerdings tritt das Portrait durch die Umkehr in ein Schwarzweiß-Negativ wiederum hinter den Schleier des Druckrasters zurück und wird von blauen Farbflecken kontrastiert, die an die zarte Aquarellmalerei Roesch-Tanners erinnern. Dieses Bild wird im Dolomitenstadt-Artshop zum Kauf angeboten.
Auch wenn ein Bonmot Max Liebermanns einer schlecht gemalten Madonna den gut gemalten Krautkopf vorzieht, fällt es niemandem ein, nicht auch einen nur halbwegs erkennbar gemalten Krautkopf „Krautkopf“ zu nennen. Das ikonische Zeichen bezeichnet das Korrelat aus der Wirklichkeit und das sprachliche Zeichen das Bild. Wird das ikonische Zeichen dann noch in eine bestimmte Struktur eingebracht, kann es zum Satzgegenstand einer Aussage werden: Senkrechte, waagrechte und schräge Linien, Dreiecke, Kreise und der Goldene Schnitt, als Matrix für die Anordnung der Motive auf der Bildfläche, bewirken Harmonien und Disharmonien, Verhältnisse und Hierarchien, die jedoch nur im Sonderfall der gesprochenen Sprache vergleichbarer Aussagen fähig sind.
Konventionen sind immer an die Erwartungen gebunden, die ein Ausdruck in einem bestimmten Zusammenhang zu erfüllen hat. Die Verbindung von Bild und Text wird zum Kontext, wenn etwa die klassifizierende Aufzählung ikonischer Zeichen für verschiedene Gartenfrüchte unter der kulinarischen Gattung „Gemüse“ durch „Umschichtung“ der Bedeutung, wie Judit Villiger es gerne nennt, sich der Bildgattung „Stillleben“ einordnet. Ein ähnliches künstlerisches Verfahren eröffnet nun realistische Chancen, auch das Bildnis einer Unbekannten seiner Anonymität zu entreißen und in seiner Singularität zur „Margrit Roesch-Tanner“ werden zu lassen.
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