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Die Zitadelle von Erbil ist 4.000 Jahre alt. Bewohnt wurde die Region um Erbil sogar schon einige Jahrtausende früher. Foto: Daniela Ingruber

Die Zitadelle von Erbil ist 4.000 Jahre alt. Bewohnt wurde die Region um Erbil sogar schon einige Jahrtausende früher. Foto: Daniela Ingruber

Irak 2020: Die Zivilbevölkerung wacht auf

Vom Westen im Stich gelassen, ist man hier gewohnt, immer wieder von vorne zu beginnen.

Manchmal ist es heilsam, einen Blick in eine ungewohnte Region zu werfen; dorthin, wo Demokratie noch nicht selbstverständlich ist, in den Irak zum Beispiel. Wenn der Irak in den deutschsprachigen Medien vorkommt, dann unter konkreten Vorzeichen: Die Berichte handeln von Krieg, Gewalt, Terrorismus, gebrochenen Verträgen und Sanktionen. Seit vier Monaten hört man hin und wieder von den Protesten gegen die Regierung, die insbesondere von jungen IrakerInnen organisiert werden. Doch auch da liegt die mediale Konzentration auf den von der Regierung getöteten Personen, nicht auf den positiven Ideen der StudentInnen. Ein klares Bild von der Situation im Irak lässt sich daraus kaum gewinnen. Die Folge sind Vorstellungen, die eher Klischees entsprechen und die schon bei Karl May vorgekommen sind: das „wilde Kurdistan“. Dabei gehören die Siedlungen und damit die dörflichen und städtischen Gemeinschaften im Irak zu den ältesten der Menschheit. Die Zitadelle von Erbil ist 4.000 Jahre alt, bewohnt wurde die Region um Erbil sogar schon einige Jahrtausende früher. Immer wieder ließen Herrscher Hand an den Bau der Zitadelle anlegen. Auch Saddam Hussein ließ das Eingangstor im kurdischen Stil gegen eines nach mesopotamischem Vorbild austauschen. Nach seinem Tod schliff die kurdische Regionalregierung dieses und tauschte es gegen eine moderne Variante der kurdischen Architektur aus, während auf der Seite noch einige Mauern von Saddam Husseins Werk stehen geblieben sind.

Immer wieder müssen Städte und das zivile Leben neu aufgebaut werden

Was sich anhört wie ein touristischer Bericht, zeigt viel mehr als das Baugeschick einer zerrissenen Nation. Im Irak ist man es gewöhnt, immer wieder von vorne zu beginnen, immer wieder beherrscht sowie ausgebeutet zu werden und Teile der Familie zu verlieren und trotzdem wieder aufzustehen, weiterzumachen. In den letzten Monaten wird die Situation im Irak als besonders gefährlich eingestuft. Österreich hat seinen Botschafter abgezogen und eine Reisewarnung ausgegeben, die impliziert, dass man keinerlei Hilfe zu erwarten hat, falls man als ÖsterreicherIn in eine heikle Situation im Irak gerät. Logisch, dass das dem Tourismus nicht gut tut. Die westlichen Flugzeuge sind halb leer, ebenso die in den letzten Jahren gebauten Hotels. Die zahlreichen internationalen Organisationen, ebenso wie UNO und EU sind zwar im Land vertreten, doch vorwiegend im sogenannten grünen Gürtel von Bagdad anzutreffen, verschanzt hinter mehreren Zäunen, rund um die Uhr bewacht von Sicherheitspersonal. Nicht umsonst werden die Raketen, die seit Wochen Bagdad treffen, in jenes Gebiet dirigiert. Dort verletzt man den Irak und seine Verbündeten am sichtbarsten. Gewalt in anderen Regionen des Landes wird im Westen kaum wahrgenommen.

Vom Westen im Stich gelassen

Spricht man mit der Bevölkerung, hört man viel Enttäuschung durch. Man fühlt sich vom Westen nach all den leeren Versprechungen, was man alles nach dem Ende des Regimes von Saddam Hussein tun werde, im Stich gelassen. Außer Forderungen an die irakische Regierung und die Bevölkerung ist kaum etwas geblieben. Das können auch Hilfsorganisationen nicht ausgleichen. Gleichzeitig befinden sich noch immer ausländische, insbesondere US-Truppen im Land. Der Versuch, sie loszuwerden, ist auch nach der Ermordung des umstrittenen iranischen Generals Qassim Suleimani im Irak nicht gelungen. Das schwächt die Regierung zusätzlich. Und doch ist das Land nicht ohne Hoffnung. Etwas bewegt sich. Es mag so banal klingen wie, dass sich Menschen ein bequemeres Leben wünschen. Banal ist das allerdings nur, wenn man selbst so viel hat, dass man sich nicht vorstellen kann, was es bedeutet, mit den tiefen Verletzungen der letzten Kriege zu leben, im Norden des Landes ein Lager mit mehreren Tausend IS-Kämpfern und deren Familien zu haben, zudem einen Nachbar Iran, der ungestraft Raketen in die Hauptstadt schickt, und dann eine Spaltung durch die Gesellschaft geht, die von Regierung, Militär und Medien geschürt wird. Es ist eine politische ebenso wie eine soziale Krise, die bisher vor allem eines zeigt: So wie es ist, wird es nicht bleiben.

Mit der Müdigkeit kam der Mut, etwas zu verändern

Begonnen hat es mit einer gewissen Müdigkeit. Die Geduld mit dem Westen ist schon vor langer Zeit gerissen. Dass es da niemanden gibt, auf den man sich verlassen kann, ist unschwer zu erkennen. Doch auch von manchem arabischen Staat lässt sich nicht viel erwarten. Punktuelle Projekte können nicht darüber hinwegschauen, solange das von George Bush im Jahr 2001 ausgerufene Stigma eines vermeintlichen Schurkenstaates nachwirkt. Und genau bei diesem Image setzt die Müdigkeit an. Die irakische Bevölkerung will nicht mehr darauf warten, bis es einer Regierung gelingt, den schlechten Ruf zu verändern und damit den Irak wieder zu einem verlässlichen Partner zu machen. Sie will aber auch nicht mehr warten, bis eine Regierung internen Frieden bringt. Zu viele Verträge wurden bereits unterzeichnet, die nicht das Geld für ihr Papier wert waren. Vielfach weiß die Bevölkerung nicht einmal, was in den unterschiedlichen internationalen Verträgen steht. Daher nehmen die Menschen ihr Schicksal vermehrt selbst in die Hand. Es ist noch zu wenig, um von einer großen Bewegung zu sprechen. Doch der Wille und der Mut, sich für eine Veränderung einzusetzen, wird deutlich spürbar. Diesbezüglich sind insbesondere die Jugendproteste Hoffnungsträger für einen Irak, in dem ein gewaltfreies Miteinander möglich ist. Ausgang: derzeit offen.
Daniela Ingruber lehrt derzeit im Zuge eines von der EU finanzierten friedenspolitischen Projektes der Universität Innsbruck und der Iraqi Al-Amal Association in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak.
Daniela Ingruber stammt aus Lienz und arbeitet als Demokratie- und Kriegsforscherin am Institut für Strategieanalysen in Wien. 

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