Vor mir liegt ein Kunstbuch, das zu den schönsten zählt, die ich kenne. Es ist eine Monographie von Othmar Eder, wunderbar sorgfältig gemacht und gestaltet. Das Buch passt zu Othmar Eder, der mir das Werk vorbeigebracht hat und es ist spannend, so wie die visuelle Erzählkunst des seit 1982 in der Schweiz lebenden Künstlers mit Osttiroler Wurzeln, dessen Arbeiten für mich fast durchwegs wie rätselhafte Andeutungen sind, die im Kopf des Betrachters Fragen erzeugen und zugleich große Lust, das Rätsel zu lösen.
Der Titel der Monographie ist BILD ER FINDER, ein Wortspiel aus Bild-Erfinder und Bilder-Finder. Othmar Eder ist beides, er findet und erfindet Bilder, die er mit Akribie und manchmal mit ironischem Augenzwinkern auf Papier bringt, oft in einer Technik, die er ebenfalls erfunden hat. Kohlepapier spielt dabei eine wichtige Rolle, oder „Pauspapier“, wie wir es früher nannten. Der Künstler nützt dieses seltsam antiquierte hauchdünne Hilfsmittel, um Spuren zu sichern. Es ist eine Spurensicherung im durchaus forensischen oder archäologischen Sinn, ein Bewahren vor dem Verschwinden und zugleich ein Auf- und Entdecken von Geschichten hinter den Dingen, von scheinbaren Zusammenhängen und völlig neuen Perspektiven.
Zu all diesen Methoden und künstlerischen Akten gibt es auch einen Ort, das Eldorado des Spurensuchers Othmar Eder: Lissabon. Diese Stadt durchstreift er mit besonderer Vorliebe, hier muss er nicht suchen, hier laufen ihm die Dinge und ihre Geschichten förmlich zu. „Es sind Dinge, die viele gar nicht sehen“, erzählt mir der Künstler im Gespräch. Nicht immer sind diese Fundstücke greifbare Gegenstände, es können auch Szenen sein, Eindrücke und Bilder. Deshalb hat Eder seine Kamera immer dabei und sammelt. Auf einem kleinen Platz im historischen Viertel von Lissabon verputzt ein Maurer eine Hausfassade. Aus seinem Radio tönt afrikanische Musik, zu der der Mann sich tanzend bewegt. Othmar Eder hält den tanzenden Maurer in einem Kurzvideo fest. Später wird es Teil einer Ausstellung sein, eingefügt in eine Serie von subtil in Beziehung gesetzten Wahrnehmungsfragmenten.
Die Serie ist auch ein Kontinuum in Eders Schaffen. Im Gespräch betont er das Wort wie ein Schweizer: Seri, ohne e. Auch in den seriellen Arbeiten bewegt sich der Künstler auf den geheimnisvollen Spuren seiner Fundstücke. Auf einer belebten Straße in Lissabon hat jemand Dutzende Farbkopien an die Hauswände geklebt, zu welchem politischen oder privaten Zweck auch immer. Manche sind bereits zerknittert und angerissen, andere noch ganz. Eder fotografiert sie, nimmt einige ab und entwickelt daraus eine Serie von Zeichnungen, Fotokopien und Originalen. In der Verfremdung und Neuordnung transformieren sich die Fundstücke zur Kunst, offenbaren einen Teil ihrer Geschichte und bleiben doch ein spannendes Rätsel, dessen Lösung der Betrachter nur für sich selbst entdecken kann. Alles ist narrativ, kaum etwas ist eindeutig. Die Interpretation liegt im Auge des Betrachters und es ist Eders Intention, dass dieser Betrachter zum Entdecker wird, auch wenn er etwas anderes sieht, als der Künstler selbst.
Ein wenig erinnert mich Eders Faible für Lissabon an den portugiesischen Nationaldichter Fernando Pessoa, der 20 Jahre lang mit poetischer Präzision die Dinge des Lissabonner Lebens beschrieb, in unterschiedlichen Identitäten und in Fragmenten, die er selbst nie zu einem Ganzen zusammenfügte. Othmar Eder sammelt ebenso Fragmente, lagert sie und holt sie nach Jahren wieder hervor, wie ein Kriminalist, der einen alten Fall neu aufrollt und in der Asservatenkammer nach einem fehlenden Puzzlestück sucht.
„Wie dokumentarisch ist deine Arbeit“, frage ich den Künstler, „verfremdest du das, was du findest, oder dokumentierst du es?” Die Antwort leuchtet mir ein: „Durch die Übertragung gibt es Verfremdung, zum Beispiel durch die Vergrößerung einer kleinen Postkarte, die ich auf einem Flohmarkt entdeckte, zu einem großen Gemälde.“ Diese Transformation erfolgt nicht linear. Eders Interesse gilt weniger dem Ganzen als dem Zerbrochenen, dem Riss, den Spuren von Gebrauch und Zeit, die er mit unterschiedlichen kreativen Mitteln überhöht und in den Mittelpunkt rückt. Er überträgt Motive mit dem erwähnten Kohlepapier, so fein gezeichnet, dass die Wirkung fotografisch ist, ohne fotorealistisch zu sein, es ist ein mehrschichtiger Realismus, unter dessen Oberfläche eine rätselhafte Welt verborgen scheint, in der Dinge auftauchen und verschwinden wie in einem Traum.
Wir plaudern lange, kommen vom Hundertsten ins Tausendste und als unser Gespräch endet, realisiere ich, dass Othmar Eder auch mir viele Fragen gestellt hat, dass er nicht nur Erzähler, sondern auch Zuhörer war. Eders Lust am Entdecken ist in der persönlichen Begegnung genauso spürbar wie in seiner Kunst. Dennoch hat seine Neugier nichts Bedrängendes, Entblößendes, ist niemals schonungsloses Aufdecken, sondern immer ein aufmerksamer Blick hinter die Dinge. Nicht die Tatsache ist Aussage seiner Kunst, sondern das Wesen der Dinge, das der Wahrheit oft näher kommt. Eders Bildgeschichten sind so gesehen wahre Erzählungen mit offenem Ausgang, die ohne Auflösung enden wie mancher französische Film, damit der Betrachter weiter wandern kann, hinein in eine neue, eigene Wirklichkeit.
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