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Ich denke, also bin ich. Mein Nachbar zweifelt daran.

Ein Ritt durch die Geschichte des Denkens. Er endet beim Wirt. Hoffentlich!

Das Sein war eines der höchsten Prinzipien der antiken und der mittelalterlichen Philosophie. Dass etwas ist, zu sein, war allem, was es wahrzunehmen und zu erkennen gab, gemeinsam: Menschen, Tieren, Sachverhalten, der belebten und der unbelebten Materie. Genauso wie dem lieben Gott. Und dem Virus, hätte man es schon damals gekannt. Mein Nachbar ist. Die Rose in seinem Garten ist. Die Katze ist auch. Gott und das Coronavirus sind. Das klingt nach heutigem Verständnis ziemlich unvollständig. Wer, bitteschön, ist mein Nachbar? Was ist mit seiner Katze? Wer, wie oder was ist Gott? Und wer bin dann ich? Das Subjekt verlangt nach einem Objekt. Dazu muss ich zwischen meinem Nachbarn und mir einen Zaun errichten. Das Ich als Subjekt ist eine Erfindung der Renaissance. Wer über Sein als Gegebenheit und als Dasein nachdachte, war damals schon Existenzialist. Wer über sein nur als Possessivpronomen nachdachte ein Egoist. Ich bin, so lautet die Hypothese, die man voraussetzen muss, um das zu begreifen, was um einen vorgeht. Ich denke, also bin ich. Mein Nachbar aber zweifelt daran, dass ich denke. Das kann ich auch, jedoch bezweifeln, dass ich zweifle, kann ich nicht. Das ist ein Ding der logischen Unmöglichkeit. Die Katze auf dem Gartenzaun ist grün. Die Rose hinter dem Gartenzaun ist zehn Meter hoch. Das Coronavirus kommt von Gott. Mein Nachbar wohnt in Großbritannien. Der andere in China. Glaub nicht, dass so etwas nicht gesagt wird. Und sag nicht, dass es nicht auch geglaubt wird. Logisch ist das alles möglich, empirisch wahrscheinlich nicht.
Foto: Wrexham Road London / Zita Oberwalder 2018
Das hat aber mit Erfahrung wenig zu tun, sondern mit Gewohnheit und Übereinkunft. Übereinkünfte sind meistens willkürlich, manche mehr, manche weniger. Schon der Name der Rose hat nichts mit der Rose zu tun. Das Bild einer Rose, so meinen wir, schon. Deswegen können es Briten, Chinesen und ich selber verstehen, auch ohne die Sprache des anderen zu beherrschen. Chinesen und Briten sind nicht unsere Nachbarn, Italiener hingegen schon. Die in Mailand oder Palermo. Die in Winnebach sind unsere Brüder. Auch das ist eine Übereinkunft. Zwischen Karl Gruber und Alcide De Gasperi. Doch braucht es hier klare Grenzen, damit wir selbst nicht vergessen, wer wir sind. Wenn mein Bruder mein Nachbar ist, dann wird es schwierig mit der Autonomie. Das hat mit der Abstammung zu tun. Wir wissen nicht erst seit Corona, dass Viren sich in unser Erbgut einschleichen und unsere Verwandtschaft umprogrammieren. Ein Virus, das sich mit Smartphones, Fensterscheiben oder Türgriffen paart, wird der Vater meiner Enkelkinder nicht sein. Es braucht einen menschlichen Wirt, und ich langsam auch! Gottseidank sperrt jetzt die Gastronomie wieder auf. So ein Ritt durch die Geschichte des Denkens macht durstig. Von der Seins- über die Bewusstseinsphilosophie zum Linguistic turn, der „alle menschliche Erkenntnis durch Sprache strukturiert.“ Jenseits der Sprache erkennt er keine Wirklichkeit an. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Das tut ein Philosoph, um das zu bleiben, was er ist. Die Gattung der Sprachphilosophen scheint im Aussterben begriffen. Die Untoten stammeln noch in Leichter Sprache und hoffen auf den Iconic Turn, das trügerische Paradies der Bilder. Sich darin zurechtzufinden will aber gelernt sein, denn nicht ein jeder, der ein Verbotsschild entziffern kann, ist auch in der Lage, Picasso zu verstehen. Das wäre nämlich Kunst, und die ist alles andere als eine leichte Sprache.
Rudi Ingruber ist Kunsthistoriker, Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt und freier Autor – auch für dolomitenstadt.at. Sein Corona-Tagebuch erscheint während der Zeit der „Corona-Krise“ in unregelmäßigen Abständen.
Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

7 Postings

amRande
vor 5 Jahren

Rudi in eine Philosophievorlesung zu verbannen, wäre - obwohl er das souverän schaffen würde - der falsche Weg. Lieber sollten die Osttiroler das Philosophieren lernen.

 
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Claudia Moser
vor 5 Jahren

Lieber Rudi, Zweiteres kann ich nicht beurteilen, Ersteres halte ich für eine gravierende Fehleinschätzung.

 
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Schachtelhalm
vor 5 Jahren

"Rudi Ratlos - heißt der Geiger, und er streicht euch ein Evergreen ---Udo läßt grüßen..."

 
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Gertrude
vor 5 Jahren

Dieser Artikel wäre besser in einer Philosophievorlesung aufgehoben.

 
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    Rrose Selavdottir
    vor 5 Jahren

    Wann, wenn nicht jetzt philosophieren? Im Übrigen, lieber Rudi, wenn die Lokale wieder öffnen und man sich nahe genug kommen kann, um zu philosophieren, müssen wir über das Zweifeln am Zweifeln diskutieren und generell über Descartes, denn ich meine, dass er mit cogito ergo sum ausdrücken wollte, dass er sich bemüht zu denken, weil er nur dann existiert, was wiederum bedeutet, dass wir ohne das denken nicht existieren und uns somit das Sein lediglich erdenken und damit wiederum beweisen, dass wir gar nicht sind.

     
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Claudia Moser
vor 5 Jahren

Lieber Rudi, ich mag' deine Kolumnen, am Ende habe ich immer das Gefühl, ich verstehe nichts :-)). Vielleicht weil ich mich eher an Renate Bertlmann halte, (die wir beide kennen): amo ergo sum. Möge die Liebe siegen :-)!

 
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    r.ingruber
    vor 5 Jahren

    "Sie denken zu viel", hat die Bertlmann einmal zu mir gesagt. Damit wollte sie sagen, dass ich zur Kunst nichts tauge. Und nicht zur Liebe.

     
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