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Um 1300 entstanden, vielleicht sogar knapp davor, sind diese Fresken an der Südmauer der Michaelskirche in Lienz entstanden. Fotos: Dolomitenstadt/Wagner

Um 1300 entstanden, vielleicht sogar knapp davor, sind diese Fresken an der Südmauer der Michaelskirche in Lienz entstanden. Fotos: Dolomitenstadt/Wagner

Eine Schwangerschaft in hohem Alter und ihre Folgen

Zu den ältesten Zeugnissen der Malerei in Lienz zählen zwei Fresken an der Michaelskirche.

Übermorgen ist Maria Geburt. Da verlässt uns nicht nur die Schwalbe, die heuer keinen rechten Sommer zustande gebracht hat, wir erinnern uns auch einer Szene, die sich – biologisch völlig korrekt – neun Monate vorher abspielte. Die betagten Eltern der Muttergottes begegneten einander an der „Goldenen Pforte Jerusalems“. Sie fallen sich um den Hals und in manchen bildlichen Darstellungen küssen sie sich. Auf jeden Fall aber wundern sie sich, was alles möglich ist, haben sie doch aufgrund ihres Alters die Hoffnung auf Nachwuchs längst suspendiert.

Maria Empfängnis heißt dieses Datum und die katholische Kirche hat es zum Dogma erklärt. Insgesamt gibt es vier marianische Dogmen. Die unbefleckte Empfängnis und die leibliche Himmelfahrt sind noch jung, weshalb der spätestens seit dem 9. Jahrhundert überlieferte Hymnus „Ave maris stella“, heimischen Kirchgängern nach der Abschaffung des Lateins als „Meerstern ich dich grüße“ geläufig, nur zwei davon kennt: die Gottesmutterschaft und die immerwährende Jungfräulichkeit – die ja vorkommen soll, jedoch nur bei Frauen, die niemals ein Kind zur Welt gebracht haben. In-vitro-Fertilisation und Kaiserschnitt gab es damals noch nicht. Es scheint fast, als würden nur Sachverhalte dogmatisiert, die mit der Erfahrung und den Naturgesetzen schwer in Einklang zu bringen sind. Allerdings hat auch die Naturwissenschaft ihre Dogmen, und wer daran rüttelt die gesamte Beweislast zu tragen.

Unter Berufung auf Glaubenstatsachen die Naturwissenschaften infrage zu stellen führt aber ebenso wenig zum Ziel wie der Versuch einer naturwissenschaftlichen Widerlegung des Glaubens. Die Kirche hat im 2. Vatikanischen Konzil daher einen Traditionsbegriff etabliert, der im Gespräch mit Wissenschaft und modernem Denken Entwicklungs- und Lernfähigkeit einschließen sollte. Eine Minderheit, die an der Tradition als unveräußerlichem und nicht zu veränderndem Wertekanon festhielt, der sich u. a. in liturgischen Bräuchen ausdrückt, war aber nicht bereit, diesen Wandel mitzuvollziehen. Ihr Anführer Marcel Lefebvre meinte, in den Konzilsbeschlüssen sogar einen ganz und gar unkirchlichen Hang zur Demokratie zu erblicken und, was für den in der Nähe von Lille geborenen ehemaligen Missionsbischof von Dakar noch schwerer wog, zu den Parolen der Französischen Revolution: zur Freiheit in Religions- und Gewissensentscheidungen, zur Gleichheit in der bischöflichen Kollegialität und zur Brüderlichkeit im Umgang mit anderen Konfessionen.

1970 gründete er die Priesterbruderschaft St. Pius X., die heuer ihr 50-jähriges Bestandsjubiläum begeht. Sie ist das schlechte Gewissen der Amtskirche und der Stachel, den diese sich, wie Kritiker meinen, nach missglückter Entfernung immer tiefer ins Fleisch zu stoßen bereit ist. Erzbischof Lefebvre aber starb am 25. März 1991 im Status der Exkommunikation. Zwei Wochen später wurde in einer aufgelassenen Backstube in Lienz die Kapelle „Maria Miterlöserin“ eingeweiht. Unerschrocken treten die Anhänger der Bruderschaft dort für „die Wahrheit“ ein. Noch drei Tage nach dem totalen Lockdown, als die Gottesdienste schon in den digitalen Raum übersiedelt waren, war ihre analog abgehaltene Andacht zum Heiligen Josef nur durch einen Polizeieinsatz aufzuhalten.

Dort muss der Priester aber nicht fürchten, von seiner Herde angesteckt, angesungen oder gar angebetet zu werden. Er zelebriert mit dem Rücken zum Publikum – das sich weitgehend ruhig verhält – „versus Deum“, mit Blick auf den gekreuzigten Christus, der von Maria und dem Apostel Johannes flankiert wird. Die Darstellung auf dem Altar nimmt auch Bezug auf das Patrozinium, das der Gottesmutter am Erlösungswerk ihres Sohnes eine Mittäterschaft zuschreibt. „Verlieren wir uns nicht in Unsinnigkeiten“, erteilte Papst Franziskus Bestrebungen, auch diese Annahme zu dogmatisieren, jüngst eine deutliche Abfuhr.

Bei genauem Hinsehen kann man entziffern, was über diesen Bildern geschrieben steht: „Solve vincla reis!“ – „Löse den Sündern die Fesseln“.

Der Glaube stützt sich jedoch, wie es aussieht, auf eine sehr alte Tradition. „Löse den Sündern die Fesseln“, heißt es in dem erwähnten Gesang aus dem Frühmittelalter, und mit dieser Bitte, die man doch an Christus allein zu richten gelernt hat, ist auch ein Fresko an der südlichen Außenmauer der Lienzer St. Michaelskirche beschriftet: Solve vincla reis! Um 1300 entstanden, vielleicht sogar knapp davor, zählt es zu den ältesten Zeugnissen der Malerei in unserer Stadt. Es zeigt links die thronende Gottesmutter mit ihrem Kind und rechts den Gekreuzigten mit Maria und Johannes als Assistenzpersonal.

Der Schöpfer des Bildes entstammte einer görzischen Malschule, deren Ursprung in Gais bei Bruneck vermutet wird, und die in Osttirol eine ganze Reihe von Wandmalereien ausgeführt hat (in Obermauern, in Oberdrum und in Dölsach z. B.). Für die eben zu dieser Zeit in Oberitalien geschaffene Ikonografie der „schmerzhaften Mutter“, die das Leid ihres Sohnes beweint, um auch das Mitleiden des Betrachters zu stimulieren, reichen die stilistischen Mittel des provinziellen Künstlers allerdings nicht. Mit dem antiken Kirchenschriftsteller Origenes aber lässt sich die Szene, in der Jesus den Lieblingsjünger Maria als Sohn anempfiehlt, ekklesiologisch interpretieren: Gläubige waren hier angesprochen als Geschwister Jesu, als Söhne und Töchter Marias und somit Kinder der gemeinsamen Mutter Kirche. Auch ohne das Gotteshaus zu betreten.


Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker, Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt und Autor. Während des Lockdowns hielt uns sein Corona-Tagebuch bei Laune, doch mittlerweile kritzelt Rudi seine Notizen einfach an den Rand der Ereignisse, also dorthin, wo die offizielle Berichterstattung ein Ende hat. Wir präsentieren in unregelmäßigen Abständen „Rudis Randnotiz“. Das Motto dieser Serie: „Was Sie auf Schloss Bruck nicht zu sehen und im Stadtbuch Lienz nicht zu lesen bekommen!“ Viel Spaß!

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

Ein Posting

aenda
vor 4 Jahren

Aus Sicht der Piusbrüder ist es in der Liturgie der Amtskirche Brauch, dem Allerheiligsten den Hintern und den Gläubigen die lange Nase zu zeigen.

 
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