Mit Gewissheit lässt sich über das Leben nach Corona nur sagen, dass nichts mehr so sein wird wie früher. Außer, dass früher oder später Jedermann sterben muss. Nicht nur in Salzburg. Was danach kommt, oder ob überhaupt etwas kommt, darüber lassen sich keine verbindlichen Zusagen machen, auch nicht von und an Christen, deren Hoffnung allerdings hin auf ein Leben nach dem physischen Tod gerichtet sein sollte. Hoffnung ist die Erwartung eines Kommenden, und auch die Hoffnung, dass etwas gut war, wendet sich nur scheinbar an die Vergangenheit, deren Wirkungen und positive Bestätigung man doch der Zukunft anheimstellen muss. Im Sterben kann somit Hoffnung nur noch auf etwas nach dem eigenen Leben gerichtet sein, und sie muss die Entscheidung einer dritten Instanz überlassen.
Für Christen ist diese Instanz das Gericht und Christus der Richter. Dabei werden katholischerseits Gedanken Worte und Werke der Verstorbenen auf die Waagschale gelegt, für Protestanten aber ist allein der Glaube entscheidend. Der Glaube ist ein Geschenk, das der Mensch annehmen oder ablehnen, nicht jedoch selber erwirken oder gar kaufen kann. Dagegen sind Werke entweder als Folgen des Glaubens zu deuten oder als dessen Alternative, um für die Ewigkeit Punkte zu sammeln. Man kann gute Werke aber auch als Liebeszuwendung verstehen. Sie können Gegenliebe, blindes Verständnis, Gehaltensein und Glück hervorbringen – Momente der Lust, die, nach Friedrich Nietzsche, „tiefe, tiefe Ewigkeit will“.
Darüber, dass wir zu unserer Großmutter nie eine tragfähige emotionale Nähe aufbauen konnten, da sie uns durch die Gewohnheit, ihr Leben als ein einziges Tal der Tränen zu schildern, schon von Kindheit an auf Distanz hielt, herrscht unter mir und meinen Geschwistern weitgehend Konsens. Immerhin halten wir ihr noch heute zugute, dass sie, seit wir uns erinnern können, stets große Mühe darauf verwendete, jedes ihrer Enkelkinder zu Weihnachten ganz individuell zu beschenken, auch dann noch, als ihre körperliche und geistige Verfassung dies kaum mehr zuließ.
Wenige Wochen nach ihrem Tod träumte ich von ihr und ich fragte sie, wie es ihr denn nun ginge „da oben“. Das Setting war, wohlgemerkt, so, wie ich es aus unseren Begegnungen vom irdischen Leben her kannte, und nur die Antwort, die ihren gegenwärtigen Zustand als „ausgezeichnet“ beschrieb, gab mir Gewissheit, dass sie dieses nun endgültig hinter sich hatte. Dass sie es überdies für einen Vorzug hielt, erst kürzlich für einen Stern, dessen Licht vorübergehend erloschen war, eingesprungen zu sein, sprach dafür, dass sie noch nicht im, sondern erst einmal am Himmel gelandet war. „Dann gib dir Mühe“, ermunterte ich sie, „dass du zu Weihnachten mit dem Christkind mitfliegen darfst, damit wir heuer nicht leer ausgehen!“
Ich kann mich noch ganz gut daran erinnern, wie ich als Kind begann, meine Welt aus der Ich-Perspektive zu reflektieren. Anfangs verwirrte mich die Erkenntnis, dass ich die Gleichaltrigen im Kindergarten als von mir Abgetrennte, Andere zu erleben vermochte, mich selbst aber nicht. Ich bekam das Gefühl, im Gehäuse meines Körpers zu stecken und durch die Augenhöhlen auf meine Umwelt zu blicken. Tröstlich aber war der Gedanke, dass in mein Inneres auch niemand hineinschauen konnte, außer der liebe Gott (und meine Mutter, die dieses Kunststück noch heute beherrscht), und da ich meine Selbstwahrnehmung ja nicht zum Geringsten maßgekleidet vor dem Spiegel im Kundenzimmer der Schneiderei meines Vaters einüben durfte, erschien mir die Tatsache „ich selber“ zu sein als ein Privileg. Allerdings wurde die Selbstzufriedenheit bald schon durch eine verstörende Einsicht erschüttert: Die Möglichkeit, die Welt bewusst zu erleben, sich zu ihr ins Verhältnis zu setzen und mit ihr zu kommunizieren, würde mit dem eigenen Tod enden.
Beruhigen konnte mich damals in erster Linie die Hoffnung, dass bis dahin noch ein Maß an Zeit zur Verfügung stand, welches mein Vorstellungsvermögen weit überstieg, und dass die Gefahren eines vorzeitigen Endes nicht viele und einigermaßen leicht zu vermeiden waren. Schließlich bildete die Todesprophylaxe den Schwerpunkt der häuslichen und später der schulischen Pädagogik: Die Notwendigkeit Krankheiten vorzubeugen und, wenn dies fehlschlug, sie möglichst rasch und effizient zu bekämpfen, die Mahnung zu Vorsicht im Spiel, im Sport und im Straßenverkehr sowie die Tabuisierung gewisser Verhaltensweisen, unter denen das Sprechen über den Tod das größte Risiko barg, wurden durch abschreckende Beispiele illustriert und bei Nichtbeachtung durch Strafen geahndet.
Ein weiteres Wagnis betraf den Verzehr von Fleisch am Karfreitag, dessen Konsequenz nach der Überzeugung einiger älterer Menschen in unserer Umgebung ein Karzinom an genau jenem Organ war, dessen tierisches Äquivalent man sich zu kosten erlaubt hatte: Der Genuss von Wurst beispielsweise wurde mit Darm- und Knochenkrebs (und all der anderen Inhaltsstoffe, über die man nichts Genaueres wusste) bestraft, was damals einem Todesurteil gleichkam. Obwohl ich das zu keiner Zeit glaubte, fiel es mir auch nicht ein, es darauf ankommen zu lassen – bis heute nicht.
Wenn man mündig ist und die schützende pädagogische Hand sich zurückzieht, sollte man für ein langes Leben gerüstet sein. Man trägt nun selbst die Verantwortung und kann sich nicht mehr auf die Protektion der einstigen Lehrer verlassen, auch nicht auf die Verheißungen der Tradition. So fastet man heute z. B. nicht mehr, um in den Himmel zu kommen, sondern um, wie der Psychiater Manfred Lütz gesagt hat, „möglichst spät und möglichst gesund“ dort hinzugelangen, mit anderen Worten: Früher ging es um Gott, heute geht’s um die Wurst!
„Mit 66 Jahren fängt das Leben an“, sang Udo Jürgens 1977. Dass es 1987 schon wieder zu Ende sein würde, verschwieg er. Die Restlebenserwartung eines sechzigjährigen Österreichers betrug damals im Durchschnitt gerade noch 16 Jahre, und das auch nur, weil man die von Udo Jürgens empfohlene Anschaffung eines Motorrads als Risikofaktor für den durchschnittlichen Rentner weitgehend ausschließen durfte. Heute erhöht sich das Risiko in diesem Alter enorm. Die Zeit, die einem noch bleibt, auch wenn man nicht weiß wieviel, wird irgendwann überschaubar, und man kommt zum Schluss, dass das Leben selbst die sicherste, ja die einzige Todesursache ist. Es stellt sich dann aber umso dringlicher die Frage, wie und wofür man noch zu leben gedenkt bzw. wie und wofür man bis dato gelebt hat.
Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker, Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt und Autor. Während des Lockdowns hielt uns sein Corona-Tagebuch bei Laune, doch mittlerweile kritzelt Rudi seine Notizen einfach an den Rand der Ereignisse, also dorthin, wo die offizielle Berichterstattung ein Ende hat. Wir präsentieren in unregelmäßigen Abständen „Rudis Randnotiz“. Das Motto dieser neuen Serie: „Was Sie auf Schloss Bruck nicht zu sehen und im Stadtbuch Lienz nicht zu lesen bekommen!“ Viel Spaß!
6 Postings
Sehr geehrter Herr Ingruber, ich hatte Gefühle für sie nachdem sie ihr Coronatagebuch mit uns geteilt haben, aber jetzt habe ich nur mehr Bewunderung für sie übrig! Tut mir leid!
Hut ab, lieber Rudi, ein toller Text. Kann den anderen Meinungen nur beipflichten. Wie wäre es mit einer Lesung deiner Texte??
Weiß man diesen literarischen Schatzgräber und erstklassigen Kunstvermittler in Lienz zu schätzen?
In vielen Gedanken dieser philosophisch einzigartigen Abhandlung erkenne ich mich irgendwie wieder selbst. Kann es aber nicht so gekonnt und pointiert ausdrücken. Wie wärs mit einem Buch? (Kleinformat, Hardcover, beste Ausgestaltung, Illustrationen, limitierte Auflage) Es ginge weg wie die sprichwörtlichen "warmen Semmeln".
Genau, stimme zu! Und in weiterer Folge ein Hörbuch, gelesen von Josef Hader.
Diese "Randnotiz " gehört zu den besten Texten, die ich auf dieser Plattform je gelesen habe. Sie sind ein echter Könner, Herr Ingruber.
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