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Warum sind im Netz plötzlich alle so empathisch?

Das frage ich meinen Sohn. Er hat von manchen Dingen mehr Ahnung als ich.

Mein Arbeitskreis besteht derzeit aus zwei Personen, aus meinem Sohn Raphael und mir. Unser Radius beträgt mindestens einen halben Meter und unsere Gespräche dauern nicht länger als zehn Minuten. Damit hätten wir alle Bestimmungen erfüllt. Gespräche sind wichtig in diesen Tagen. Und lehrreich. Mein Sohn hat von manchen Dingen mehr Ahnung als ich. Zum Beispiel vom Internet. Heute befrage ich ihn zur Ethik in sozialen Netzen, besonders in Corona-Zeiten. Das ist seine Antwort: Mittels gängiger Handy Apps wie WhatsApp, Instagram & Co hat heute ein jeder die Möglichkeit, sämtlichen seiner sozialen Kontakte Nachrichten zukommen zu lassen. Mittels der „Status-Funktion“ von WhatsApp oder einer Instagram-/Snapchatstory geht das sogar ohne seine Mitmenschen direkt belästigen zu müssen. Es ist, als würde man ein Plakat in der Stadt aufhängen. Genutzt wird dieses Feature auf die unterschiedlichsten Weisen. Der eine dokumentiert seinen Tagesablauf, die andere schickt Dankesworte an die arbeitenden Menschen in Österreich.
Wünschen wir allen Erkrankten gute Besserung, weil wir Angst haben, selbst zu erkranken? Foto: Ruben Bagues/Unsplash
Bei meiner täglichen Durchsicht dieser Nachrichten fällt mir etwas auf: Leute, die sich vor einigen Wochen noch lautstark darüber beschwerten, dass dem Coronavirus so viel medialer Raum und den „tatsächlichen Problemen“ keiner mehr gewährt wird, geben sich heute bestürzt über die Ausmaße der Krise in Italien und wünschen allen Erkrankten gute Besserung. Verwundert über diesen plötzlichen Empathieausbruch frage ich mich, ob die Gesundheit eines Chinesen weniger Wert ist als die eines Italieners? - Wohl kaum. Es muss wohl die Nähe zu den am schwersten betroffenen Regionen sein – der Corona-Lokalwechsel von Fernost nach Europa. Alle Wege führen nach Rom. Muss wohl sein, weil man plötzlich selbst vom Beobachter zum Betroffenen werden kann, da würde man sich auch Empathie wünschen. So, wie es die goldene Regel vorschreibt: Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst. Solange es für einen selbst nicht möglich oder sehr unwahrscheinlich ist, Betroffener zu werden, gibt es für viele keinen Grund empathisch zu sein. - Man hat ja selbst nichts davon.
Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

6 Postings

todo
vor 5 Jahren

Ja wie wahr, da haben wir ihn wieder, den kategorischen Imperativ Kants! In Camus “Die Pest“ wurde auch der Saulus zum Paulus in Form des Journalisten Rambert, auch er hätte sich zuerst beschwert, wenn ein Südtiroler auf UNSER Intensivbett gekommen wäre. Er hätte sich im Laufe der Geschichte aber gefreut, wenn es dem Südtiroler dann besser gegangen wäre. Das hat damals schon funktioniert, auch ohne Social Media und damals wie heute funktioniert es halt leider nicht bei jedem. Ich halte gerade die Ausgabe des Spiegel vom 1.2.2020 in der Hand und der Titel lautet:“ MADE IN CHINA - wenn die Globalisierung zur tödlichen Gefahr wird“ Damals war es noch da drüben, bei den anderen! Damals dachte auch ich noch ganz anders. Jetzt ist es da und plötzlich kennt jeder jemanden, der... naja, der es eben hat und es ist uns extrem wichtig, zu definieren, ob jemand an, oder mit, oder bei Corona verstorben ist. Jetzt haben ja viele Menschen Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Wenn es dann weg ist, dann ist es wahrscheinlich in Afrika… Dann haben wir keine Zeit mehr, denn dann müssen wir wieder Routen schließen. Freue mich dann schon auf die Titelseite des Spiegel, die da vielleicht lautet:“ GONE TO AFRICA – wenn Empathie zur Heuchelei wird“

 
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    r.ingruber
    vor 5 Jahren

    Liebe(r) todo, jetzt wüsste ich aber schon gerne, wer hinter Ihrem Nickname steht. Habe meine todo-Liste dreimal durchsucht, aber nichts annähernd so Intelligentes wie Sie darin gefunden - wenigstens nicht in Bezug auf meine Arbeit. Übrigens, der Text ist nicht von mir, sondern von meinem Sohn Raphael Pichler. Der nächste auch!

     
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      todo
      vor 5 Jahren

      Dass es mit der Intelligenz nicht so weit her ist, beweist mein gegenwärtiges Dilemma:" Drücke ich bei Ihrem Posting nun stimme zu, oder stimme nicht zu?"

       
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      r.ingruber
      vor 5 Jahren

      @todo "Drücke ich bei Ihrem Posting nun stimme zu, oder stimme nicht zu?" Drücken Sie einfach beides. Aber nicht zu fest, wegen vu...

       
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nikolaus
vor 5 Jahren

Die Empathie im Netz nimmt tatsächlich merklich zu, und auch in den Medien wird viel von Mitmenschlichkeit berichtet. Was mir allerdings auch auffällt: Nie gab es in den letzten Jahrzehnten so viele DenunziantInnen wie zur Zeit, seien es jetzt persönliche Anzeigen, wie man aus Medien oder aber auch von Insidern aus Polizeikreisen erfährt, oder anonymisierte in Postings ("Jemand hat da und dort die Gemeindegrenze überschritten!" "Jemand hat beim XY eingekauft, obwohl es dessen Dorf einen YZ gibt!" usw.).

Mein Erklärungsvesuch: Wenn es allen gleich dreckig geht oder dem Nachbar sogar dreckiger als mir, zeigen wir Mitgefühl. Wenn es mir dreckiger geht als meinem Nachbarn, hört sich der Spaß auf. Letztlich trifft die Goldene Regel auch hier zu, allerdings in einer sehr ich-bezogenen Interpretation: "So, wie ich behandelt werde, soll es auch anderen ergehen".

 
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hoerzuOT
vor 5 Jahren

Sehr gut formuliert!!

 
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