Michael Hedwig begegnete ich zum ersten Mal 1983 an der Akademie der bildenden Künste am Wiener Schillerplatz. Nein, nicht persönlich, aber im Vorzimmer zur Meisterschule von Anton Lehmden hing ein Gemälde, das drei Personen in Rückenansicht über einen Tisch gebeugt zeigte - offenbar einen Studenten der Malerei, der den beiden Lehrbeauftragten seine Werke zur Begutachtung vorgelegt hatte. Der Meister selber war abwesend, jedoch in dem Konterfei an der Wand allgegenwärtig. Die Szene war in einer sehr einfachen Maltechnik vorgetragen und verkündete in ihrer eindringlichen Naivität, was einen, würde er seinen Weg ins Innere des Lehrbetriebs fortsetzten, erwartete.
Die Meisterschule war zweigeteilt:
Auf der einen Seite gab es die Privilegierten, die dort, Wand an Wand oder, genauer, Vorhang an Vorhang und jeder für sich, ihre aufwändigen Malereien und ihre noch aufwändigeren Kostümierungen kultivierten. Selten nur waren ihre Auftritte im großen Zeichensaal, wo sich die niedrigeren Chargen an lebenden Modellen abmühten. Sporadisch konnte man dort auch dem Professor begegnen, der die Anwesenden mit ein paar Kryptogrammen bewarf, bevor er so unvermittelt, wie er erschienen war, wieder entschwand.
Einmal aber, als er bemerkte, dass einer der Erstsemestrigen ein Brett, das schon seit längerer Zeit in einer Ecke gelehnt hatte, als Unterlage für seine Zeichnungen benutzte, wurde er sehr konkret: „Was machen sie da?“ rief er fassungslos. „Das war einmal ein sehr begabter Bursch!“ Sein Assistent zeigte mehr Verständnis, als er den verdutzten Studenten darüber aufklärte, dass das Farbenkonglomerat auf der Rückseite seines Zeichenbretts mit einigem guten Willen als Gemälde Michael Hedwigs zu lesen sei, jenes Absolventen, der auch das Bild im Vorzimmer gemalt und sich jetzt allerdings physisch und geistig von der Meisterschule und ihrer offiziellen Linie weit entfernt habe. Ahnte er, dass der „begabte Bursch“ ihn in seiner Position schon bald ablösen sollte?
1985 bekam Hedwig den Auftrag, sich um die Häretiker unter den Schülern zu kümmern. Bis 1997 war er Lehmdens Assistent. Offenbar war jetzt die Kluft zwischen den abstrakten Expressionisten, die einst unverwandt nach Amerika starrten, und den endzeitgestimmten Phantasten, deren Vorbild in Gestalt des "Weltgerichtsriptychons" von Hieronymus Bosch in der Gemäldegalerie am Schillerplatz hing und denen auch Anton Lehmden zugerechnet wurde, nicht mehr so unüberbrückbar wie in den Siebzigerjahren.
Eine Neuerwerbung des Museums Moderner Kunst, Francis Bacons „Man in Blue IV“, zog jetzt das Interesse der jungen Künstlergeneration auf sich, und die „Neuen Wilden“ etablierten sich international als echte Alternative zu den verhärteten Fronten in Wien.
Daran war nicht zum Geringsten Maximilian Melcher, der Meisterschulleiter für Grafik, beteiligt, der, vor die Wahl gestellt, entweder ein berühmter Künstler oder ein guter Pädagoge zu werden, sich nach eigenem Zeugnis für letzteres entschied. Ihm war das Fortkommen seiner Studenten, zu denen auch Hubert Schmalix und Siegfried Anzinger zählten, allemal wichtiger als die Ideologie. Hedwig sollte ihn als für Tiefdruck zuständiger Assistenzprofessor an der Akademie teilweise beerben.
1986 erhielt Michael Hedwig den Hauptpreis beim Österreichischen Graphikwettbewerb, mit einem Blatt, das eine zart vor zwei tiefrote Hügel gehauchte Reitergruppe inszenierte. Zwei Jahre später reüssierte er mit ineinander verschlungenen Menschenleibern, für deren virtuosen und kraftvollen Duktus Anton Lehmden, der „Naturziselierer“, wie Thomas Bernhard ihn einmal nannte, kein Vorbild mehr abgeben konnte. Hedwig aber hatte mit diesen „Freikörpern“ oder „kommunizierenden Körpern“ das Vokabular für seine künftige Bildproduktion fast schon beisammen.
Es eignet sich in seiner Statuarik kaum für die breite Erzählung, mehr – will man einen allerdings unvermeidlich hinkenden Vergleich zur Musik ziehen – für das Oratorium als für die Oper. Und für die Bebilderung von Gedanken und Emotionen, die manchmal auch wie die Beschreibung Hedwig’scher Kompositionen anmuten: „Das Licht senkt sich, wird dunkler um einen Ton. Das Hellblau des Himmels färbt sich ins Purpurne. Mein Denken sinkt, mein Fühlen, meine Hände sind schwer, mein Kopf senkt sich, meine Schultern“. Karin Peschka, die diesen Text 2008 für das Buchobjekt „Sterntaler“ mit Radierungen und Lithographien von Michael Hedwig verfasste, war Publikumspreisträgerin beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb 2017. Im selben Jahr entstand auch Hedwigs Bilderzyklus zu Peschkas „Wilde Jagd“.
Bevor ich Michael Hedwig persönlich kennenlernte, hatte ich zahlreiche seiner Ausstellungen besucht und einige davon auch rezensiert. Ich glaubte nicht, dass er mich noch überraschen könnte. Doch motivierten die literarischen Vorgaben und der „Crossover“, den er auch mit der Musik pflegt, den Zeichner zur Erweiterung seines Repertoires: zu zarten, skizzierenden Andeutungen des Numinosen, zu fast aggressiven Einschreibungen des Bedrohlichen und zum bewussten Verzicht auf Virtuosität und Routine, wenn es gilt, konventionelle Symbole und Gewohnheiten – auch die eigenen – in Frage zu stellen.
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