Rein formal sind Bücher räumliche und Raum besetzende Gebilde, deren Dimensionen mit den Abmessungen des Deckels und der Seitenzahl beziffert sind. Das ist insofern verräterisch, als diese Angaben indirekt auch den modernen Zu- und Umgang mit dem gedruckten Buch entlarven: Den Benutzer scheint der Platz und das Gewicht zu interessieren, den es in seiner Hand und später im Regal beansprucht, sowie die Zeit, die nötig ist, um es von vorn bis hinten durchzulesen. Vom Inhalt ist hier nicht die Rede.
Angaben für E-Books hingegen beschränken sich auf Datenmengen, die weder mit der Waage, noch mit dem Zentimetermaß zu messen sind. Geld- und Platzersparnis, dazu die Möglichkeit, zumindest eine mittelgroße Bibliothek bequem mit sich herumzutragen, sind „Eigenschaften, die gedruckte Bücher alt aussehen lassen“, so eine Werbung, die den Segen virtueller Bücher anpreist. Ein altbewährtes Medium, das durch ein moderneres vom Markt verdrängt zu werden droht, kann den Kampf ums Überleben nur durch die Rückbesinnung auf seine ureigenen Qualitäten meistern. Im Falle des gedruckten Buches sind das Raum und räumliche Bewegung beim Blättern durch die flachen Seiten, die vorn und hinten bedruckt, beschrieben und bebildert sind.
An dieser Stelle findet Helmut P. Ortner auch den Einstiegspunkt für seine Kunst: „Alte Bücher werden gesammelt, auf Dachböden aufgestöbert, aus Altpapierkontainern gerettet oder auf Flohmärkten erworben, damit ich ihnen, meist ihrer Hülle, eine neue Existenz als Kunstwerk geben kann“, erklärt er im Interview mit Silva Höller, der Kuratorin seiner Ausstellung im RLB Atelier in Lienz. „Aufgrund meiner Leidenschaft für Bücher ist es für mich naheliegend, Buchdeckel als Bildträger meines kleinformatigen Oeuvres zu verwenden.“ Rund 30 Buchobjekte sind hier ausgestellt, meist aufgeklappte Deckel, zwischen denen die Textseiten herausgeschnitten sind und dadurch Raum für neuen Inhalt öffnen.
Die Zahl der Bücher, noch zur Zeit Johannes Gutenbergs höchst überschaubar, streifte schon um 1800 die Milliardengrenze, jedoch: Ob ein Text, ein Buch nur Wiederholung oder aber neu ersonnen und erdacht ist, bestimmt nach heutigem Verständnis seine Qualität. Entwicklung ist gleich Fortschritt, der verheißt, dass uns der Lese- und der Wissensstoff nie ausgeht. Die Zeit reicht aber nicht, das Argument auf seinen Feingehalt zu prüfen, und es erscheinen immer neue Bücher, um das Versprechen zu erneuern.
Im Vergleich zu den im World-Wide-Web gebunkerten Datenmengen sind Bücher aber eine Randerscheinung. War es also nur ein Platzproblem, das die Explosion des Wissens so lange unterdrückte? Oder ist dem arabischen Kalifen rechtzugeben, der im Jahr 642 die damals größte Bibliothek abbrennen ließ, mit der Begründung, dass gute Bücher ohnehin nichts anderes als der Koran besagten und damit überflüssig seien? Fest steht, dass Bücher noch anderes können, als Wissen zu vermitteln.
„Beim Lesen entstehen stetig Bilder im Kopf“, sagt Helmut P. Ortner. Und was für Bilder! Jeder, der sich beim Lesen die Welt des Textes, im großen Ganzen und im scheinbar unbedeutenden Detail ausgemalt hat, kennt die Überraschung, manchmal auch Enttäuschung, wenn er den Text beim zweiten Lesen illustriert und seine Fantasien korrigiert sieht. Es macht auch einen Unterschied, ob man sich einen Film vor oder nach dem Lesen der Romanvorlage anschaut.
Trügerisch sind Schrift und Bilder allemal. Das war den Schreibern und Illuminatoren des Mittelalters ebenso bewusst wie den Vertretern jener Kunst um 1920, an deren Strategien Ortner direkt anknüpft. Es ist kein Zufall, dass der Dadaismus das traditionelle Kunstverständnis und das gewohnte Rezeptionsverhalten lustvoll durcheinanderwarf und der Gier des Publikums nach Illusion den Spiegel vorhielt, als der Kinematograph die Laterna Magica ablöste. Der Stummfilm kommentierte seine Bilder mit einmontierten Texten.
„Text und Bild wurden zu Komplizen“, pointiert Ortner, der gelernte Kunstgeschichtler auch seine künstlerische Arbeit. Wahlweise mit der Schreibmaschine oder seiner antiquiert anmutenden Handschrift bringt er Texte zu Papier, Wort- und Satzfragmente in Wiederholung oder in durch wiederholtes Überschreiben unentschlüsselbar gewordener Codierung. 1974 in Lienz geboren, wird er sich der Zeit bestimmt erinnern, als eine schöne Schrift noch jeden Illiteraten adelte und die „Klaue“ das Attribut des Doktors war. Von Kalligrafie will er daher nichts wissen: „Ich verwende einfach nur die kontrollierte Variante meiner Handschrift.“
Ortners Texte wollen nicht gelesen werden, zumindest nicht in ihrem Wortsinn, sondern, wie die in Spiegelschrift vorgetragene „Romanze zur Nacht“ von Georg Trakl, ein Geheimnis suggerieren. Und wenn der Autor mit den Augen Albrecht Dürers uns aus einem flachen, anonymisierten Kopf anstarrt, dann schafft die Lust, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, neues Wissen. Doch Vorsicht: Wissbegier, im „Sündenfall“ desselben Künstlers bildhaft dargestellt, hat auch den „Großen Rauswurf“ der Menschheit aus dem Paradies verschuldet.
Helmut P. Ortner im Dolomitenstadt-Artshop und die Website des Künstlers.
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