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Bilderschau im Schloss: „Na, was ist das?“

Simon von Taisten war ein großer Erzähler. Nicht immer wurde er verstanden.

Der Tod der seligen Jungfrau Maria, genauer: ein unscheinbares Detail in dem Fresko Simons von Taisten, war bis vor kurzem verlässlicher Höhepunkt von Führungen durch die Kapelle von Schloss Bruck. Auf Wunsch der Gottesmutter flankieren die zwölf Apostel das Sterbebett, Petrus drückt ihr eine Kerze in die Hand, Johannes besprengt sie mit Weihwasser, andere wieder lesen in Büchern. Einer von ihnen wendet sich ab, um den Inhalt eines Gefäßes zu prüfen, das er sich dicht vor die Augen hält. Auf diesen Moment hatte es die junge Kunstvermittlerin abgesehen, deren Aussprache verriet, dass sie ihr Kunstwissen speziell an ihre italienischen Landsleute weiterzugeben gewohnt war. Diesmal aber hatte sie es mit einer deutschen Familie zu tun: mit Mutter, Vater und einem etwa zehnjährigen Kind.

Achten Sie auf den vierten Apostel von links und das Gefäß, das er prüfend vor seine Augen hält. Was mag es wohl enthalten? Foto: Dolomitenstadt/Lena Loose

„Na, was ist das?“ fragte sie die beiden Erwachsenen. Dass sie des Rätsels Lösung erst nach deren Einsicht in ihre tiefe Unwissenheit bekanntgeben würde, war Teil einer seit Jahren erprobten Dramaturgie. „Naaaa??“ „Ein Rauchfass!“ tönte es einen Stock tiefer. Das Adagio, in dem die Kunstvermittlerin ihre Augen genüsslich zwischen jenen des weiblichen und des männlichen Elternteils hin und her gewiegt hatte, wich einem Furioso und ihr Triumph dem nackten Entsetzen. „Nein! Das ist das Uriiin!!“

Seit der Tiroler Landesausstellung im Jahr 2000, die im Besonderen die Verbindung Leonhards, des damals vor 500 Jahren verstorbenen letzten Grafen von Görz, mit der mantovanischen Fürstentochter Paola Gonzaga in den Blick nahm, wurde in den Führungen durch die Kapelle das Motiv als „Harnschau“ verkauft. Demnach hätte der Apostel Maria eine Uriiinprobe entnommen, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich tot war. Die Blasphemie dieser Deutung blieb für gewöhnlich unwidersprochen. Wie in dem Märchen von Hans Christian Andersen hatte nun aber ein Kind es gewagt, die Kaiserin zu entkleiden. Bis auf das Höschen. Wegen der Harnschau.

Wahrscheinlich aber ist die Erklärung in den Illustrationen medizinischer Bücher des Spätmittelalters zu suchen, wo das Verfahren zur Diagnose verschiedener Krankheiten vorgestellt wird. Dort ist der Arzt, der ein Glasgefäß mit dem Harn des Patienten gegen das Licht hält, um von dessen Farbe auf die Art der Erkrankung zu schließen, manchmal tatsächlich in einer ähnlichen Pose wiedergegeben wie Simons Apostel, dessen Behältnis allerdings weder durchsichtig noch mit einer wie auch immer gefärbten Flüssigkeit gefüllt ist, sondern mit schwarzen Kohlen, von denen rote Flämmchen aufsteigen.

Der Apostel mit dem Rauchfass ist ein wiederkehrender Topos in sehr vielen Darstellungen des Marientodes, nur in Lienz sollte er etwas anderes bedeuten. Damit ließ sich trefflich von weiteren Besonderheiten ablenken, die den Rang des Alleinstellungsmerkmals weit eher verdienen. Warum stirbt die Gottesmutter nicht, wie sonst auch, in ihrer Kammer, sondern unter freiem Himmel zwischen zwei Häuserzeilen gebettet?

Die Szenerie symbolisiere das Himmlische Jerusalem, war gelegentlich die Erklärung. So sieht sie aber nicht aus. Mehr wie das irdische Bruneck. Überhaupt sei das Ganze ein Beispiel für einen glücklichen Tod, das der ständig kränkelnden Schlossherrin hier bildlich vor Augen gestellt werden sollte. Oder versprach man sich von der frischen Luft vielleicht sogar Heilung?

Mit der „Kunst des heilsamen Sterbens“ befasste sich damals eine Erbauungsliteratur, die zunächst das klerikale Fachpersonal auf die Begleitung der Sterbenden, dann aber auch den gewöhnlichen Laien auf ein gelingendes Ableben einstimmen sollte. Nichts war im Mittelalter mehr gefürchtet als der plötzliche, unvorbereitete Tod, dem man deshalb bereits durch entsprechende Lebensführung zu begegnen versuchte. Das „ABC“ des Straßburger Dompredigers Johann Geiler von Kaysersberg gibt in 27 Regeln darüber Auskunft, „wie man sich schicken soll zu einem köstlichen seligen Tod“.

Ars moriendi – „Wie man sich schicken soll zu einem köstlichen seligen Tod“. Das Harnglas ist da, das Rauchfass fehlt. Foto: Wikicommons

Für die alles entscheidende Schlacht um die Seele wurde aber ein anderes Geschütz in Stellung gebracht. Ein Bilderbuch mit Hoffnung weckenden Illustrationen sollte den analphabetischen Laien für seinen Todeskampf wappnen. Das Titelbild einer sehr späten Ausgabe stellt sogar „Besserung eines Menschen Leib, Sel, Ere und Gut“ in Aussicht, und zeigt unter den Garanten für die Einlösung dieser Versprechen auch einen Arzt mit dem Harnglas. Ganz rechts betritt ein Priester mit dem Hostienziborium die Szene, von einem Rauchfass aber fehlt jede Spur!

Befragt man jedoch Geiler von Kaysersberg, der übrigens davon abrät, dem Sterbenden falsche Hoffnungen auf Genesung zu machen, nach den Diensten, die einem Menschen unmittelbar nach seinem Ableben zu leisten sind, so wird hier unter etlichen anderen Ritualen erstmals auch das Besprengen mit Weihrauch empfohlen. Liegt Maria vielleicht gar nicht im Sterben, sondern rüstet man hier schon zum Begräbnis? Naaa?


Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker, Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt und Autor. Während des Lockdowns hielt uns sein Corona-Tagebuch bei Laune, doch mittlerweile kritzelt Rudi seine Notizen einfach an den Rand der Ereignisse, also dorthin, wo die offizielle Berichterstattung ein Ende hat. Wir präsentieren in unregelmäßigen Abständen „Rudis Randnotiz“. Das Motto dieser neuen Serie: „Was Sie auf Schloss Bruck nicht zu sehen und im Stadtbuch Lienz nicht zu lesen bekommen!“ Viel Spaß!

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

2 Postings

Kiew
vor 4 Jahren

Ein grosser Dank und ein Kompliment für die tolle Bilderklärung, die man vermutlich als Betrachter des Bildes an Ort und Stelle nicht mitbekommt!

 
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    boarium
    vor 4 Jahren

    Nicht vermuten. Ausprobieren und eine Führung buchen. Und dann selbst überprüfen, ob "bis vor Kurzem" jetzt auch noch gültig ist. Oder schon seit Jahren nicht mehr.

     
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