Von der Ostsee nach Kartitsch in knapp 13 Stunden
Auf Gleis 2 des Bahnhofs Greifswald erreichte mich die Botschaft: „Ausgangssperre in Tirol!“
Für ein halbes Jahr war die deutsche Hansestadt Greifswald an der Ostsee mein Zuhause. Dort arbeitete ich bei einem Magazin für Sozialwissenschaft und Kartografik. Noch weitere zwei Wochen hätte ich dort verbracht – wäre die Corona-Pandemie nicht dazwischengekommen. In Absprache mit meinem Arbeitgeber habe ich aber am Sonntagvormittag meine Heimreise vorzeitig angetreten, nachdem das österreichische Außenministerium die Rückkehr nach Österreich empfohlen hat.
So stand ich um 11:12 Uhr am Gleis 2 des Greifswalder Bahnhofs, als mich drei Leute nahezu zeitgleich zu erreichen versuchten. Botschaft: Ausgangssperre in Tirol. Die Unsicherheit muss mir ins Gesicht geschrieben gewesen sein. Komme ich noch über die Landes- oder gar Staatsgrenze? Schaffe ich es mit einem Anschlusszug nach Salzburg oder muss ich in München, der Endstation meines ICE, eine Übernachtungsmöglichkeit organisieren? Was ist, wenn ich längere Zeit vor den deutschen Grenzen warten muss? Tausend Fragen und keine klare Antwort.
Dennoch stieg ich ein und streamte über die diesmal einigermaßen gut funktionierende Internetverbindung den Ö3-Livestream, um neue Entwicklungen nicht zu verpassen. Parallel besprach ich mich mit meiner Familie, die zum Zeitpunkt der Verlautbarung der Ausgangssperre bereits auf dem Weg nach München war, um mich dort abzuholen.
In der Zwischenzeit erwiesen sich meine Tischnachbarinnen im Zugabteil als Glücksgriff: Zwei vom Heilfasten auf der Insel Rügen zurückkehrende Damen aus der Nähe von Nürnberg mit guter Laune und dem nötigen Sinn für Humor – trotz einer Woche fasten! Durch sie wurde die gesamte Fahrt zu einem einzigen spannenden und lustigen Gespräch.
Während ich nicht viel mehr tun konnte als im Zug gen Süden zu reisen, entschloss sich meine Familie, in Salzburg auf mich zu warten. Zumindest bis dorthin sollte ich doch allemal kommen. Als Gepäckhilfe beim Umstieg in München bot sich meine Großcousine an, schließlich hatte ich nicht weniger als zwei Koffer, eine Sport-, Hand- und zwei Tragetaschen dabei. Erkenntnis dieses „Umzugs“: In einem halben Jahr sammelt sich mehr Eigentum an, als man denkt.
Als inzwischen die Nachricht eintraf, Deutschland wolle alle Grenzen per Montag 8.00 Uhr schließen, fiel mir ein Stein vom Herzen „so groß wie die Kinigat“, in diesem Zug zu sitzen. Meine Mitfahrerin deklarierte mich kurzerhand als Glückskind. Sie nahm mir mit ihrer fröhlichen und durchwegs positiven, etwas zynischen aber ehrlichen Art die Befürchtungen, dass beim Grenzübertritt etwas schieflaufen könnte. Wir teilten Schokolade und Äpfel und machten uns über den amerikanischen Präsidenten lustig.
Am Münchner Hauptbahnhof empfing mich meine Großcousine herzlich mit der größten inneren Ruhe, die man nur irgendwie aufbringen konnte. Sie versorgte mich mit einer bayrischen Brotzeit to go und frischem Apfelsaft vom Großonkel. Mit dem Wunsch, sich bald wiederzusehen verabschiedeten wir uns nach nur wenigen Minuten, Abfahrt nach Salzburg 19:17 Uhr.
Und auch in diesem Zug wieder ein netter Sitznachbar. Zu seinem in dem Moment geöffneten Feierabendbier wünschte ich ihm Gesundheit, woraufhin er mir selbiges kurzerhand anbot (ich möchte betonen, dass er davon noch nicht getrunken hatte). Bisher kam ich noch nie in den Genuss von Doppelbockbier – warum also nicht? So saß ich im Zug, lauschte dem bayrischen Dialekt des Schaffners und genoss die Brotzeit mit Bier. Die Mentalitäten in Deutschland unterscheiden sich sehr – gerade zwischen Pommern und Bayern tun sich Welten auf. Auch in unserem Zugwagen: Die ersten zwei Menschen mit Mundschutz auf meiner Reise.
Pünktlich um 21:03 erreichte ich Salzburg, wo mich Vater und Schwester erwarteten. Wir beluden das Auto mit meinem Gepäck und machten uns ohne Umschweife auf den Weg nach Osttirol. Um kurz nach Mitternacht erreichten wir Kartitsch. Auch interessant und für uns überraschend: Auf dem gesamten Weg begegneten wir keinen Exekutivbeamten, es gab auch keine Kontrollen oder Nachfragen an der Grenze.
Dass „Corona“ auch schon zuhause seinen Einfluss nimmt, wurde mir spätestens vor der Haustüre klar. Meine Mutter erwartete uns mit Desinfektionsmittel und benetzte sämtliche Gepäckstücke, unsere Schuhe und Mobiltelefone damit. Eine Vorsichtsmaßnahme, um unseren Großvater möglichst vor etwaigen Keimen zu schützen.
Obwohl wir uns seit Weihnachten nicht gesehen hatten, begrüßte ich meine Familie erst mit Umarmungen nach einem ausgiebigen Bad - Sicherheit geht dieser Tage nun mal vor. Wir unterhielten uns noch einige Zeit über dieses alles vereinnahmende Thema. Ich erzählte vom Unterschied, wie verschieden hier in Tirol und dort in Mecklenburg-Vorpommern mit dem Thema Corona-Virus sowie den damit einhergehenden Maßnahmen umgegangen und kommuniziert wird (natürlich muss man an dieser Stelle bemerken, dass Tirol vom Robert-Koch-Institut als Risikogebiet eingestuft wurde, der Norden Deutschlands zurzeit nicht).
In Greifswald herrscht im Gegensatz zu Osttirol eine erstaunliche gesellschaftliche Ruhe. Das könnte daran liegen, dass man die bisher bestätigte Zahl an Corona-Patienten im Landkreis Vorpommern-Greifswald an einer Hand abzählen kann. Oder aber, weil behördlich angeordnete Maßnahmen erst später in Kraft treten als in Österreich. Ob man die Risiken gerade im Nordosten der Bundesrepublik unterschätzt oder dem Geschehen einfach eher gelassen entgegensieht, kann ich zu diesem Zeitpunkt nur mutmaßen.
Nach ausgiebigem Ausruhen und einem Tag zuhause fühle ich mich erleichtert, rechtzeitig in Greifswald abgereist zu sein und diese spannende, aber durchaus auch fordernde Zeit bei meiner Familie verbringen zu können. Außerdem kann ich nun auch eine Frage beantworten, die mir im letzten halben Jahr des Öfteren gestellt wurde: Eine nahtlose Reise von der Ostsee nach Kartitsch ist in weniger als 13 Stunden bewältigbar.
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